Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → BEDROHTE VÖLKER

RUSSLAND/107: Russland entzieht Tatarstan Autonomierechte


Presseerklärung vom 23. März 2012

Nach Folterskandal in Tatarstan

Russland nutzt Tragödie, um der Republik weitere Autonomierechte zu entziehen


Als weitere Beschneidung der tatarischen Autonomie bezeichnet die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) die Entscheidung der russischen Regierung, die tatarische Polizei nun dem russischen Innenministerium zu unterstellen. "Der Folterskandal in Kasan ist entsetzlich. Aber die Moskauer Kontrolle über die Polizei in Tatarstan wird nicht dazu führen, dass weniger gefoltert wird. Folter wird auf russischen Polizeistationen und in Untersuchungshaftanstalten systematisch angewandt. Der Skandal in Kasan ist ein willkommener Anlass für die russische Regierung, der Republik an der Wolga weitere Rechte zu entziehen", kritisierte Sarah Reinke, GUS-Referentin der GfbV am Freitag in Berlin.

In den letzten Jahren hatte die russische Zentrale Tatarstan immer mehr Rechte entzogen, die seit den 1990er Jahren im Entscheidungsbereich Tatarstans lagen. Dazu gehörten die Auflösung der tatarischen Fakultät an der Kasaner Universität und der Rückgang von Tatarisch-Schulen für Muttersprachler von 712 auf 490 seit dem Jahr 2006. Immer mehr regionale Steuerleistungen müssen nach Moskau abgeführt werden.

Dass nun das Innenministerium Moskau unterstellt wird, ist ein weiterer schwerer Einschnitt. Als Anlass dafür wird der Fall eines Mannes genommen, der auf der Polizeistation "Dalny" mit einer Flasche vergewaltigt worden war, um ihm ein Geständnis abzupressen. Er starb einige Tage später an einem Dickdarmabriss. In der Folge wurden zahlreiche weitere ähnliche Fälle von Misshandlungen und Folter in diesem und anderen Polizeirevieren in Kasan bekannt.

Folter wird in Russland auf Polizeistationen und in der U-Haft systematisch angewandt, um Geständnisse zu erpressen. Erst vor drei Tagen, am 20.03.2012 hatte die Menschenrechtsorganisation Memorial auf einen Folterfall in Chimki (nahe Moskau) aufmerksam gemacht. Ein Student (Jahrgang 1988) wurde mindestens vier Stunden lang an eine Wand gehängt, geschlagen und getreten. Immer wieder fiel er in Ohnmacht. Auch ihm wurde Vergewaltigung angedroht. Die Bilder davon würde man im Gefängnis verteilen, sagten die Polizisten. Die sieben Folterer seien betrunken gewesen oder hätten unter Drogeneinfluss gestanden. Ein Täter habe die ganze Zeit wiederholt: "Wir werden dich schon lehren, die Russen zu lieben!". Der Student stammt ursprünglich aus der nordkaukasischen Republik Dagestan. Besonders viele Menschen aus dem Nordkaukasus sind von Haft und Folter betroffen.


*


Quelle:
Göttingen / Berlin, den 23. März 2012
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen
Tel.: 0551/49906-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2012