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RUSSLAND/124: Krise in der Ukraine - Präsident Putin instrumentalisiert russische Minderheit


Presseerklärung vom 3. März 2014

Krise in der Ukraine: Präsident Putin instrumentalisiert russische Minderheit

Verlogene Minderheiten-Politik Russlands scharf kritisiert



Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat Russlands Staatspräsident Wladimir Putin eine verlogene Minderheiten - Politik vorgeworfen. Die seit mehr als 40 Jahren für Minderheiten in Russland engagierte Menschenrechtsorganisation kritisierte, Putin instrumentalisiere Minderheiten nach Belieben, missachte jedoch systematisch ihre Rechte und Forderungen im eigenen Land. "Präsident Putin spielt die Minderheitenkarte - natürlich nur zum Schutz der russischen Minderheit - genau dann, wenn es ihm Vorteile bringt und er glaubt, damit die EU vorführen zu können", kritisiert Sarah Reinke, GUS-Referentin der Gesellschaft für bedrohte Völker in Berlin. So habe er sich immer wieder für die russisch-sprachigen Minderheiten in den baltischen Staaten verwendet, und der EU sowie dem Europarat vorgeworfen, mit zweierlei Maß zu messen. Wenn er sich mit der russischen Regierung nun als Schutzmacht der Russen auf der Krim präsentiert, ist das zutiefst verlogen. Denn in Russland selbst werden die vielen Minderheiten, Volksgruppen, religiösen Gemeinschaften und indigenen Völker zunehmend diskriminiert, verfolgt, unterdrückt oder auch, wie im Falle Tschetschenien, mit Krieg überzogen."

"Putin schaut mit der kolonialen Brille auf weite Gebiete der Russischen Föderation - sei es auf den im 19. Jahrhundert blutig eroberten Nordkaukasus oder auf Gebiete Sibiriens, in denen Öl- und Gasreserven sowie Bodenschätze lagern, die Russlands Wirtschaftskraft ausmachen", erklärte Reinke. Dort siedeln seit Jahrhunderten viele indigene Völker, die immer weiter verdrängt und diskriminiert werden. In Russland, wo Parlament, Justiz und Medien Putin folgen und die Opposition seit Jahren gegängelt wird, sind Angehörige von Minderheiten Opfer fremdenfeindlicher Übergriffe sowie von Polizei- und Justizwillkür.


Tschetschenienkrieg zeigt Instrumentalisierung von Minderheiten

Der Tschetschenienkrieg und seine Folgen sind das dramatischste Beispiel zum Verständnis von Präsident Putins Minderheitenpolitik. Der Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges markiert zugleich den Aufstieg Putins an die Spitze der russischen Regierung. Mit markigen Worten und dem brutalen Vorgehen gegen die Bevölkerung Tschetscheniens gewann Putin die Präsidentschaftswahlen im März 2000. Er ließ die russische Luftwaffe Städte, Dörfer, Schulen, Flüchtlingstrecks und Krankenhäuser bombardieren. Zehntausende Männer und Frauen wurden in so genannten Filtrationslagern vergewaltigt, gefoltert und getötet. Russische Soldaten verübten während so genannter "Säuberungen" tschetschenischer Dörfer entsetzliche Verbrechen an Zivilisten. 80.000 Opfer soll dieser zweite Krieg gefordert haben. Im Ersten Tschetschenien-Krieg (1992-94) kamen unter Präsident Boris Jelzin gleichfalls rund 80.000 Menschen ums Leben. Heute regiert der von Putin eingesetzte und protegierte Ramzan Kadyrow Tschetschenien als Diktator.

Krieg und Terrorismus haben sich von Tschetschenien auf die Nachbarrepubliken Dagestan, Kabardino-Balkarien, Inguschetien und Karatschai-Tscherkessien ausgeweitet. Durch Putins Politik entstand in der russischen Gesellschaft ein pauschales Feindbild von Kaukasiern. Sie werden in Moskau oder St. Petersburg systematisch von der Polizei kontrolliert, sind immer wieder Opfer von Übergriffen, haben große Schwierigkeiten, Wohnung und Arbeit zu finden.

Unter Präsident Putin ist die Presse- und Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt worden. Die russischen Medien werden bis heute genutzt, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren. Der Präsident setzt sie aktuell dazu ein, Propaganda gegen die neue Regierung in Kiew zu machen und sich als Retter der russisch-sprachigen Bevölkerung in der Ukraine zu profilieren.


Unterdrückung indigener Völker, Sterben von Sprachen der Minderheiten in der Russischen Föderation

Die Angehörigen der über 40 indigenen Völker (Völker mit weniger als 50.000 Angehörigen) Russlands sterben im Durchschnitt zehn Jahre früher als ethnische Russen, leben am Rand der Gesellschaft und sind Opfer von Diskriminierung und Rassismus. Ihr Dachverband, die Organisation RAIPON, wurde durch massive Wahlfälschung auf der letzten Vollversammlung 2013 auf die politische Linie des Kremls eingeschworen. Wer sich dennoch für die Rechte indigener Völker engagiert, riskiert vom Geheimdienst FSB verhört, mit Gerichtsprozessen überzogen und so mundtot gemacht zu werden.

131 der 170 Sprachen, die in der Russischen Föderation gesprochen werden, sind nach Angaben der UNESCO gefährdet. Erst im letzten Jahr hat die russische Regierung ein neues Bildungsgesetz erlassen, das den Primat der russischen Sprache nochmals festschreibt. In den Schulen ist der Unterricht in einer der Minderheitensprachen fakultativ, es fehlt an Ausbildungsmöglichkeiten, Lehrern, Schulbüchern und Medien von Minderheiten.


Gesetz über Landsleute

25 Millionen Russen sollen nach Angaben des russischen Außenministeriums derzeit im Ausland leben. Russland ist bemüht, sie zur Rückkehr zu bewegen und setzt parallel große finanzielle Mittel ein, um die russische Sprache und Kultur in jenen Staaten, die einen hohen Bevölkerungsanteil an Russen haben, zu fördern. Seit 2006 gibt es Programme zur Aufnahme von "Landsleuten". Diese gelten nicht für alle, die ihre Heimat in der heutigen Russischen Föderation sehen. Tscherkessen, die nach dem Ende des kaukasischen Krieges vor 150 Jahren kollektiv aus dem Kaukasus deportiert wurden und heute z.B. aus dem Bürgerkriegsgebiet Syriens nach Russland zurückkehren möchten, werden davon ausgeschlossen. Auch ihre Visaanträge werden abgelehnt. Erst Mitte Februar bekamen drei tscherkessische-stämmige Studenten, die aus Syrien eingereist waren, die Ausreiseaufforderung.


Verhöhnte Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine

1932/33 verhungerte ein Viertel der Landbevölkerung im Süden und Osten der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik Ukraine. Die Sowjetunion unter der Führung Josef Stalins organisierte die Hungersnot in der Ukraine bewusst, um den Widerstand gegen die brutal durchgesetzte Kollektivierung zu brechen. Historiker gehen von 4-6 Millionen Opfern des als Holodomor bezeichneten Genozids aus. Dieses Verbrechen wurde von der russischen Regierung nie anerkannt. Im Gegenteil versuchte die russische Führung Initiativen der Ukraine zur internationalen Anerkennung dieses Völkermords zu unterbinden.

Die Krimtataren sind die eigentlichen Ureinwohner der Krim. Sie wurden im Jahr 1944 durch den sowjetischen Diktator Josef Stalin deportiert. Die heute auf der Krim lebende russisch-sprachige Bevölkerung wurde größtenteils erst im 18. Jahrhundert angesiedelt, nachdem das Zarenreich die Halbinsel dem Osmanischen Reich abgenommen hatte. Dessen Herrscher hatten dem im Mittelalter eroberten Khanat der Krimtataren relativ große Autonomierechte gewährt und sich dadurch dessen Loyalität gesichert.

Am 18. Mai 2014 werden die Krimtataren der Deportation ihres gesamten Volkes 1944 durch Stalin gedenken. Stalin ließ alle Krimtataren auf Viehwaggons verladen und nach Zentralasien deportieren. Bis zu 44 Prozent der Deportierten starben. Dieser Völkermord gehört mit weiteren Deportationen von damals in der Sowjetunion ansässigen Völkern zu den schlimmsten Verbrechen der jüngeren europäischen Geschichte. So wurde alles getan, um jegliche Spuren der Krimtataren zu verwischen. Ihre Häuser wurden niedergerissen, ihre Gärten ließ man verwildern, ihre Friedhöfe wurden umgepflügt und die sterblichen Überreste ihrer Vorfahren entfernt. Alles auf Krimtatarisch Geschriebene und Gedruckte wurde verbrannt. Unaufhörlich wandten sich die Krimtataren aus dem fernen zentralasiatischen Exil über Jahrzehnte an die verschiedenen sowjetischen Regierungen. Nachdem Appelle von mehr als 120.000 Krimtataren unterzeichnet, ignoriert und ihre Initiatoren in Arbeitslager verbannt wurden, intensivierten sie ihre Rückkehrbemühungen. Sie sandten 4.000 Repräsentanten nach Moskau und setzten schließlich in den späten 1980er Jahren die Rückkehr ihres Volkes in die historische Heimat durch. Mustafa Dschemilew, der als Kind die Deportation überlebte, wurde zur zentralen Figur der Rückkehrbewegung. Er verbrachte 15 Jahre in sowjetischer Lagerhaft und wurde erst während des Umbruchs des Ostblocks freigelassen. 1991 wurde er zum Präsidenten des Krimtatarischen Parlaments gewählt und engagierte sich für die ukrainische Unabhängigkeit. Nach der Deportation der Krimtataren wurden ethnische Russen auf ihrem Land und in ihren Dörfern auf der Krim angesiedelt.

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Quelle:
Presseerklärung Berlin / Göttingen, den 3. März 2014
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2014