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PETERSBERG II/004: Zivilgesellschaft am Rande des Interesses (medica mondiale)


medica mondiale e.V. - Pressemitteilung vom 29. November 2011

medica mondiale erklärt zur internationalen Afghanistan-Konferenz im Dezember in Bonn:

Vernachlässigung des zivilen Aufbaus spielt Taliban in die Hände!"


Köln, 29. November 2011. Wenige Tage vor der internationalen Afghanistan-Konferenz in Bonn weist die Frauenrechts- und Hilfsorganisation medica mondiale auf die Dringlichkeit hin, das Engagement der internationalen Gemeinschaft endlich auf die Bedürfnisse der afghanischen Bevölkerung und eine Stärkung der Zivilgesellschaft auszurichten. Dessen jahrelange Vernachlässigung hat das Wiedererstarken ultrakonservativer Kräfte mit begünstigt.

Zehn Jahre nach der ersten Afghanistan-Konferenz 2001 in Deutschland leidet die afghanische Bevölkerung immer noch an Armut und am mangelnden Schutz der Menschenrechte. Wenigen Verbesserungen, unter anderem die gestiegene Zahl von Schulbesuchen von Mädchen, stehen erhebliche Verschlechterungen in der Sicherheitslage und das Wiedererstarken der Taliban gegenüber. Die Zahl der zivilen Opfer des Militäreinsatzes war mit 2.777 getöteten Afghaninnen und Afghanen im Jahr 2010 so hoch wie nie zuvor seit Beginn des Krieges. Tendenz steigend: Im ersten Halbjahr 2011 lag die Zahl wiederum um 15 Prozent höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres.

Monika Hauser, geschäftsführendes Vorstandsmitglied bei medica mondiale, kritisiert die von der internationalen Gemeinschaft als Erfolg gefeierte Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die AfghanInnen: "Immer mehr erweist sich der Anfang 2010 beschlossene Strategiewechsel in der Afghanistan-Politik, der den Truppenabzug vorsieht, als PR-Strategie zur Verschleierung des Misserfolgs - lediglich dienlich, um sich gesichtswahrend aus dem Konflikt zurückziehen zu können." Von einem wirklichen und richtungsweisenden Wechsel in der Strategie könne keineswegs die Rede sein, so Hauser weiter. "Statt den entwicklungspolitischen und menschenrechtlichen Aufbau in den Vordergrund zu stellen, hat sich die internationale Gemeinschaft in ihrer Rückzugs-Politik nahezu ausschließlich auf die Übergabe der militärischen Sicherheitsverantwortung fokussiert. Dass jedoch gerade das Militär keine Sicherheit schafft, hat sich doch nun mehr als deutlich gezeigt. Der Schutz der Frauenrechte, der Aufbau des Justizsektors und des Gesundheitsbereiches aber bleiben weiterhin auf der Strecke."

Seit Jahr und Tag mahnen afghanische Aktivistinnen die Grundpfeiler menschlicher Sicherheit an, nämlich die Achtung von Menschenrechten, die Eindämmung von Gewalt, ein funktionierendes Rechtssystem, Armutsbekämpfung sowie Zugang zu Bildung und Gesundheit. Die Schaffung eines verlässlichen Justizsystems beispielsweise sei von der internationalen Gemeinschaft jedoch sträflich vernachlässigt worden. "Den USA war der Justizaufbau in den letzten zehn Jahren gerade einmal 186 Millionen US-Dollar wert - eine skandalös niedrige Summe verglichen mit den 486 Milliarden US-Dollar, die für den Militäreinsatz ausgegeben wurden." Die Folgen dieser Politik bleiben bis heute unterschätzt: "Dort, wo der Staat nicht für Recht und Ordnung sorgen kann, spielt er ultrakonservativen Kräfte wie den Taliban in die Hände. In vielen Regionen dringen sie in die rechtsfreien Räume ein und setzen ihre perfide Form von Ordnung durch. Das ist verhängnisvoll für Frauen."

Die internationale Gemeinschaft müsse sich endlich darauf konzentrieren, in Afghanistan ein tragfähiges und stabiles Staatswesen aufzubauen: "Es ist absolut unverständlich, dass die internationale Politik keine Verbindung zieht zwischen einem völlig unzulänglichen Rechtsystem, anhaltender Straflosigkeit und massiver Korruption einerseits und dem Wiedererstarken der Taliban andererseits", so Hauser. "Wir hoffen sehr, dass die jetzt erstmals höhere Beteiligung von rund 30 Prozent afghanischer Frauen bei der Konferenz in Bonn ein Zeichen dahingehend ist, endlich auch die Realitäten von Frauen ernst und in den Blick zu nehmen. Nur so können langfristig bessere Zukunftsperspektiven für die Zivilgesellschaft entstehen."


medica mondiale setzt sich seit 1993 ein für traumatisierte Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten. Dabei versteht sich die Organisation als Anwältin für die Rechte und Interessen von Frauen, die sexualisierte Kriegsgewalt überlebt haben. Neben gynäkologischer Versorgung, psychosozialer und rechtlicher Unterstützung bietet medica mondiale Programme zur Existenzsicherung und leistet politische Menschenrechtsarbeit. Seit 2001 ist medica mondiale in Afghanistan tätig: Sie hat dort die inzwischen selbständige Organisation Medica Afghanistan aufgebaut, die afghanische Frauen mit Rechtsberatung und -vertretung, psychosozialer Betreuung, Menschenrechtsarbeit und Qualifizierung von Gesundheitspersonal unterstützt. 2008 wurde die Gründerin der Organisation, Monika Hauser, mit dem Right Livelihood Award, dem so genannten Alternativen Nobelpreis, ausgezeichnet.


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Quelle:
medica mondiale e.V.
Pressemitteilung vom 8. September 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2011