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BERICHT/1182: Sibirien - So überleben wir, so gut wir können (welt der frau)


welt der frau 12/2010 - Die österreichische Frauenzeitschrift

WELT DER FRAU-HILFSPROJEKT
Sibirien
So überleben wir, so gut wir können

Von Christine Haiden


Für viele Frauen und Kinder sind die Lebensbedingungen in Sibirien hart. Wenig Einkommen, desolate Familien, schlechte Zukunftsaussichten. Höchste Zeit, ihnen zu helfen.


Schwester Maria lässt den Rosenkranz in ihrer Kuttentasche verschwinden und zieht einen Zettel daraus hervor. Zwei Telefonnummern hat sie notiert. "Los, fahren wir", sagt sie zu ihrer Kollegin, Schwester Ursula. Es ist neunzehn Uhr. Eben haben sich die beiden polnischen Nonnen in der kleinen Hauskapelle von Pfarrer Bohuslav beim Gottesdienst mit dem heiligen Sakrament gestärkt. Ehe das Abendbrot auf den Tisch kommt, machen die beiden nun noch ihre Runde durch Angarsk. Die erste Telefonnummer ist die eines Kindergartens. Olga, eine Mutter von vier Kindern, hat die Schwestern gebeten, ihr jüngstes dort abzuholen. Olga arbeitet für achtzig Euro im Monat als Wächterin in einem Kaufhaus und muss heute länger als vorgesehen bleiben. Maria und Ursula sind bereits unterwegs. Und stehen vor verschlossenen Toren. Kein Mensch mehr im Kindergarten. Wo ist der kleine Sascha? "Ich weiß, wo die Familie wohnt. Probieren wir es dort, vielleicht hat ihn jemand mitgenommen", meint Maria. Ursula lenkt das dunkle, staubige Fahrzeug durch die Stadt. Ein kühler Spätwinterwind weht durch die Straßen. Alles wirkt kahl und grau. Die beiden polnischen Ordensfrauen kennen die vielen Wohnblöcke nach bald zehn Jahren Einsatz für Kinder und Familien ganz gut, finden Straßen auch ohne Beschilderung. Olga war mit ihren Kindern vor etlicher Zeit für ein paar Tage im Ordenshaus untergekommen. Ihr Mann hatte sie geschlagen. Die Schwestern klopfen energisch an eine dunkle Tür in dem verwahrlosten Hausflur. "Ist da wer?", ruft Maria. "Sascha, hörst du mich?", setzt Ursula nach. "Es rührt sich etwas", meint Maria nach Minuten des Klopfens und Rufens. Zögerlich öffnet sich die Tür. Im Halbdunkel erkennt man einen Mann im Unterhemd. Hinter ihm lugen drei bleiche, durchsichtige Kinder in ausgewaschenen Höschen und schlabbrigen Hemdchen hervor. "Sascha!" Schwester Maria ist erst einmal erleichtert. Sie drängt sich energisch in den Flur der Wohnung. In der Küche stapeln sich schmutziges Geschirr, Teller mit Essensresten, Plastiktaschen. Ein funzeliges Licht erleuchtet das verwahrloste Stillleben. Im einzigen Zimmer nebenan türmen sich Berge alter Wäsche. Ursula und Maria scheinen das zu übersehen, wenden sich den Kindern zu. "Wie geht es euch? Habt ihr schon etwas gegessen? Kommt ihr morgen zu uns in den Hort?" Der Vater steht apathisch daneben. Er hat keine Arbeit, und er trinkt. Wie viele, "wie fast alle", sagen die Schwestern.


Zweiter Einsatz bei zwei Kindern

Da ist noch die zweite Telefonnummer. Ein Mädchen, Katja, hat angerufen. Die Mama sei im Spital und niemand da, der sich um sie und ihren kleinen Bruder Vanja kümmern könne. Die Schwestern kennen Katja gut. Sie war bei ihnen im Kindergarten und kommt nun regelmäßig in den Hort. Nächster Wohnblock, nächster dunkler Flur, die nächste kleine Wohnung mit einem Zimmer, Küche und Bad. Eine Großtante der Kinder macht sich gerade zu schaffen. Sie müsse gleich weg, sagt sie anstelle einer Begrüßung. Wo die Mutter der Kinder sei, wisse sie nicht. Nur, dass sie ins Krankenhaus gebracht worden sei. Schwanger zum vierten Kind, ungewollt, habe sie versucht, eine Abtreibung zu machen. Maria nickt. Solche Geschichten hört sie fast täglich. Sie kennt Katjas Mutter, weiß, dass sie trinkt. Wenn sie ihr deswegen Vorhaltungen macht, antwortet diese nur: "Ich habe ein Recht darauf zu trinken." Maria meint, die Kinder hätten ein Recht darauf, ihre Kindheit nicht in einem Heim zu verbringen. Deswegen wird nun gepackt. In eine Plastiktasche wandern ein Pyjama und ein Paar Schuhe. Katja zieht ihrem Bruder Vanja eine Jacke über, setzt eine Haube auf seinen Kopf, der kahl geschoren und mit blauen Flecken übersät ist. "Haben wir alles?" Schwester Ursula hebt Vanja hoch, Katja schnappt die Tasche. Im Auto der Schwestern fahren nun auch zwei "Schlafgeher" mit. Der Einsatz ist abgeschlossen, als sich die Tür des Schwesternhauses öffnet. Eine Mitschwester nimmt die Kinder in Empfang. Sie wird heute Nacht aus ihrer Klausur mit den beiden in ein Gästezimmer übersiedeln. Pflegemutter auf unbestimmte Zeit.


Dritter Einsatz am Bahnhof

Schwester Ursula und Schwester Maria setzen sich zu Tisch. Beten für jene, denen sie heute begegnet sind, bitten um Vergebung für alles, was sie unterlassen haben, und danken für die Jause auf dem Tisch. Das Verschnaufen währt nur kurz. "Schauen wir noch zum Bahnhof?", fragt Ursula in die Runde. Maria nickt. Dann geht es los. Auf dem weiten Gelände des Bahnhofes finden sie unter den riesigen Rohren der Fernheizung ein junges Paar, das sich dort eine Behausung eingerichtet hat. Ein Verschlag ohne Wasser, ohne Sanitäranlagen, gekocht wird über offenem Feuer. Natascha, die Frau, ist gerade wieder schwanger. Ihr erstes Kind lebt in einem Heim. So wie sie selbst und der Vater ihres Kindes in Heimen aufgewachsen sind. Not "vererbt" sich. Die Schwestern wissen, wo sie die ehemaligen Straßenkinder, die nun erwachsen geworden sind, suchen müssen. Sie bleiben über Kanaldeckeln stehen und rufen nach dem Bewohner darunter, geben Essen hinunter, fragen nach, ob Medikamente gebraucht werden. In den Wäldern neben der Bahn treffen sie auf Gruppen von schmutzigen jungen Menschen, die sich mit Hunden, Katzen und Bierflaschen rund um ein Feuer wärmen. "Die Schwestern haben uns nie bei der Polizei verpfiffen", meint einer mit zahnlöchrigem Grinsen. "Aber dass ihr so viel trinkt, gefällt uns trotzdem nicht", erwidern die schwarz gekleideten Frauen. Sie kennen von jedem die Geschichte. Viele würden niemandem abgehen, wenn sie eines Tages verschwinden. Nur die Schwestern gehen ihnen nach, bis ins Gefängnis. Dass manche von ihren Schützlingen es zu einer geregelten Arbeit und einer kleinen Wohnung gebracht haben, erzeugt bei den Schwestern doch eine innere Zufriedenheit.

Es ist schon dunkel, als Maria und Ursula vom Stadtrand zurück in ihr Haus fahren. Ein ganz normaler Arbeitstag geht zu Ende. Morgen warten um halb acht wieder dreißig Kinder im Kindergarten auf sie. Und nachmittags 20 Jugendliche im Hort.


Die Krise der Menschen

Schwester Ursula und die anderen Ordensfrauen sind freiwillig in Sibirien. Nach Angarsk wurde man früher verbannt. Die Stadt nahe dem Baikalsee in Südostsibirien ist erst gut fünfzig Jahre alt. Abgeurteilte StraftäterInnen und wegen Regimekritik Verbannte richteten sich das Leben in den weiten, sumpfigen Ebenen ein. Ein Ort, abgelegen genug, um dort für Rüstung und Atomwirtschaft zu forschen und zu produzieren. "Die Menschen hier sind misstrauisch", erzählt Schwester Maria. Sich bedeckt zu halten, habe sich als Überlebenstaktik bewährt. Den Druck des Duckens erleichtert man sich mit Wodka. Kaum eine Familie, die intakt ist. Viele Mütter, die mehrere Kinder von mehreren Vätern alleine erziehen und nur notdürftig über die Runden kommen. Schlechte, kleine Wohnungen oder desolate "Kommunalkas", Massenquartiere für Arme. Ein Staat, der seine Bürger nicht erwachsen werden lässt und ihnen wenig Verantwortung für das eigene Leben gibt, regelt das menschliche Fortkommen mit Gleichgültigkeit. Tausende Kinder leben in Heimen, die gut verwaltet werden, aber auch nicht mehr. Schwestern wie Ursula und Maria halten dem dagegen. In ihrem Kindergarten lernen die Kinder nicht nur zu spielen, sondern auch Beständigkeit und Verantwortung in den kleinen Dingen des Alltags. Sich zum Essen zu setzen und anschließend den Teller selbst wegzuräumen, das lernen sie daheim nicht. Aber auch die Eltern werden in das Erziehungsprogramm der Schwestern eingebunden. "Jede Mutter muss pro Monat vier Stunden im Kindergarten oder Hort mitarbeiten", erläutert Maria. Eingeführt wurde das, weil manche Eltern ihre Kinder immer wieder im Kindergarten "vergessen" haben. "Weil sie betrunken waren", fügt Maria hinzu.


Die alten und die neuen Zeiten

Sibirien dehnt sich unvorstellbar weit jenseits des Ural. Die berüchtigten Lager im Nordosten des Landes sind Tausende Kilometer von Angarsk entfernt. Das Land ist flach, mit ungezählten Teichen und Flüssen durchzogen, von Legionen Birken und Föhren bestanden. Die meiste Zeit des Jahres ist der Boden gefroren. In den kurzen Sommermonaten pflanzen und ernten viele chinesische PächterInnen auf den brachen Flächen Gemüse und Obst. "Wer will, findet Arbeit", erzählen die Schwestern. Bergbau und Rüstungsindustrie sind in einem maroden Zustand und die neuen "Business-Men" machen mit wenig zimperlichen Geschäftsmethoden ihr Geld. In vielen Dörfern scheint die Zeit stehen geblieben. Die alten Holzhäuser muten pittoresk an, aber das Leben in ihnen ist wenig komfortabel. Elektrischer Strom ist zwar Standard, fließendes Wasser und WC sind es aber oft nicht. Viele trauern den alten Zeiten der Sowjetunion nach. Seit Gorbatschow den Umbruch eingeleitet hat, sei das Leben ein Kampf. Sogar um einen Kindergartenplatz zu bekommen, müsse man Schmiergeld zahlen. Außer bei den Schwestern des Heiligen Vinzenz. Aber die Katholiken verlieren sich in den Weiten Sibiriens wie Sternschnuppen im Universum. 45 Pfarrer sorgen in der Diözese Ostsibirien für nicht sehr viel mehr als tausend KatholikInnen.


Ein Heim für junge Mütter

Dreitausend Kilometer weiter westlich von Angarsk, in Nowosibirsk, macht Elena gerade ihre Kochprüfung. Kartoffelsuppe und Eintopf hat sie selbst zubereitet. Elena ist 19. Ihr Baby Daniel ist vier Monate alt. Elena hat im Mutter-Kind-Heim "St. Sophia" der Caritas in Nowosibirsk Unterschlupf gefunden, als sie ungewollt schwanger geworden war. Vera Vladimirowna leitet das Haus. "Wir helfen den jungen Frauen, dass sie Mütter werden", sagt Vera.

Viele, die selbst im Heim waren, haben nie erfahren, was es heißt, sich um ein Kind zu kümmern. Wer selbst keine Bindung erlebt hat, kann auch zu seinem Kind nur schwer eine aufbauen. Viele junge Mütter sind schwer traumatisiert. "Das erste halbe Jahr im Haus lernen sie nur, sich um den Säugling zu kümmern. Im zweiten Halbjahr versuchen wir, ihnen Kochen und Hausarbeit beizubringen, und in der dritten Phase machen sie einen Schulabschluss oder einen Berufskurs." Nicht alle Mütter können sich auf die Anforderungen einstellen. Manche, erzählt Vera, hielten dieses geordnete Leben und die Verantwortung für ein Kind einfach nicht durch und kehrten in ihr altes Leben zurück. Für einige heißt das Prostitution. Die Kinder bleiben dann im Kinderheim St. Nikolaus, das gleich nebenan von der Caritas betrieben wird. Caritas-Direktorin Schwester Elisabeth Jakubowitz, eine gebürtige Ostdeutsche, hat mit der Art, wie sie das Kinderheim führt, mittlerweile auch die Achtung der Behörden gewonnen. "Alle unsere Kinder schließen eine Pflichtschule ab. Einige haben sogar ein Studium begonnen."Wenn Kinder das Heim verlassen, werden sie von Schwester Elisabeth und ihrem Team weiter betreut. Für manche ist dann das staatliche Kindergeld, das von der Heimleitung auf einem Sonderkonto gespart wurde, das Startkapital in ein neues Leben. Die Zuwendung zum einzelnen Menschen ist das Geheimnis, auch im Mutter-Kind-Heim.

"Das Schlimmste hier ist die Gleichgültigkeit", sagt Schwester Elisabeth. "Wenn eine Maschine kaputt geht, ist das mehr Problem, als wenn ein Mensch umkommt." Nur wenige Kinder im Heim sind Vollwaisen, für die meisten passt eher das Etikett "Sozialwaisen". Nicht selten ist ein Elternteil gerade im Gefängnis und der andere nicht auffindbar oder nicht in der Lage, sich um die Kinder zu kümmern. Manche Kinder werden in der Notaufnahme eines Krankenhauses abgegeben und nie wieder geholt, andere, wie der sechsjährige Dima, wachsen unter Obdachlosen auf, weil sie ausgesetzt wurden. Vera Vladimirowna blickt zu Schwester Elisabeth hinüber: "Weißt du, was ich von dir gelernt habe?" Die Caritas-Direktorin schaut fragend. "Wie wir leben können. Das müssen wir hier in Sibirien erst lernen."


"WELT DER FRAU"-SOZIALAKTION FÜR FRAUEN UND KINDER IN SIBIRIEN

Projekt Kindergarten und Kinderhort Tschita

Ausschließlich Kinder aus armen und sozial schwachen Familien finden bei den Vinzenz-Schwestern Aufnahme. Im Kindergarten lernen sie einen regelmäßigen Tagesablauf, Verantwortung in kleinen Dingen und ein Leben in Gemeinschaft. Die Kinder bekommen auch ein Mittagessen, sowohl im Hort als auch im Kindergarten. Für viele Kinder, die in desolaten Verhältnissen aufwachsen, sind die Schwestern wie Ankerplätze. In der Regionalstadt Tschita soll wie in der Hauptstadt Angarsk ein Kindergarten mit Hort eingerichtet werden. Die Kosten dafür belaufen sich auf 25.000 Euro pro Jahr.

Projekt Mutter-Kind-Heim Tscheljabinsk

Im sibirischen Tscheljabinsk sitzen in einem großen Gefängnis viele Frauen ein. Solange sie ihre Haftstrafe verbüßen, werden ihre Kinder ab dem Alter von drei Jahren in einem Kinderheim untergebracht. Die Caritas Nowosibirsk startet nun mit einem neuartigen Mutter-Kind-Heim. Dort sollen sechs bis acht Mütter, die aus der Haft entlassen werden, mit ihren Kindern, die teilweise aus dem Kinderheim zurückkommen, ein gemeinsames Leben aufbauen können. Nach dem bewährten Modell des Mutter-Kind-Heimes in Nowosibirsk sollen die Frauen in eineinhalb Jahren lernen, für sich und ihre Kinder zu sorgen und eine neue Existenz zu schaffen. Das Mutter-Kind-Heim in Tscheljabinsk benötigt für das erste Jahr rund 30.000 Euro.


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Dezember 2010, Seite 22-27
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2011