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BERICHT/1197: "Deutsche Rechte und deutsche Linke und ihr Verhältnis zu Israel und Palästina" (M. Forberg)


"Die deutschen Rechten und die deutschen Linken und ihr Verhältnis zu Israel und Palästina"
- eine Matinee im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin

von Martin Forberg, 4. Oktober 2011


Alljährlich am 3. Oktober findet in Berlin eine Art "alternativer Gedenktag" statt - aus Anlass des Geburtstages des radikaldemokratischen, pazifistischen Publizisten Carl von Ossietzky, der auf den "Tag der deutschen Einheit" fällt. Veranstalter_innen sind die Zweiwochenschrift Ossietzky, die Internationale Liga für Menschenrechte und die Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte (die die Räumlichkeiten für die Vorträge und Diskussionen zur Verfügung stellt). (1)

Carl von Ossietzky wurde 1889 geboren und starb 1938 an den Folgen von fünf Haftjahren in verschiedenen NS-Konzentrationslagern. Zu Beginn der diesjährigen Matinee referierte der Historiker Professor Dr. Kurt Pätzold über die Verleihung des Friedensnobelpreises an von Ossietzky vor 75 Jahren, am 23. November 1936. Der Aufruf, ihm den Friedensnobelpreis zu verleihen, hatte vor allem zum Ziel, ihn den Klauen der Nazidiktatur zu entwinden. 1936 schließlich erreichte die internationale Solidaritätskampagne die Freilassung des ehemaligen Herausgebers der Zeitschrift "Die Weltbühne". (2)
Die Standhaftigkeit Carl von Ossietzky's unter den Bedingungen der Nazibarbarei ist ein besonderes Beispiel für Zivilcourage, das sich nicht unbedingt auf andere historische oder aktuelle Situationen übertragen lässt.

Moshe Zuckermann über den Israel/Palästina-Beschluss der Bundestagsfraktion DIE LINKE

Das Hauptthema der diesjährigen Matinee kreiste allerdings ebenfalls um den aufrechten politischen Gang - der aber hier an einem weitaus weniger existenziellen Beispiel diskutiert wurde. Anlass für die Themenwahl ("Die deutschen Rechten und die deutschen Linken und ihr Verhältnis zu Israel und Palästina") war der Beschluss der Bundestagsfraktion DIE LINKE vom 8. Juni 2011, in dem eine Unterstützung der Gaza-Flotilla 2011, der "Ein-Staaten-Lösung" und des "Boykotts israelischer Produkte" für Abgeordnete und Mitarbeiter der Fraktion ausgeschlossen wird. (3)
Hierzu äußerten sich Moshe Zuckermann, Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv und Annette Groth, Mitglied des Deutschen Bundestags und menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE.
Für Zuckermann hat die Bundestagsfraktion der LINKEN den Lackmustest allen Linksseins nicht bestanden: indem sie nach der Publizierung einer Studie zweier junger Wissenschaftler (4) über vermeintlich antisemitische Tendenzen in ihrer Partei (wobei nahostpolitische Positionen der LINKEN eine zentrale Bedeutung zur Untermauerung dieses Vorwurfs gespielt hatten) sich und ihren Mitgliedern eine Selbstbeschränkung in Sachen Israel/Palästina verordnet hatte, ist sie vor dem Druck in ihrem Umfeld eingeknickt - so lässt sich Zuckermanns Urteil zusammenfassen. Der Druck war noch durch eine aktuelle Stunde verstärkt worden, die die Bundestagsfraktion der CDU/CSU zum mutmaßlichen Antisemitismus in der LINKEN beantragt hatte. "Linke sind links, wenn sie ihrem Umfeld widerstehen", formulierte Zuckermann pointiert.

Die erwähnte Studie, die eine gewaltige politische Lawine ausgelöst hat, halte selbst einer kritischen Prüfung nicht stand. Hierzu hat Moshe Zuckermann jüngst eine ausführliche Kritik veröffentlicht. (5)

Bestürzend sei aber nicht dies, sondern die Tatsache, dass die Bundestagsfraktion DIE LINKE sich nicht einmal klar gemacht habe, ob ihre Partei überhaupt antisemitisch sei und ob denn tatsächlich Antizionismus oder "Israelkritik" mit Antisemitismus gleichzusetzen seien. Mit einem linken, emanzipatorischen Anspruch müsse sich die Fraktion DIE LINKE den Tatsachen in Israel/Palästina stellen: einer fast 45 Jahre währenden Besatzung und dem Faktum, dass ein Volk unterdrückt werde, was schon unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte nicht zu akzeptieren sei. Diese Umstände und die Notwendigkeit eines Frieden dürften Linke nicht zur Seite schieben, und sich stattdessen eine Auseinandersetzung um "Befindlichkeiten" aufzwingen lassen.

Deutsche Befindlichkeiten, deutsche Verbrechen und die "materialisierte Schuldabtragung":

Und es seien eben die eigenen Befindlichkeiten, die in der deutschen Diskussion über Israel und Palästina im Vordergrund stünden - nicht erst in diesen Tagen, sondern bereits seit der Gründung des Staates Israel. Dies sei durchaus "nachvollziehbar": "Deutsche haben gegenüber Juden Schlimmstes verbrochen". Das könne nicht in Klammern gesetzt werden. Gerade deshalb lehne er auch den in der Adenauer-Zeit geprägten Begriff der "Wiedergutmachung" ab.
Zuckermann illustrierte am Beispiel dieser Wortschöpfung, wie in den frühen Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der israelischen Regierung in Gestalt der "Wiedergutmachungszahlungen" die "Schuldabtragung materialisiert" worden sei - ein Vorgang ganz im Sinne der kapitalistischen Sicht auf die Welt. Diese Politik der Adenauerregierung sei Hand in Hand gegangen mit der Beschäftigung von alten Nazis in hohen und weniger hohen Posten in der Bundesrepublik der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts.
Die Zahlungen seien zugleich ein Grund für die Annäherung der israelischen Regierung an die Bundesrepublik Deutschland gewesen - und mithin ein Baustein in der israelischen Entscheidung zur "Westbindung", die insofern nicht selbstverständlich gewesen sei, da die Sowjetunion wesentlich früher als die Vereinigten Staaten von Amerika Israel unterstützt habe.
Die Blockstruktur im Kalten Krieg habe bedeutet, dass Israel/Palästina auch zum Spielball der Machtkämpfe zwischen Ost und West geworden sei.

Die ganze Tragödie wahrnehmen

Jenseits dieser äußeren Faktoren sei zu betonen, dass Israel (Moshe Zuckermann benutzte an dieser Stelle den Begriff "jüdischer Staat") auf dem Rücken der Palästinenser entstanden sei. "Wer das nicht sieht, verkennt die eigentliche Dimension der ganzen Tragödie."
Die Nakba, die palästinensische Katastrophe, sei nicht in Abrede zu stellen und dies müsse in Friedensverhandlungen einfließen.
Die "Projektion der eigenen Befindlichkeiten auf Israel" habe heute zum Beispiel zur Folge, dass die Bundesregierung in der Europäischen Union jede "Israel-Kritik" verhindere - obwohl eine solche kritische Haltung friedenspolitisch sinnvoll wäre.

Rechte und linke Rollenwechsel im Verhältnis zu Israel/Palästina

Die Haltung der politischen Lager in Deutschland zu Israel/Palästina sei nicht zuletzt von einem Schuldkomplex und von Projektionen gekennzeichnet: diese These illustrierte Zuckermann am Beispiel der Positionierung der Linken wie der Rechten in Deutschland.
Bei der extremen Rechten habe ein Rollenwechsel stattgefunden: früher habe hier eine radikale Ablehnung Israels vorgeherrscht - letztlich, um Jüdinnen und Juden anzuklagen und dadurch die eigene Schuldbeladenheit wettzumachen.

Demgegenüber sei die bundesdeutsche Linke bis in die Mitte der 1960er von Israel angetan gewesen: einmal, weil der Staat aus einer großen Not entstanden sei und zum anderen hätte die Gemeinschaftssiedlung des Kibbutz dieser Linken als "interessantester Versuch des Sozialismus im 20. Jahrhundert" gegolten. Als Sympathiefaktor sei hinzugekommen, meinte Moshe Zuckermann mit einer Prise Ironie, dass Israelis die "Weltmeister im Schreiben von Friedenssongs" gewesen seien. Demgegenüber standen für die Linke "Araber nicht zur Debatte".
Zwei Faktoren haben diese Haltung in den Jahren 1967/68 geändert: erstens hätten die Angehörigen der Neuen Linken ihr Handeln nicht mehr zentral von Schuldgefühlen leiten lassen, da sie selbst inzwischen zumindest ihren eigenen Eltern kritische Fragen zu deren Rolle in der Nazizeit gestellt hätten. Und zweitens habe sich diese Linke durch die zunehmende Orientierung an marxistischen Kategorien eine Haltung der internationalen Solidarität angeeignet: gerade nach der Besetzung von Westbank, Ost-Jerusalem und dem Gazastreifen durch lsrael 1967 habe sich dadurch ein kritischer Blick auf Israel entwickelt.
Manche ehemals radikale Kritiker Israels aus der Linken seien heute zu "Israel-Idealisierern" geworden. Angesichts des Ausmaßes dieser Idealisierung könne einem Israeli heute mitunter "schlecht werden".
Neonazis hätten heute ihren Antisemitismus oft gegen einen Hass auf den Islam eingetauscht. "Kriegstreiber von 'links' wie die sogenannten "Antideutschen" seien heute mit rechten Kräften in ihrer "Solidarität" (bzw. Identifikation) mit Israel vereint.

Annette Groth: Rüstungskooperation macht mitschuldig

Auch Annette Groth, menschenrechtspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion DIE LINKE, äußerte sich kritisch zu dem Beschluss ihrer Fraktion vom 8. Juni 2011.
Als sie im Jahr 2010 gegenüber der Fraktion ankündigte, an der Gaza-Flotilla teilnehmen zu wollen, habe niemand etwas dagegen eingewandt. Die Menschenrechtspolitikerin betonte, dass im Anschluss an die Gaza-Flotilla der Deutsche Bundestag in seltener Einmütigkeit ein Ende der israelischen Blockade des Gazastreifens gefordert habe. Dieser Beschluss sei heute schon fast vergessen - umso sinnvoller sei es, bei den Abgeordneten des Bundestags nachzufragen, was sie für die Verwirklichung des Appells an Israel getan hätten.
Annette Groth betonte ihre Verbundenheit mit der israelischen Linken und mit israelischen Menschenrechtsorganisationen. "Mehr Druck" auf die israelische Regierung sei nötig. Durch die Rüstungskooperation mit Israel, in die eine hohe Anzahl von Steuergeldern fließe, "machen wir uns mitschuldig".

Lebhafte Diskussionen

In der folgenden Diskussion wurden die Anregungen, die vom Podium gekommen waren, aufgenommen und vertieft.
So wurde kritisch bemerkt, dass im deutsch-israelischen Verhältnis längst "knallharte" Interessen ausschlaggebend seien, und nicht mehr deutsche Schuldkomplexe.
Auch der Angriff der israelischen Marine auf die Gaza-Hilfsflotte am 31. Mai 2010 schlug noch einmal kurzzeitig hohe Wellen: es sei zu bedauern, so eine Stimme aus dem Publikum, dass die 9 Todesopfer in der öffentlichen Diskussion kaum noch eine Rolle spielten. Vielleicht liege dies daran, dass alle ursprünglich aus der Türkei stammten (einschließlich eines US-Bürgers türkischer Herkunft). Hätte es sich bei den Toten um "weiße Europäer" gehandelt, wäre ihr Tod heute vermutlich nicht in Vergessenheit geraten, so die Kritikerin.

Palästina als "Epiphänomen Israels"? Eine kritische Randbemerkung

Dem Autor dieses Textes fiel auf, dass in den sehr interessanten und kritischen Vorträgen leider von Palästinenserinnen und Palästinensern als aktiven Subjekten auf Augenhöhe kaum die Rede war (obwohl laut Titel der Veranstaltung Israel und Palästina zum Thema gemacht werden sollten).
Die Frage, ob nicht gerade vor dem Hintergrund der durchaus "typisch deutschen" Konzentration auf deutsch-israelische Dialoge die Perspektive gleicher Rechte für Palästinenser und Israelis besonders bedeutsam sei, interessierte mich sehr - und ebenso eine besondere Erwähnung des Aufrufs aus der palästinensischen Zivilgesellschaft für ein Militärembargo gegen Israel. (6) Auch eine Kommentierung des Antrags auf Aufnahme des Staates Palästina als UNO-Mitglied schien mir naheliegend.
Moshe Zuckermanns Antwort auf alle drei Fragen konzentrierte sich auf die These, dass Palästina in dieser Diskussion ein "Epiphänomen" Israels sei.
(Epiphänomene sind Einheiten, Dinge, Entitäten, die von einer anderen Entität verursacht wurden, "aber selbst keine (signifikante) kausale Wirkung" haben). (7)

Er hat dies zwar unbedingt herrschaftskritisch gemeint: dass nämlich Israel angesichts des Machtgefälles gegenüber Palästina und angesichts seiner Besatzungspolitik besonders verantwortlich für die bestehende Situation und ihre Änderung sei. Diese Begrifflichkeit hat aber zugleich meiner Ansicht eine problematische Komponente, wenn sie als Modell zur Wahrnehmung der Realität in Israel/Palästina angeboten wird: sie versperrt - wird sie akzeptiert - dann die Sicht auf die Palästinenserinnen und Palästinenser als Subjekte auf Augenhöhe und auch auf ihren durchaus wirkungsmächtigen gewaltlosen Widerstand, wie etwa in Gestalt der BDS-Bewegung oder von gewaltlosen Demonstrationen gegen Besatzung und Kolonialisierung. Und die Forderung nach einem Militärembargo gegen Israel ist eben gerade als palästinensische Initiative besonders zu schätzen. Für Moshe Zuckermann ist dieses Anliegen an sich illusorisch, da Waffenproduktion und Kriegskooperation nicht isoliert zu betrachten, sondern an die Existenz des Kapitalismus gebunden seien.
Ebenso sei die UNO-Initiative bereits jetzt gescheitert (Stichwort: Palästina als Epiphänomen).
Die Perspektive gleicher Rechte ist offenbar noch längst keine Selbstverständlichkeit. Es gibt also noch viel zu debattieren. Vielleicht gleichermaßen über die Frage, ob nicht gerade ein emanzipatorischer Ansatz bedeuten sollte, die Verhältnisse konkret zum Tanzen zu bringen - beispielsweise durch konkrete Kampagnen gegen die militärische Zusammenarbeit mit Staaten, die die Menschenrechte verletzen - wie Israel und viele andere.
Diese und andere Debatten sollten nicht erst am 3. Oktober des nächsten Jahres weitergehen.


(1) http://www.sopos.org/ossietzky/, http://ilmr.de/, http://www.hausderdemokratie.de/artikel/index.php4

(2) Pätzolds Beitrag erscheint in der Ausgabe der jungen Welt vom 23.11.2011

(3) http://die-linke.de/nc/dielinke/nachrichten/detail/artikel/entschieden-gegen-antisemitismus/

(4) http://www.fr-online.de/blob/view/8467798,5567690,data,Studie+Antisemitismus+in+der+Linkspartei.pdf

(5) Moshe Zuckermann, "Linker Antisemitismus" im Visier, in: "Hintergrund",
http://www.hintergrund.de/201109301757/feuilleton/zeitfragen/linker-antisemitismus-im-visier.html

(6) Vergleiche die deutsche Übersetzung:
http://www.bdsmovement.net/files/2011/07/BNC-Call-fo-military-embargo-9-7-2011-deutsch.pdf
sowie: http://www.bdsmovement.net/files/2011/07/BNC-military-embargo-background-document-9-7-2011.pdf
und generell: http://bds-kampagne.de/kampagne-fr-ein-militrisches-embargo-gegen-israel/aufrufe-und-artikel/aufrufe-und-artikel-2011/

(7) http://de.wikipedia.org/wiki/Epiph%C3%A4nomen


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Quelle:
© 2011 by Martin Forberg
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2011