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BERICHT/901: Wie weit sind wir noch vom atomwaffenfreien Deutschland entfernt? (IPPNWforum)


IPPNWforum | 115 | 09
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Atomwaffenfreies Deutschland
Wie weit sind wir noch vom Ziel entfernt?

Von Xanthe Hall


Im November 2008 fand im Auswärtigen Amt ein Treffen zur NATO-Atomwaffenpolitik statt. Hochrangige Politiker redeten mit Vertretern der NATO und bissen auf Granit, wie mir berichtet wurde. Die Einstellung der Nuklearen Planungsabteilung hat sich seit dem Kalten Krieg kaum verändert, auch wenn die NATO inzwischen eine ganz andere Organisation mit völlig veränderten Aufgaben geworden ist. NATO-Vertreter behaupten, dass wir die US-Atomwaffen in Europa - einschließlich Deutschland - brauchen, um die Verbreitung von Atomwaffen weiterhin einzudämmen. Damit meinen sie nicht etwa Länder wie den Iran oder Nordkorea, sondern Länder wie Deutschland oder die Türkei. Zudem soll verhindert werden, dass Deutschland ein eigenes atomares Arsenal aufbaut. Ich hatte gedacht, dass diese Einstellung den fünfziger Jahren angehört. Anscheinend trauen manche NATO-Beamte den eigenen Mitgliedsstaaten das zu, was sie selbst tut.


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In Berlin sind jedoch optimistische, aber sehr vorsichtige Töne zu hören. Geradezu euphorisch schließen sich PolitikerInnen der Vision einer atomwaffenfreien Welt an, wie sie von Kissinger, Schultz, Perry und Nunn in ihrem Wall St. Journal-Meinungsartikel beschrieben wurde. Treffend und offen äußert sich Uta Zapf, Ko-Präsidentin des weltweiten Netzwerks von Abgeordneten für Abrüstung und Nichtverbreitung (PNND) zu dieser Vision. Sie arbeitet weltweit mit Friedensorganisationen zusammen wie z.B. den Mayors for Peace, um tatsächliche Fortschritte, u.a. durch die Förderung einer Atomwaffenkonvention, zu erreichen. Andere vertreten die Ansicht, dass wir bestenfalls auf eine Reduzierung der Atomwaffenarsenale, eventuell noch die lang ersehnte Ratifizierung des umfassenden Atomteststoppvertrags oder die Aufnahme von Verhandlungen über ein Verbot der Herstellung von spaltbaren Materialien hoffen könnten. Uta Zapf berichtete, dass die NATO bei der nächsten Überprüfungskonferenz keine Veränderung ihrer Atomwaffenpolitik in Betracht zieht, solange die USA nicht mit ihrer Doktrinüberprüfung (sog. Nuclear Posture Review) fertig ist. Daher ist vor dem Jahr 2010 nichts Neues zu erwarten.

Wir hatten uns als Ziel gesetzt, dass Deutschland bis 2010 verkünden sollte, atomwaffenfrei zu sein. Heißt das, dass wir unser Ziel aufgeben müssen? Ich denke nein, und ich habe auch meine Gründe dafür. 2007 haben wir erfahren, dass die US-Amerikaner die Atomwaffen in Ramstein - angeblich wegen Bauarbeiten - abgezogen haben und nicht mehr zurückbringen wollen. Dann kam der Bericht vom US-Militär, dass im sogenannten "Blue Ribbon Report" wegen Sicherheitsmängel empfohlen wurde, die US-Atomwaffen in Europa zu "konsolidieren". Büchel war angeblich einer der Standorte, die als unsicher galten. Gleich darauf wurde berichtet, dass die letzten US-Atomwaffen aus Großbritannien abgezogen wurden.

Experten vermuten zudem, dass es an den türkischen Stützpunkten Balikesir und Murted/Akinci keine Atomwaffen mehr liegen, eventuell auch nicht auf dem italienischen Stützpunkt Ghedi Torre. Die Atomwaffen aus Araxos in Griechenland wurden bereits 2001 abgezogen. Wenn wir Recht haben, verbleiben damit 90 Atomwaffen in Incirlik in der Türkei, 50 in Aviano in Italien, 20 in Klein Brogel in Belgien, 20 in Volkel in den Niederlanden und 20 in Büchel in Deutschland. Das bedeutet: 200 Atomwaffen in Europa. Diese Zahlen sind - wie beim Lotto - ohne Gewähr, da die Informationen der Geheimhaltung unterliegen.

Die Stützpunkte Aviano und Incirlik sind US-Luftwaffenbasen und keine sogenannten "Host"-Standorte. Sie bilden auch die Südflanke zum Nahen Osten. Die 60 Atomwaffen in Belgien, Holland und Deutschland sind noch im "Host"-Land und gehören zur nuklearen Teilhabe. Das heißt: im Ernstfall werden die Atomwaffen in Büchel aus Tornados abgeworfen, die von deutschen Piloten geflogen werden.

Vor der Sommerpause gab es im deutschen Bundestag eine Debatte über die letzten Relikte des Kalten Krieges und es wurde sehr deutlich: nur die CDU/CSU-Fraktion argumentierte zusammen mit dem Verteidigungsministerium für die Beibehaltung dieser Atomwaffen. Von 13 RednerInnen haben Thomas Kossendey, Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Eckart von Klaeden und Ernst-Reinhard Beck von der CDU sowie Karl Theodor Freiherr zu Guttenberg von der CSU die US-Atomwaffen in Deutschland verteidigt. Aber: in der CDU/CSU gibt es noch keine übereinstimmende Linie. Eckart von Klaeden wollte uns glauben lassen, dass die Atomwaffen in Deutschland dafür da sind, um beispielsweise den Iran von einem atomaren Angriff auf Israel abzuschrecken. Man kann dies im Protokoll der Aktuellen Stunde vom 25. Juni 2008 nachlesen. Der zweite Grund, warum wir die Atomwaffen behalten müssen, ist - laut Thomas Kossendey - der, dass wir die NATO-Allianz damit zusammen halten.

Diese Argumente sind nicht sehr stichhaltig. Der einzige Grund, warum die Abstimmung der Anträge über einen Abzug der US-Atomwaffen an diesem Tag in keinen Erfolg für unsere Kampagne mündete ist, dass die SPD die große Koalition in dieser Frage nicht belasten wollte. Ende Januar gibt es eine neue Debatte über Atomwaffen im Bundestag. Die Hoffnung ist, dass sich die Sozialdemokraten dieses Mal von der Union absetzen werden.

Nach diesem Verhalten der SPD ist uns im Kampagnenrat klar geworden, dass wir bei unserer Lobbyarbeit nicht nur die CDU/CSU-Fraktion ansprechen müssen. Die SPD besetzt hier eine Schlüsselposition. Auch wenn sich Rolf Mützenich oder Uta Zapf öffentlich häufig für den Abzug aussprechen, stimmt die Fraktion noch anders ab. Und das obwohl die Forderung nach einem Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland ganz klar im SPD-Grundsatzprogramm von 2007 steht (Nachzulesen auf www.atomwaffenfrei).


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Quelle:
IPPNWforum | 115 | 09, S. 20-21
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2009