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BERICHT/987: Gerichtliches Nachspiel zu einem Suizid in Abschiebungshaft (Pro Asyl)


Pro Asyl - Presseerklärung vom 21. Juli 2009

Gerichtliches Nachspiel zu einem Suizid in Abschiebungshaft
Arzt wegen fahrlässiger Tötung auf der Anklagebank

PRO ASYL: Mustafa Alcali starb im Spinnennetz der Abschiebungsbetreiber


Am Donnerstag steht der Facharzt für Psychiatrie, Heinrich W., in Frankfurt am Main vor Gericht. Das Amtsgericht wird sich mit der Frage befassen müssen, welche Verantwortung der Arzt für den Suizid des Kurden Mustafa Alcali, der sich am 27. Juni 2007 mit Hilfe eines zerrissenen T-Shirts in Abschiebungshaft in der JVA Frankfurt am Main I erhängt hat, trägt. Angeklagt ist W. wegen fahrlässiger Tötung.

Der 30-jährige Mustafa Alcali, dessen Asylantrag abgelehnt war, hatte wenige Wochen vor seinem Tod versucht, sich auf offener Straße mit Benzin in Brand zu setzen. Er wurde daraufhin wegen Eigen- und Fremdgefährdung in die Psychiatrie Hanau eingewiesen. Trotz der vorläufigen Diagnose einer schizophrenen Psychose und des Hinweises der behandelnden Ärzte auf ein deutliches Suizidrisiko wurde seine Situation in der Folgezeit bagatellisiert. Der jetzt angeklagte Facharzt hat Alcali offenbar ein einziges Mal im Rahmen eines diagnostischen Gespräches gesehen. Ohne Rücksprache bei den vorbehandelnden Ärzten hielt er Alcali für gesund und wertete die dem Rechtsanwalt von Seiten des Klinikums Hanau mitgeteilte Diagnose und das darin attestierte Suizidrisiko als "Gefälligkeitsschreiben".

Auf die Anklagebank hätten nach Auffassung von PRO ASYL auch bürokratische Mittäter gehört, denn der Weg zur Fehldiagnose "keine Suizidgefahr" war ein langer. Außer einem willfährigen Arzt gab es ignorante Richter, die ihren Beitrag zur Katastrophe geleistet haben. "Wem einmal das Stigma des ausreiseunwilligen Ausländers angeheftet wird, der klebt im Spinnennetz der Abschiebungsbetreiber, die jeweils nur soviel wissen wollen, dass ihre Mission nicht gefährdet wird," so PRO ASYL-Referent Bernd Mesovic. Die 3. Zivilkammer des Landgerichts Hanau z.B. wird mit dem Vorwurf leben müssen, sich bei der Zurückweisung der sofortigen Beschwerde gegen die Abschiebungshaft, in der Alcali saß, einseitig auf den Befund des jetzt angeklagten Facharztes gestützt zu haben. Warum dieser trotz fortgeschrittenen Pensionsalters als Konsiliararzt der JVA Kassel I wirken durfte, ist ebenfalls klärungsbedürftig.

PRO ASYL hat den Fall im Juli 2007 recherchiert und eine Chronologie dessen veröffentlicht, was eine ignorante Justiz und willfährige Abschiebungsärzte vor Alcalis Tod getan oder unterlassen haben (siehe Anlage).

gez. Bernd Mesovic
Referent

Der Prozess findet am 23. Juli 2009 um 10.00 Uhr vor dem Amtsgericht Frankfurt am Main, Gebäude E, Saal 25 statt.


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Anlage:

Zum Suizid des Kurden Mustafa Alcali in der Abschiebungshaft in der JVA Frankfurt am Main I: Das Zusammenspiel zwischen ignoranter Justiz und willfährigen Abschiebungsärzten hat ein Opfer gefordert

Am Morgen des 27. Juni 2007 hat sich Mustafa Alcali, Kurde aus der Türkei, an seinem T-Shirt in einem Einzelhaftraum der JVA Frankfurt am Main erhängt. Eingeleitete Reanimationsmaßnahmen blieben erfolglos. Der Gefangene stand nicht unter Beobachtung, denn die behandelnden Ärzte der JVA Kassel I, wo Herr Alcali zuvor untergebracht war, waren zu dem Ergebnis gekommen, bei Herrn Alcali sei keine Suizidgefahr gegeben. Doch der Weg zur Fehldiagnose "keine Suizidgefahr" war ein langer. Ein Blick auf die Vorgeschichte lehrt das Gruseln. Wem einmal das Stigma des ausreiseunwilligen Ausländers angeheftet wird, der klebt im Spinnennetz der Abschiebungsbetreiber, die jeweils nur so viel wissen wollen, dass ihre Mission nicht gefährdet wird. Günter Anders hat diese gefährlichen Zeitgenossen beschrieben: "Als Arbeitende sind die Zeitgenossen auf Mit-Tun als solches gedrillt. Und jene Gewissenhaftigkeit, die sie sich anstelle ihrer Gewissens angeschafft haben (sich anzuschaffen, von der Epoche gezwungen wurden), kommt einem Gelöbnis gleich; dem Gelöbnis, das Ergebnis der Tätigkeit, an der sie teilnehmen, nicht vor sich zu sehen; wenn sie nicht umhin können, es vor sich zu sehen, es nicht aufzufassen; wenn sie nicht umhin können, es aufzufassen, es nicht aufzubewahren, es zu vergessen - kurz: dem Gelöbnis, nicht zu wissen, was sie tun."

Damit nicht vergessen wird, was sie getan und unterlassen haben, die folgende Chronologie:

15. Mai 2007: Der 30-jährige Mustafa Alcali übergießt sich auf offener Straße mit Benzin und droht, sich mit seinem bereits entzündeten Feuerzeug in Brand zu setzen. Er bespritzt umstehende Personen und bedroht sie. Von der herbeigerufenen Polizei wird er nach einem Fluchtversuch in Handschellen in die Psychiatrische Klinik Hanau eingeliefert. Wie sich aus einem Arztbrief des Klinikums vom 26. Juni 2007 ergibt, redet Herr Alcali sprunghaft und verworren, krümmt sich auf dem Boden. Verständliche Auskünfte gibt er nicht. Immerhin erfahren die Ärzte von der begleitenden Polizei, dass Herr Alcali abgeschoben werden solle. Familienangehörige teilen mit, er sei bereits zuvor in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen.

17. Mai 2007: Mit Beschluss des Amtsgerichts Hanau (Vormundschaftsgericht) wird Herr Alcali für die Zeit vom 17. Mai bis zum 15. Juni 2007 wegen "Eigen- und Fremdgefährdung" im psychiatrischen Klinikum Hanau untergebracht. Das Amtsgericht zitiert die vorläufige Diagnose: "schizophrene Psychose".

5. Juni 2007: Auf Anfrage des Rechtsanwalts Müller-Volck, der Herrn Alcali seit langem vertritt, teilt das Klinikum Hanau mit, dass eine zwangsweise Abschiebung des Patienten verbunden sei mit dem hohen Risiko einer akuten Verschlechterung seiner Erkrankung. Eine Abschiebung in die Türkei würde die Behandlungsprognose wesentlich verschlechtern und "auch das deutliche Risiko eines Suizids heraufbeschwören." Herr Alcali sei auf regelmäßige psychiatrische Konsultation als auch auf die regelmäßige Einnahme spezifischer Medikamente für die Dauer mindestens eines Jahres angewiesen. (Diese ärztliche Mitteilung legt der Rechtsanwalt dem Amtsgericht Hanau, dem Landgericht Hanau und dem Regierungspräsidium Darmstadt, zuständig für den Vollzug einer möglichen Abschiebung, vor.)

13. Juni 2007: Der Rechtsanwalt stellt einen weiteren Asylfolgeantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Gießen und trägt zur Begründung u.a. vor, dass bei seinem Mandanten eine schizophrene Psychose diagnostiziert worden sei. Deshalb müsse man davon ausgehen, dass im Fall einer Abschiebung schwerste gesundheitliche Beeinträchtigungen drohen.

15. Juni 2007: Der Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Hanau verhängt gegen Herrn Alcali Abschiebungshaft. Im Beschluss werden Teile der Asylakte referiert. Herr Alcali war bereits 1992 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, hatte seine Anerkennung als politischer Flüchtling beantragt. Die Rechtskraft der Ablehnung des Asylantrages sei allerdings erst knapp zehn Jahre später eingetreten, nämlich am 29. April 2004. Folgeanträge und eine Petition beim Hessischen Landtag seien erfolglos geblieben. Am 22. Mai 2007 habe Mustafa Alcali im Rahmen einer Sammelrückführung über den Flughafen Düsseldorf in die Türkei abgeschoben werden sollen. (Von der für den 22. Mai 2007 geplanten Abschiebung hatten Herr Alcali und sein Rechtsanwalt bis zum Tage der Verhängung der Abschiebungshaft keine Kenntnis.) Zuvor jedoch habe der Betroffene am 16. Mai 2007 in Hanau angedroht, sich und andere durch Übergießen mit Benzin in Brand zu setzen. Im Rahmen seiner richterlichen Anhörung durch den Vormundschaftsrichter habe der Betroffene zu Protokoll gegeben, dass es sich bei diesem Vorfall um eine "Show" gehandelt habe.

Interessant an dieser Behauptung ist, dass der Vormundschaftsrichter auf diese Weise offensichtlich einen schwer psychotischen Menschen, der sich auch im Klinikum Hanau widersprüchlich und unzusammenhängend geäußert hatte, als aussagefähig ansieht. Es dürfte die richterliche Sachkunde zumeist überfordern, bei Menschen, die sich oder jemand anderen bedrohen und sich im nächsten Moment wieder völlig ruhig verhalten, selbst zu beurteilen, ob die Drohung real ist, also unter bestimmten Umständen verwirklicht werden kann.

Immerhin bezieht sich der Ermittlungsrichter des Amtsgerichtes auf die ärztlichen Stellungnahmen zweier Ärzte des Klinikums Hanau, die dem Betroffenen das Vorliegen einer schizophrenen Psychose attestieren. Offenbar ohne weitere Rückfragen bei den behandelnden Ärzten des Klinikums, welche Behandlungsnotwendigkeiten weiter bestehen, verlässt sich der Ermittlungsrichter auf das Ergebnis eines Telefonats mit der antragstellenden Behörde: "Demgegenüber hat der Vertreter der antragstellenden Behörde in einem Telefonat mit dem Gericht bestätigt, dass der Betroffene im Justizkrankenhaus Kassel ausreichend ärztlich betreut und versorgt werden könne." Deshalb sei eine ärztliche Betreuung im Justizkrankenhaus gewährleistet. "Von dort wird auch zu entscheiden sein, ob bzw. wann der Betroffene reise- bzw. flugfähig ist."

16. Juni 2007: Herr Alcali wird in die psychiatrische Abteilung des Zentralkrankenhauses der JVA I nach Kassel verlegt.

18. Juni 2007: Mustafa Alcali wird dem Facharzt für Psychiatrie Wilmer von der JVA I konsiliarisch vorgestellt.

19. Juni 2007: Der Facharzt für Psychiatrie Wilmer teilt dem Rechtsanwalt telefonisch mit, dass Herr Alcali keine Erkrankung habe außer normaler Angst vor Abschiebung. Die ärztliche Mitteilung des Klinikums Hanau an den Rechtsanwalt vom 5. Juni 2007 sei als "Gefälligkeitsschreiben" zu werten.

21. Juni 2007: Der Facharzt für Psychiatrie Wilmer firmiert auf einem Briefkopf "Medizinisches Competence-Center Nordhessen" als Bearbeiter der Angelegenheit des Herrn Alcali. Dieser sei ihm im Rahmen seiner konsiliarärztlichen Tätigkeit am 18. Juni 2007 vorgestellt worden. Aus dem ärztlichen Kurzbericht des Klinikums Hanau gehe als Diagnose paranoide Schizophrenie hervor und weiter: "Im Verlauf des mit Herrn A. geführten diagnostischen Gesprächs wirkte er in seinen Aussagen geordnet. Es fanden sich keine Hinweise für formale oder inhaltliche Denkstörungen. Seine Stimmung war situationsbedingt herabgesetzt, die Konzentration und Aufmerksamkeit waren erhalten. Auch die gezielte Befragung des Herrn A. hinsichtlich der Hintergründe für die diagnostischen Erkenntnisse aus der Klinik in Hanau ergab keine Hinweise für deren Begründung. Daher betrachte ich die Aussagen und das Verhalten des Patienten als Ausdruck einer nachvollziehbaren Belastungsreaktion, also ohne Krankheitswert. Somit ist Herr A. sowohl reise- als auch abschiebefähig."

Der Facharzt hat offenbar die Ärzte des Klinikums Hanau zu ihren wochenlangen Behandlungserfahrungen oder gar zur Medikamentierung nicht befragt. Stattdessen fand ein - und offenbar nur ein einziges - diagnostisches Gespräch mit dem Patienten statt. Der Patient selbst wurde, so das Schreiben des Medizinischen Competence-Centers Nordhessen an das Landgericht Hanau, selbst zu den Hintergründen für die diagnostischen Erkenntnisse der Klinik befragt - ein im Umgang mit Menschen mit schweren psychischen Störungen sicher ungewöhnlicher Vorgang. Man stelle sich dies vor: Ein Facharzt für Psychiatrie befragt einen psychisch schwer Erkrankten, warum die vorbehandelnden Ärzte bei ihm zur Diagnose paranoide Schizophrenie gekommen sind. Die Ärzte, die die Diagnose gestellt haben, werden nicht kontaktiert. Es genügt kaum mehr als ein kurzer Blick auf den Patienten und ein - auf welcher Basis auch immer - geführtes "diagnostisches Gespräch". Es lässt sich vermuten, dass Herr A. nach medikamentöser Einstellung möglicherweise wieder annähernd symptomfrei war. Was dies jedoch für die Weiterbehandlung bedeutet hätte, hätte weiter abgeklärt werden müssen, selbstverständlich unter Einschaltung der behandelnden Ärzte aus Hanau.

Ohne diese Abklärung das Verhalten des Patienten als "ohne Krankheitswert" zu bezeichnen und diesen für reise- und abschiebefähig zu erklären, ist fahrlässig und widerspricht Grundregeln der ärztlichen Ethik und Kunst.

Ebenfalls am 21. Juni 2007: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnt den vor wenigen Tagen gestellten Asylfolgeantrag ab. Zur grundsätzlichen Behandelbarkeit psychischer Erkrankungen in der Türkei habe sich das Verwaltungsgericht Gießen bereits früher geäußert. Eine psychiatrische Behandlung sei dort grundsätzlich gewährleistet. Es sei deshalb nicht erkennbar, dass der Antragsteller aufgrund der vorliegenden Erkrankung in einer extreme Gefährdungslage geraten würde, die ihn mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde. Ob der Antragsteller aufgrund seiner aktuellen Behandlung möglicherweise reiseunfähig sei und ob eine Abschiebung tatsächlich ein deutliches Risiko eines Suizids heraufbeschwören würde, sei nicht Gegenstand des Asylfolgeverfahrens. Eine eventuelle Reiseunfähigkeit oder die Suizidgefahr sei allenfalls ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, das von der Ausländerbehörde zu beachten sei.

22. Juni 2007: Herr Alcali wird von Kassel in die JVA I in Frankfurt überstellt. Unbekannt ist, ob der JVA I die ärztlichen Diagnosen auf dem Transportschein oder im Rahmen eines Berichtes mitgeteilt wurden.

Am selben Tag: Der Rechtsanwalt teilt dem Landgericht Hanau in der Abschiebehaftsache Alcali mit, dass die Diagnose des Medizinischen Competence-Centers Nordhessen und der vorbehandelnden Ärzte weit auseinander liegen und beantragt, ein Obergutachten einzuholen oder die Ärzte, die die Stellungnahmen zu verantworten haben, zu laden oder zu hören.

25. Juni 2007: Das Landgericht Hanau, 3. Zivilkammer, weist die sofortige Beschwerde des Rechtsanwalts in der Abschiebehaftsache Alcali zurück. Ein Haftgrund im Sinne des Aufenthaltsgesetzes bestehe weiterhin. Es bestehe der begründete Verdacht, dass sich der Ausländer der Abschiebung entziehen wolle. Seine für den 22. Mai 2007 vorgesehene Rückführung habe aufgrund des Verhaltens von Herrn Alcali nicht durchgeführt werden können, weil dieser am 16. Mai 2007 damit gedroht hätte, sich und andere mit Übergießen durch Benzin in Brand zu setzen.

Dem kaum für sein Verhalten verantwortlich zu machenden Psychotiker wird hier sein Verhalten zur Last gelegt und umstandslos als Haftgrund gewertet. Die Bewertung des Vormundschaftsrichters, es habe sich bei dem Vorfall lediglich um eine "Show" gehandelt, wird erneut kolportiert, ohne dass zwischenzeitlich eine ernsthafte Aufklärung erfolgt ist. Ein Richter der zur Entscheidung berufenen Kammer des Landgerichtes Hanau, die aus drei Richtern besteht, stützt sich zur Beurteilung der Erkrankung von Herrn Alcali lediglich auf den Befund des Facharztes für Psychiatrie Wilmer vom 21. Juni 2007. Dessen ärztliche Stellungnahme, die Bejahung der Reise- und Abschiebungshaftfähigkeit, werde gestützt durch den Eindruck, den die Richter in der mündlichen Anhörung selbst gewonnen hätten. Herr Alcali sei vollständig orientiert und in der Lage gewesen, sachgerechte Erklärungen auf Fragen zu geben. "In Anbetracht der Eindeutigkeit der aktuellen ärztlichen Stellungnahme ist nach Auffassung der Kammer die Einholung eines Obergutachtens nicht veranlasst."

26. Juni 2007: Das Klinikum Hanau fertigt einen ausführlichen Arztbrief an das Zentralkrankenhaus der Justizvollzugsanstalt Kassel. Die Ärzte beziehen sich auch auf Vordiagnosen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Bürgerhospitals Friedberg, wo Herr Alcali bereits früher einmal in Behandlung war und schildern ausführlich die Symptome und den Weg, auf dem sie zu ihrer Diagnose gekommen sind. Nach Eintreffen der Berichte vorheriger stationärer und teilstationärer Behandlungen und der im Verlauf der Behandlung in Hanau festgestellten Symptome sei die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie als gesichert anzusehen. Immer wieder waren Mustafa Alcalis nächtliche Träume überwuchert von Folter- und Todesängsten, ebenso die Tagesgedanken. Er fürchtete bei einer Abschiebung seine Ermordung. Realängste und Wahnhaftes vermischten sich offenbar. Herr Alcali sollte am Ende der vierwöchigen Unterbringungszeit in Hanau an die Institutsambulanz der Psychiatrie in Friedberg überwiesen werden. Stattdessen wurde er in die Justizvollzugsanstalt Kassel verlegt.

Der Arztbrief des Klinikums Hanau dürfte in der JVA Kassel, wo sich Herr Alcali längst nicht mehr befand, erst in den folgenden Tagen eingegangen sein.

27. Juni 2007: Am Morgen erhängt sich Mustafa Alcali mit Hilfe eines zerrissenen T-Shirts an einem Heizungsrohr seiner Zelle. Offenbar war Herr Alcali ohne besondere Aufsicht geblieben, da ja nach Aussage der Ärzte der JVA Kassel nicht suizidgefährdet. Es gibt Hinweise, dass die von den Hanauer Ärzten für unabdingbar notwendig gehaltene medikamentöse Behandlung Mustafa Alcalis jedenfalls in den Tagen unmittelbar vor seinem Tod in der JVA Frankfurt am Main nicht weitergeführt wurde.


Ein unabwendbares Ereignis? Die Frage nach der Verantwortung.

Man fragt sich unwillkürlich, ab welchem Zeitpunkt die katastrophale Entwicklung unumkehrbar wurde. Die Verantwortung ist wieder einmal in viele Teile geteilt, zu befürchten ist, dass es am Ende wieder einmal keiner gewesen sein wird ... Viele hätten die Entwicklung verhindern können:

Der Facharzt für Psychiatrie Wilmer in Kassel hätte einfach zum Telefon greifen und die vorbehandelnden Ärzte in der Klinik in Hanau anrufen können, wie das jeder verantwortungsvolle Arzt tun würde. Er hätte daraufhin den ausführlichen Arztbrief abwarten können. Seine dezidierte Diagnose nach einem - offenbar einzigen - diagnostischen Gespräch dürfte methodisch und inhaltlich kaum sachgerecht sein.
Es fragt sich, ob das Medizinische Competence-Center Nordhessen, dessen Briefkopf hier verwendet wird, psychiatrische Stellungnahmen wie die des Facharztes für Psychiatrie Wilmer vom 21. Juni 2007 kontrolliert. Vermutlich hätte eine einfache Plausibilitätsprüfung schon Zweifel wecken müssen am Vorgehen und an der Diagnose.

Den Ermittlungsrichter beim Amtsgericht Hanau trifft der Vorwurf, am 15. Juni 2007 Abschiebungshaft verhängt zu haben und dabei zwar auf die ärztliche Diagnose des Hanauer Klinikums Bezug genommen zu haben, sich jedoch hinsichtlich der Folgebehandlung auf die telefonische Auskunft des Regierungspräsidiums verlassen zu haben, eine ärztliche Versorgung in Kassel sei möglich.

Die 3. Zivilkammer des Landgerichts Hanau wird mit dem Vorwurf leben müssen, sich bei der Zurückweisung der sofortigen Beschwerde gegen die Abschiebungshaft einseitig auf den Befund des Facharztes für Psychiatrie Wilmer vom 21. Juni 2007 gestützt zu haben.

Dass drei Richter glauben, ohne die Einholung eines Obergutachtens ihren in der mündlichen Anhörung gewonnenen Eindruck von Herrn Alcali der Entscheidung zugrundelegen zu können, ist in hohem Maße dilettantisch und verantwortungslos. Dass die Kammer die aus wenigen Zeilen bestehende Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie Wilmer für eindeutig hält ("in Anbetracht der Eindeutigkeit der aktuellen ärztlichen Stellungnahme ist nach Auffassung der Kammer die Einholung eines Obergutachtens nicht veranlasst"), ist ein Skandal. Ein Obergutachten oder die Ladung der behandelnden Ärzte aus Hanau hätte Klarheit schaffen können.


Es wird vermutlich noch einige Zeit dauern, bis die Kette der Verantwortungslosigkeit im einzelnen aufgeklärt ist. Zu vermuten ist, dass die JVA FFM I aufgrund des seltsamen Wirkens der Ärzte in der JVA Kassel I niemals über die bestehende Suizidgefahr bei Herrn Alcali aufgeklärt worden ist. Es steht zu befürchten, dass das Wirken eines einzigen Arztes - oder einer einzigen Stelle - genügte, sämtliche ärztlichen Vorbefunde vom Tisch zu wischen, auch wenn sie aus längerer ärztlicher Behandlung stammen. Sollte sich herausstellen, dass die ärztlichen Vorbefunde gar nicht oder nicht zeitnah zur Verlegung des Herrn Alcali aus Kassel nach Frankfurt mitversandt und geprüft worden sind und dies die Regel ist, dann dürfte das auch die Frage nach der Verantwortung des hessischen Justizministers Banzer aufwerfen. Nicht ausgeschlossen wäre dann nämlich, dass Vergleichbares wieder geschieht.

Hinweise für ein Fremdschulden hätten sich nicht ergeben, pflegen Staatsanwaltschaften in Todesermittlungsverfahren mitzuteilen. Ärztliches und juristisches Fremdverschulden hat es im Fall Alcali ohne Zweifel gegeben. Dass es Ärzte gibt, die ohne ein Telefongespräch mit den behandelnden Ärzten in wenigen Zeilen zur Reise- und Abschiebungshaftfähigkeit kommen, dass es Richter gibt, die solchen Diagnosen geradezu begierig folgen, sich dem Betroffenen gegenüber sitzend quasi ärztliche Kompetenzen per Augenschein anmaßen, dies alles ist einem politischen Klima geschuldet, das im Umgang mit Abzuschiebenden die Bereitschaft erforderlich macht, nicht wissen zu wollen, was man tut. Die Richter der 3. Zivilkammer des Landgerichts Hanau haben gewissenhaft gearbeitet - im Sinne von Günter Anders: Dem Gelöbnis verpflichtet, nicht zu wissen, was sie tun.

Bernd Mesovic
20. Juli 2007


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Quelle:
Pro Asyl - Presseerklärung vom 21. Juli 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2009