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FRAGEN/007: "Die Occupy-Bewegung wirkt als Denkanstoß" (spw)


spw - Ausgabe 6/2011 - Heft 187
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Occupy!
"Die Occupy-Bewegung wirkt als Denkanstoß"

Interview mit Dr. Annette Ohme-Reinicke

Das Interview führte Michael Reschke


SPW: Von manchen bereits als wohlmöglich größte soziale Protestbewegung seit 1968 euphorisch begrüßt, scheint die Occupy-Bewegung zeitgemäßer Ausdruck einer modernen und populären Kapitalismuskritik zu sein. Umreißen Sie doch bitte kurz den Entstehungszusammenhang und die Entwicklung der Bewegung.

OHME-REINICKE: Der Aufruf und Slogan "Occupy Wall Street!" stammt aus der Juli-Ausgabe des kanadischen Magazins "Adbusters", das den Konsumismus der westlichen Gesellschaften auf's Korn nimmt. Zwei Monate später kam die Bewegung ins Rollen. Am 15. Oktober fanden weltweit in fast 1000 Städten Demonstrationen statt, die das weltweite Finanzsystem kritisierten. Am 17. September, dem Verfassungstag der USA, besetzten Aktivisten den Zuccotti Park in Manhatten nahe der Wall Street. Bald campierten in über 90 Städten weltweit zahlreiche Protestierer/-innen gegen Kapitalismus und soziale Ungerechtigkeit. Die Aussage "Wir sind die 99 Prozent" drückt das Selbstverständnis der Aktivisten aus, nämlich zu denjenigen zu gehören, die an einer Umverteilung von unten nach oben leiden. Die Demonstranten richten sich dagegen, dass eine immer kleiner werdende Minderheit den Großteil der ökonomischen Produktionsmittel und der Macht besitzen. Die Zustimmung ist groß. Als "Adbusters" im Oktober dazu aufrief, für eine Finanztransaktionssteuer auf die Straße zu gehen, trugen selbst die Unicef, Greenpeace und Friends of the Earth oder der Nobelpreisträger Paul Krugman diesen Aufruf mit. Zu einem viel gelesenen Buch gehört Winner-Take-All Politics des Yale-Professors Jacob Hacker.

Obgleich die "Occupy-Bewegung" scheinbar plötzlich da war, gehen solch breiten Demonstrationen Diskussionsprozesse und Initiativen voraus. Sie schaffen Netzwerke und bekommen - wenn sich der Unmut angesammelt hat - Zulauf. Bereits 2008 gab es Proteste gegen den Finanzkapitalismus. Es beteiligten sich aber nur Wenige. Im Sommer 2011 protestierten dann Tausende in Europa dagegen, dass den Banken Milliardensummen zur Verfügung gestellt werden, während gleichzeitig bei Renten und Sozialabgaben gespart wird. Ebenfalls voraus gingen die Besetzungen öffentlicher Plätze etwa in Israel, deren Funke die Erhöhung eines Käsepreises war und die sich gegen eine als ungerecht empfundene Sozialpolitik richtete. In Spanien und Griechenland war die Bewegung der "Indignados" entstanden, die sich gegen die etablierte Politik richtete. Schließlich übermittelte der "arabische Frühling" Anfang 2011 die Botschaft, dass man sich ungerechter Herrscher tatsächlich entledigen kann. Auch die Redaktion von Adbusters war von der Bewegung in Tunesien inspiriert. Am 15.11. wurde der Zuccotti Park in New York wie andere Camps in den USA zwar geräumt, aber dennoch scheint ein globales Aufbegehren stattzufinden, das sich gegenseitig Dynamik verleiht.

SPW: Was zeichnet die deutschen Occupy-Aktivitäten aus?

OHME-REINICKE: In Deutschland wurden vor allem die Begrenzung der Macht der Banken, die Einführung von Finanztransaktionssteuern und ein Verbot undurchsichtiger Finanzprodukte gefordert.

Die deutsche Occupy-Bewegung ist ein Sammelsurium von Attac über Campact bis zu gewerkschaftlichen Organisationen.

Die Proteste begannen am 15. Oktober. Es demonstrierten bis zu 50.000 Menschen. Eine Woche später war die Zahl der TeilnehmerInnen in 25 Städten geringer als zuvor und am 29.10. reduzierte sich die Anzahl abermals. Während die Zahl der Demonstranten zwar zurückgeht, sind öffentliche Plätze jedoch noch okkupiert. Diese in Besitz genommenen öffentlichen Räume dienen als Diskussionsforen über die erlebte Wirklichkeit und über Möglichkeiten zukünftiger Politik. Bestenfalls wächst ein Bewusstsein davon, dass Politik gestaltet werden kann. In Oakland etwa wurde ausführlich die Möglichkeit eines Generalstreiks diskutiert.

Außerdem haben die Proteste eine Diskussion über die ungleiche Verteilung des Reichtums bewirkt. Sie schärften das öffentliche Bewusstsein dafür, dass Verarmung und Prekarisierung keine individuellen Probleme sind. Erste Untersuchungen in den USA belegen: Seit der Occupy-Bewegung hat die Zahl der Medienberichte über Armut und Vermögensverteilung rapide zugenommen. Ob der Trend abnehmender TeilnehmerInnen anhält, wird sich zeigen. Soziale Bewegungen sind oft totgesagt worden. Etwa die Anti-AKW-Bewegung zu Beginn der 90er Jahre. Oder die Auseinandersetzungen um "Stuttgart 21". Hier wollte das Aktionsbündnis die Proteste im Frühjahr 2010 schon absagen. Plötzlich jedoch kamen Zehntausende und es entfaltete sich eine neue Dynamik. Das gehört zu Sozialen Bewegungen: Man kann sie nicht prognostizieren.

SPW: Von welchen sozialen Gruppen wird die Occupy-Bewegung getragen, welche Motive treiben sie an und welche Programmatik und Strategie lassen sich identifizieren?

OHME-REINICKE: Die Aktivisten stammen aus allen Teilen der Gesellschaft. Arbeitslose, Beamte, Auszubildende, alles ist vertreten. Dabei besteht die Programmatik und Strategie der Occupy-Bewegung darin, dass sie keine hat. Vielmehr setzt sich eine Menge ins Licht der Öffentlichkeit, die unter den Verhältnissen leidet. Das tragende Motiv ist es, dem Unmut über die erlebte Krisensituation Ausdruck zu geben. Diese wird völlig unterschiedlich erlebt: Furcht vor dem Verlust des Ersparten, als Angst um die Rente aufgrund des Zusammenbruchs der Rentenfonds, als Verminderung des Lohns, als Unsicherheit des Arbeitsplatzes oder als Verdichtung der Arbeitszeit. Der Ausdruck "Beschleunigung" als Bezeichnung für eine Zeiterfahrung ist nicht umsonst populär geworden. Viele haben das Gefühl, erstens den gesetzten Leistungsanforderungen nicht mehr nachkommen zu können und zweitens die vorsichgehenden Veränderungen, die scheinbar von außen hereinbrechen, nicht wirklich zu verstehen. Sie sind verunsichert. Nach einer repräsentativen Umfrage geben etwa 66 Prozent an, nicht zu begreifen, worum es sich bei der Finanzmarktkrise tatsächlich handelt. Diese Unsicherheit sucht nach Formen der Artikulation.

Dabei drückt Occupy! durchaus ein politisches Selbstverständnis aus: Praktiziert wird die Besetzung öffentlicher Räume. Plätze und Straßen werden zu Foren. Es sind die Menschen selbst, die sich als Öffentlichkeit formieren. Insofern kann man die Occupy-Bewegung auch als eine Art Reflex auf die Privatisierungsschübe öffentlicher Güter der letzten Jahre sehen. Privat komme ja von privare, berauben. Das vereinzelte neoliberale Marktsubjekt hebt seine Vereinzelung auf und demonstriert, dass das scheinbar private Leiden an den Verhältnissen politisch ist.

SPW: Eine immer wieder aufkommende Frage bei Betrachtungen der Occupy-Bewegung ist ihr Verhältnis zu etablierten Großorganisationen und insbesondere Parteien.

OHME-REINICKE: Ich denke, da unterscheidet sich die Occupy-Bewegung nicht sehr von anderen sozialen Bewegungen, die alle außerhalb von Parteien entstanden sind. Gerade die SPD und die Grünen, auf Umwegen auch die Links-Partei, sind selbst Produkt sozialer Bewegungen. Sie drücken die Überzeugung aus, dass Parteien Probleme nicht vehement genug in Angriff nehmen. Allerdings verweist die Occupy-Bewegung auch auf ein grundsätzliches Problem. Parteien sind einer bestimmten Logik verhaftet. Im Vordergrund steht die nächste Wahl, der politische Machtgewinn oder -verlust, häufig sollen die Interessen von Lobbyisten bedient werden. Politische Einzelfragen, wie etwa die, ob ein bestimmtes Gesetz verabschiedet, ob ein technisches Großprojekt gebaut werden soll oder nicht, werden von Parteien - und das liegt nun mal in der Logik ihres Agierens, ihres Politikverständnisses - in der Regel primär unter dem Gesichtspunkt des Wählerstimmengewinns behandelt. Einzelfragen stehen oftmals nicht wirklich zur Disposition, sondern geraten vielmehr zu einer Frage danach, wie ein Projekt oder ein Gesetz in Kampagnen verpackt und "politikverträglich" gestaltet oder "der Öffentlichkeit kommuniziert" werden kann. So gewinnen die BürgerInnen oftmals den Eindruck, sie würden bloß für Parteientaktik benutzt und wenden sich ab von dem, was man etablierte Politik - oder wie Sie sagen "Großorganisationen" - nennen könnte. Allerdings ist das Verhältnis durchaus ambivalent: Einerseits sind die Proteste getragen von der Überzeugung, dass die etablierte Politik die BürgerInnen nicht hinreichend vertritt, andererseits richten sich Forderungen und Aufrufe der Protestbewegung, ja Hoffnungen auf Veränderungen oft doch an die Parteien. In der Reaktion auf Petitionen werden dann wiederum Erfahrungen mit der "politischen Klasse", so Erhard Eppler, gemacht, die Protestbewegungen an Parteien binden oder von ihnen entfernen können. Gleichzeitig wirken Protestbewegungen in die Parteien hinein, indem sie eine Auseinandersetzung mit Themen erzwingen, die möglicherweise vernachlässigt wurden.

SPW: Historisch wurden Kapitalismuskritik und entsprechende programmatische Anliegen von Akteuren der Arbeiterbewegung politisch formuliert und getragen. Wie sollten Gewerkschaften und Sozialdemokratie der Bewgung begegnen?

OHME-REINICKE: Da müsste man zunächst einmal darüber nachdenken, warum sich die Aktivisten der Occupy-Bewegung offenbar von Gewerkschaften und der Sozialdemokratie nicht hinreichend vertreten sehen und wo die inhaltlichen Differenzen liegen. Die größte inhaltliche Konvergenz allerdings dürfte in der Frage nach einer gerechteren Verteilung liegen. Ich denke, die Occupy-Bewegung weist darauf hin, dass seitens der Gewerkschaften und Sozialdemokratie hier einiges versäumt wurde und wirkt diesbezüglich als Denkanstoß.


Dr. Annette Ohme-Reinicke ist Soziologin und Lehrbeauftragte an der Universität Stuttgart mit einem Forschungsschwerpunkt zum Verhältnis Sozialer Bewegungen und technischem Fortschritt.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2011, Heft 187, Seite 8-10
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Februar 2012