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INTERNATIONAL/125: Afghanistan - Friedensarbeit nach Graswurzelart, lokale Gemeinschaften im Fokus (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. September 2012

Afghanistan:
Friedensarbeit nach Graswurzelart - Lokale Gemeinschaften im Fokus

von Giuliano Battiston



Kabul, 12. September (IPS) - Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Fall der Taliban befindet sich Afghanistan nach wie vor im Krieg. Friedensaktivisten machen für das bisherige Scheitern der Friedensbemühungen einen Kommunikationsmangel im Umgang mit der Landbevölkerung verantwortlich.

Sie haben im Vorfeld der Vollversammlung zur Förderung einer Friedenskultur am 14. September einen Paradigmenwechsel gefordert. Während Regierungsvertreter angesichts des für 2014 anvisierten Abzugs der internationalen Streitkräfte neue Anstrengungen unternehmen, mit den regierungsfeindlichen Gruppen ins Gespräch zu kommen, sind sie verstärkt auf der Graswurzelebene im Einsatz.

Die Friedensorganisationen halten die staatlichen Versuche, die Taliban in den Friedensprozess einzubinden, für wenig erfolgreich. "Ich bin nicht sehr optimistisch, was den Frieden angeht", meint Sima Samar, Leiterin von Afghanistans Unabhängiger Menschenrechtskommission im IPS-Gespräch. "Es gibt derzeit eine Art negativen Verhandlungswettbewerb mit viel zu vielen Akteuren, die versuchen, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Außerdem ist unklar, wer mit wem warum und worüber sprechen soll."


Soziale Dimension des Krieges berücksichtigen

Sie fürchtet, "dass wir unsere Zeit verschwenden, solange wir nicht die Mechanismen spezifizieren, die wir brauchen, um diesem Land den Frieden zu bringen". Es sei falsch, den bewaffneten Konflikt als eine rein politische Angelegenheit zu betrachten. Der Krieg habe auch eine soziale Dimension. "Diese Tatsache zu ignorieren, wird dazu führen, dass wir nur ein kurzlebiges Abkommen und keinen wirklichen nachhaltigen Versöhnungsprozess in Gang bringen werden."

Robert Templer, der Chef des Asien-Programms der 'International Crisis Group', hatte im März kritisiert, dass der rhetorische Ruf nach Gesprächen mit dem Feind die Regierung in Kabul und deren internationale Verbündete im Umgang mit den Aufständischen zu verzweifelten und gefährlichen Schritten veranlasst habe.

Analysten zufolge darf bei all den Friedensbemühungen nicht vergessen werden, dass internationale Mächte wie Pakistan, Iran und USA ihr eigenes Süppchen kochen und vor allem eine "politische Souveränität über Afghanistan" anstreben. "Ich glaube, der afghanische Krieg ist längst zu ihrem Krieg geworden", meint Mohammed Saeed Niazi, Direktor des Zentrums für Zivilgesellschaft und Entwicklung in Kabul.

Es gelte vor allem den internen Faktor zu berücksichtigen. "Wir haben Frieden nötiger als ein politisches Abkommen", meint Niazi. Während der letzten Jahrzehnte habe sich in den Köpfen der Menschen eine Kultur des Krieges festgesetzt. "Wir müssen dafür sorgen, dass der Friedensgedanke unsere Familien und lokalen Gemeinschaften erreicht. Der Mangel an gegenseitigem Verständnis hat sämtliche sozialen Bindungen zerstört. Dieses Vertrauen und diese Bindungen müssen wir wiederherstellen."

Etliche afghanische Organisationen legen den Schwerpunkt ihrer Arbeit in diesem Sinne auf Maßnahmen der Friedenserziehung. "Wenn wir Frieden und Versöhnung wollen, müssen wir die lokalen Gemeinschaften mobilisieren, damit sie sich pro-aktiv am Aufbau einer gemeinsamen Zukunft beteiligen", so Idrees Zaman, Geschäftsführer der nichtstaatlichen Organisation 'Zusammenarbeit für Frieden und Einheit' (CPAU).

"Bei unseren Feldforschungen ist uns aufgefallen, dass es zwischen lokalen und nationalen Konflikten einen Zusammenhang gibt. Die lokalen Konflikte werden normalerweise instrumentalisiert und politisiert und dadurch zur Quelle eines größeren und radikaleren Konflikts. Das ist der Grund, warum wir uns dafür einsetzen, dass Friedenserziehung Teil des Schulunterrichts in den ländlichen Gebieten wird."

Es gibt eine ganze Reihe von Organisationen, die sich auf lokaler Ebene für den Frieden engagieren. "Die Aufständischen argumentieren, dass sie den Konflikt beenden können, wenn sie erst das Vertrauen der Menschen genießen. Doch tatsächlich käme es zu einer fatalen Machtverschiebung zu ihren Gunsten", warnt Asif Karimi, Projektmanager des Verbindungsbüros TLO, einer in Kabul ansässigen Organisation.

"Würden hingegen die lokalen Gemeinden in die Lage versetzt, ihre eigenen Probleme unabhängig von externen Akteuren zu lösen, wäre den Aufständischen der Boden und die Möglichkeit genommen, ihre Machtbasis auszubauen", meint der Experte. Der lokale Ansatz verspreche nicht nur den aktuellen Krieg zu beenden, sondern künftige Konflikte zu vermeiden.

Shura-Lokalrat des Dorfes Zarshay in der Provinz Faryab - Bild: © Giuliano Battiston/IPS

Shura-Lokalrat des Dorfes Zarshay in der Provinz Faryab
Bild: © Giuliano Battiston/IPS

Auch die 1990 gegründete Sanayee-Entwicklungsorganisation (SDO), eine der ältesten Gruppen Afghanistans, hat sich auf die Friedensarbeit in den Gemeinden verlegt. "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Friedensabkommen, die Politiker, Militärs und Diplomaten zustande bringen, nicht lange halten", meint der SDO-Chef Raz Mohammed Dalili. "Vielmehr kommt es zu einer Fortsetzung der Gewalt, die wiederum die Gründe für eine Fortsetzung der Kämpfe liefert."


Friedenserziehung an den Schulen

Die Gruppe führt derzeit ein Friedenserziehungsprojekt an den islamischen Madrasa-Schulen durch. "Es ist wichtig, sich mit den jungen Madrasa-Schülern auseinander zu setzen, die bislang außen vor gelassen wurden", meint Dalili.

"Friedenserziehung wirkt wie ein Antibiotikum (gegen Gewalt). Wir brauchen eine Medizin aus dem Wirkstoff, Menschen zuzuhören", sagt der Friedensaktivist. "Der Konflikt nährt sich aus einer tiefen Kluft zwischen Regierung und den Bürgern, aus der Abwesenheit von Kommunikation. Wir hoffen, hier Abhilfe zu schaffen."

Ali Wardak, afghanischer Kriminologe an der britischen Universität von Glamorgan, der sich häufig zu Forschungszwecken in seinem Heimatland aufhält, ist überzeugt, dass es eine Reihe kultureller und sozialer Instrumente gibt, um dem ursprünglich aus Pakistan kommenden Taliban-Problem beizukommen.

"Die afghanischen Kämpfer sind Menschen, die Leid erfahren haben, die ausgegrenzt wurden und die über keine Kanäle verfügen, sich Gehör zu verschaffen. Der Krieg hat sie radikalisiert. Um einen Reformprozess abzuschließen, braucht es vielleicht 20 Jahre. Es wird Zeit, die Strategie zu ändern." (Ende/IPS/kb/2012)


Links:
http://www.aihrc.org.af/
http://www.crisisgroup.org/en/regions/asia/south-asia/afghanistan/221-talking-about-talks-toward-a-political-settlement-in-afghanistan.aspx
http://en.futurepeace.org/the-civil-society-development-center-csdc/
http://www.tloafghanistan.org/
http://www.sanayee.org.af/english/index.php?option=com_content&view=article&id=51&Itemid=18
http://www.cpau.org.af/
http://www.ipsnews.net/2012/09/peace-in-afghanistan-the-civil-society-way/

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. September 2012