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INTERNATIONAL/185: "Ich habe hier alles, was mir lieb ist" - Somalier finden in der Türkei eine neue Heimat (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 29. Juli 2014

Flüchtlinge: 'Ich habe hier alles, was mir lieb ist' - Somalier finden in der Türkei eine neue Heimat

von Hannah Tayson



Istanbul, 29. Juli (IPS) - In einem Wirrwarr aus engen Gassen im Istanbuler Stadtteil Kumkapi befindet sich eine heruntergekommene Straße, in der sich Laden an Laden reiht, mit kleinen Wohneinheiten darüber. Autos bahnen sich ihren Weg, auf den Gehwegen drängen sich die Menschen. Nahrungsmittelstände und auf dem Boden ausgebreitete Decken mit Waren warten auf Kundschaft. Männer stehen in Gruppen beieinander. Einige hocken auf Eimern, andere lehnen an den Ladenfenstern, ins Gespräch vertieft. Irgendwie strahlt die Szene eine heitere Gelassenheit aus.

Die Straße ist die Heimat afrikanischer Flüchtlinge. Dass es vorwiegend Somalier sind, hat der Gasse den Namen Somalia-Straße eingebracht. Eine gut funktionierende Mund-zu-Mund-Propaganda und die engen Familienbande erklären die Konzentration von Menschen, die aus politischen Gründen ihre Heimat am Horn von Afrika verlassen haben oder vor den häufigen Naturkatastrophen geflohen sind, an diesem Ort.

Istanbul ist zu einer Anlaufstelle von Somaliern geworden, die nach Angaben von Migrationsexperten weiter nach Australien, Kanada oder die USA wollen. In der Somalia-Straße herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, was es schwierig macht, die hier lebenden Menschen zahlenmäßig zu erfassen. Es dürften mehrere Hundert sein.


Viele kommen, viele gehen

Der 30-jährige Dalmar und sein 20-jähriger Bruder Amet sind vor einem Monat angekommen. Sie teilen sich mit zwölf weiteren Flüchtlingen ein kleines Appartement. Derartige Arrangements sind hier die Regel. Es kommt vor, dass 20 bis 30 Menschen die winzigen Behausungen teilen. Doch die meisten wollen weg aus Istanbul. "Hier sind die Lebensbedingungen schlecht", meint Dalmar. "Istanbul ist teuer, und es ist sehr schwer, einen Job zu finden."

Das türkische Arbeitsrecht macht es für Flüchtlinge nicht leicht, eine bezahlte Beschäftigung zu finden. Demnach müssen die Arbeitsuchenden einen Pass und eine Aufenthaltsgenehmigung vorweisen, was viele nicht können. Das erklärt, warum die meisten, wenn überhaupt, illegalen Arbeiten nachgehen. Schlecht bezahlte Hilfsjobs sind die Regel.

Der 31-jährige Liban lebt seit vielen Jahren in der Türkei. Er habe bereits eine Reihe von Handlangerjobs übernommen, erzählt er. Seiner Meinung ist die Sprachbarriere zwischen dem Türkischen und dem Arabischen das größte Arbeitsbeschaffungsproblem der Flüchtlinge. Den meisten Somaliern gefällt es in Istanbul. Von der Lokalbevölkerung werden sie freundlich aufgenommen oder von kurdischen Ladenbesitzern beschäftigt.

In der Somalia-Straße gibt es die Katip-Kasim-Moschee, die im Vergleich zu den anderen Gebetshäusern der Stadt eher unscheinbar ist. Hier arbeitet Muammer Aksoy seit 19 Jahren als Imam. Er hat den Wandel in der Gemeinde mitverfolgt. Dieser Teil Istanbuls sei schon immer ein Anlaufpunkt für Flüchtlingsminderheiten gewesen, berichtet er. Zunächst seien die Kurden aus den Osten der Türkei gekommen, später, in den 1980er und 1990er Jahren, die Rumänen. Inzwischen handele es sich bei den Neuzugängen vor allem um Afrikaner, wobei die meisten in den letzten fünf Jahren angekommen seien.

Im heiligen Monat Ramadan ist die Somalia-Straße ein Ort, der die Menschen verbindet. Somalier sind sehr gläubige Muslime. Nach Sonnenuntergang füllt sich der Hof der Katip-Kasim-Moschee mit Menschen, die sich hier zum allabendlichen Fastenbrechen einfinden.

Imam Aksoy hat die gemeinschaftliche Einnahme des Abendessens vor acht Jahren eingeführt, nachdem er gesehen hatte, wie ein Somalier nach Sonnenuntergang mit einem trockenen Stück Brot vorlieb nehmen musste und das Wasser vom Boden eines Brunnen trank, in dem die Gläubigen vor Betreten der Moschee ihre Füße wuschen.

"Es liegt in meiner Verantwortung als Imam, mich um meine Gemeinschaft zu kümmern", meint Aksoy. "Ich unterscheide die Menschen nicht. Jeder ist willkommen." Der Imam hat die Ladenbesitzer reihum mit der Vorbereitung des Abendessens für jeweils 300 Personen beauftragt. Alle werden satt.

Arzu ist ein Freund der Familie des Imam. Auch er hat den Wandel in der Gemeinde miterlebt. "Die Flüchtlinge kommen hierher, weil sie gehört haben, dass man sich hier um sie kümmert", sagt er.


Junge türkisch-somalische Freundschaft

Die Türkei und Somalia verbindet eine ungewöhnliche Freundschaft. Wie aus einem Bericht des Norwegischen Zentrums für Friedensaufbau hervorgeht, hat die Türkei in Afrika und vor allem in Somalia Netzwerke zur Förderung von Friedensmaßnahmen und humanitärer Hilfe aufgebaut. Die Türkei profitiere, indem sie international an Ansehen gewinne, so das Zentrum.

"Die Beziehung zwischen Somalia und der Türkei ist jung. Sie entstand 2011", berichtet Dalmar. "Inzwischen gibt es Stipendien und Programme für Studenten. Somalia erhält zudem mehr Hilfsmittel von der Türkei als jedes andere Land Afrikas. 2011 stellte die Türkei 93 Millionen US-Dollar bereit. Darüber hinaus kamen 2013 1.500 somalische Studenten in den Genuss eines Stipendiums, dass sie zum Studium an der öffentlichen Universität von Istanbul befähigt. Der 25-jährige Abdifitah ist ein solcher Stipendiat. "Istanbul hat mir die Chance gegeben, zu lernen", sagt er.

In jüngster Zeit ist der Trend zu beobachten, dass somalische Flüchtlinge in die türkische Hauptstadt Ankara ziehen, weil es dort einfacher ist, Arbeit zu finden. Darüber hinaus sind die Mieten günstiger als im dicht besiedelten Istanbul. Auch Liban lebt mit seiner Familie inzwischen in Ankara. Er verdient sich sein Geld als Übersetzer für die lokale afrikanische Fußballliga Istanbuls. Auf die Frage, ob er gern woanders leben würde, schüttelt er den Kopf. "Als ich jünger war, wollte ich unbedingt in die USA. Heute jedoch könnte man mir einen US-Pass schenken, ich würde ihn nicht nehmen", meint er. "Ich habe hier alles, was mir lieb ist." (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/07/somali-refugees-find-an-unlikely-home-in-istanbul/

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IPS-Tagesdienst vom 29. Juli 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2014