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INTERNATIONAL/199: Indiens Kampagne für das Recht auf Informationsfreiheit (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 132, 2/15

Information ist Macht
Indiens Kampagne für das Recht auf Informationsfreiheit

Von Claudia Dal-Bianco


Die indische Aktivistin Aruna Roy(1) kämpft für eine gerechte Gesellschaft. Sie ist bekannt für ihre Bemühungen zur Bekämpfung von Korruption und Förderung von Transparenz. Ihr gelang es 2005, mit einer gewaltfreien, außerparlamentarischen Bewegung ein in der Verfassung verankertes Recht auf Information durchzusetzen. Frauen spielen eine wichtige Rolle in ihrer Bewegung - als Bäuer_innen, Arbeiter_innen und Aktivist_innen. Aruna Roy hat erfolgreich die Basisdemokratie mit nationalen Entwicklungen verknüpft und somit Transparenz und Armutslinderung auf die politische Tagesordnung gesetzt.


Aruna Roy, geboren 1946, wächst in einem unabhängigen Indien auf; in einem Elternhaus, von dem sie selbst sagt, dass es progressiv war und keinerlei Tabus hatte. Sie will nicht als Ehefrau enden, deshalb geht sie in den öffentlichen Dienst, den sie nach sieben Jahren wieder verlässt. Aruna Roy: eine indische Aktivistin, die gebildet und aus gutem Haus ist und sich für Arbeiter_innen einsetzt. Warum?


Der Weg zur Information

"Veränderung passiert nicht in der Bürokratie", meint Aruna Roy. Sie selbst sah, dass die Bürokratie nur sozialem Status diente und sich die Macht in ihr konzentrierte. Die Hierarchie war zu mächtig für sie. "Du musst zuerst zuhören, bevor du mit Menschen arbeitest. Ich lernte Politik für die Arbeiter_innenklasse von meiner Lehmhütte aus." In den 1970er-Jahren lebte sie auf dem Land und dachte, dass sie nur dort in der Nähe von Arbeiter_innen sein und somit ihre Anliegen verstehen könnte. Gemeinsam mit anderen Aktivist_innen gründete sie Mazdoor Kisan Shakti Sangathan (MKSS) - eine Bürger_innenrechtsorganisation, die sich für Arbeiter_innen und Bäuer_innen einsetzt.

Finanzielle Förderungen wollten sie nicht - weder von indischen Institutionen noch von internationaler Seite. Sie wollten unabhängig sein. "Die indische Regierung hat sich verkauft. Sie ist abhängig von internationalen Förderungen. Wir wollen autonom bleiben", so die Aktivistin. Viele Bewegungen in Indien nehmen aus demselben Grund wie MKSS keine Förderungen an. Das MKSS hat ein zentrales, hierarchiefreies Komitee, um Beschlüsse zu fassen. Die Organisation wurde zum Zentrum eines wichtigen politischen Kampfes.


Das Recht auf Information

Wie kann eine lokale Organisation mittels einer Kampagne und nur weniger Menschen ein Gesetz erkämpfen? "Hungerstreiks, Sitzstreiks und andere öffentliche Aktionen - das kennt man von Indien. Alles passiert draußen. Die meisten, die auf die Straße gingen, waren Frauen. Die Streiks auf den Straßen waren unzählbar. Von 1996 bis 2001 waren wir 200 bis 350 Tage auf der Straße. Wir haben mit allen Menschen gesprochen und sind auf der Straße gesessen", so Aruna Roy. Die Information muss transparent sein, weil Information Macht ist - das ist ein wichtiges Prinzip ihrer Kampagne "Recht auf Informationsfreiheit".

Schon 1994 forderte MKSS, Finanzen von lokalen Regierungsinstitutionen offenzulegen. Aber da gab es noch keine rechtliche Handhabe dazu. Begonnen hat alles im ländlichen Rajasthan, von wo aus MKSS den Kampf gegen Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch führte. Dieser lange und intensive politische Kampf auf basisdemokratischer Ebene entwickelte sich schließlich zu einer landesweiten Kampagne, deren Ziel die Verabschiedung eines starken Gesetzes war.

Die Bewegung wurde von Menschen aus armen Bevölkerungsschichten inspiriert, unterstützt und geführt. Denn sie waren es, die die negativen Folgen von Korruption tagtäglich am eigenen Leib spürten. "Für diese Leute ging es daher vor allem um Gerechtigkeit und ein Leben in Würde. Korruption war lediglich ein Symptom von Ausbeutung und Ausgrenzung." Der Kampf gegen Korruption war nichts Neues. Weltweit einzigartig war bis zu diesem Zeitpunkt, dass das Recht von armen Bürger_innen eingefordert wurde.

1996 hatte die Kampagne bereits eine größere Breitenwirkung erreicht. Es zeigte sich, dass es eine Basisbewegung war, nachdem eine Aktivistin zur Leitfigur der Kampagne geworden war: Sushila, die nur die Pflichtschule abgeschlossen hatte, schaffte es, Inhalte und Ziele allgemein verständlich zu kommunizieren: "Wenn ich meinen Sohn mit zehn Rupien auf den Markt schicke, dann frage ich ihn nachher, was er mit dem Geld gemacht hat. Genauso kann ich auch unsere Regierung fragen. Die Frage danach, wohin unser Geld geht, betrifft jede/n."

Damit kam es zum gesellschaftlichen Wandel. Viele verstanden, dass das Persönliche politisch ist. "Ich kann hinterfragen, welche Politiker_innen wann wohin fliegen und wieso sie das machen. Information ist Macht. Es ist wichtig zu wissen, was gerade passiert." Immer mehr Menschen brachten sich ein, Frauen beteiligten sich. Nach einem mehr als zehn Jahre anhaltenden Kampf wurde schlussendlich 2005 das Recht auf Informationsfreiheit vom Parlament beschlossen.


Die praktische Anwendung

Wie funktioniert das Gesetz in der Anwendung? "Du gehst zu einer Stelle, zahlst zehn Rupien, stellst eine Anfrage und bekommst eine datierte Rechnung", erklärt Roy das Prozedere. "Nach dreißig Tagen solltest du die Information bekommen. Wenn nicht, dann muss die bearbeitende Person eine Strafe aus der eigenen Tasche bezahlen." Es gibt eine starke Hierarchie in dem System. Diese Form der öffentlichen Überprüfung staatlicher Ausgaben und Projekte fand als Form direkter demokratischer Teilhabe großen Anklang.

Neben der schriftlichen Anfrage ist der social audit ein wichtiges Instrument für Transparenz: Beauftrage untersuchen die Lage vor Ort. Aruna Roy: "Das haben viele internationale Institutionen von uns übernommen."


Ein harter Kampf

Im Laufe der Kampagne kam es zu Toten aufgrund erheblicher Widerstände der Gegner_innen. Inzwischen hat sich die breite Masse der Bevölkerung das Recht auf Informationsfreiheit angeeignet. Frauen nutzen es für feministische Politik ebenso wie in alltäglichen Belangen. Die Regierung wird für das, was sie tut - oder vorgibt zu tun bzw. nicht tut -, zur Verantwortung gezogen.

Somit ist das Recht auf Information zu einem wirksamen Instrument zur Kontrolle der willkürlichen Ausübung von Macht und Korruption geworden. "Dieses Recht auszuüben verändert die Beziehung zwischen den Menschen und ihrer Regierung, weil nun die Bevölkerung die Kontrolle ausübt", resümiert Roy. Laut Regierung gibt es jährlich zehn Millionen Nutzer_innen. Diese Zahl ist wahrscheinlich viel zu niedrig angesetzt, da es nicht für alle Bereiche Daten gibt und dieselbe Person oft mehrmals um Auskunft ansucht. Nur jene Fälle, die in Berufung gehen, werden erfasst. Aruna Roy schätzt, dass es kein Dorf in Indien gibt, das nicht zehn bis fünfzehn Anträge eingereicht hätte.


Wie profitieren Frauen vom Recht?

"Jede Kampagne kämpft für Frauenrechte. Frauen haben die gleichen Rechte wie Männer, und das machen wir durch die Kampagnen bewusst. Wir können zum Beispiel den Polizisten auf Augenhöhe begegnen." Als Beispiel nennt Aruna Roy die Vergewaltigung eines elfjährigen Kindes. Spricht die Polizei etwa von einvernehmlichem Sex, so können durch das Recht auf Information alle Berichte eingesehen und Darstellungen somit hinterfragt werden. "Frauen verwenden dieses Recht in vielen Kampagnen, die sie führen - gerade was gender-sensible Themen wie Sexualität angeht." Frauen haben nun ein effizientes Werkzeug, um für ihre Rechte zu kämpfen.


ANMERKUNG:
(1) Aruna Roy war im März auf Einladung des Instituts für die Wissenschaft vom Menschen in Wien zu Gast. Die Frauensolidarität organisierte eine Veranstaltung mit ihr.


ZUR AUTORIN:
Claudia Dal-Bianco ist Redakteurin der Frauensolidarität. Sie lebt in Wien.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 132, 2/2015, S. 28-29
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2015

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