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MELDUNG/096: Volkszählung 2011 - Warum wehrt sich heute keiner ... (Grundrechtekomitee)


Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Pressemitteilung vom 5. Mai 2011

Volkszählung 2011:
Warum wehrt sich heute keiner - oder warum gab es eigentlich "1984" so einen Aufstand um die Volkszählung?


Als in den 1980er Jahren der Staat "seine" Bürger zählen wollte, brach ein breiter Proteststurm aus. George Orwells Roman "1984", der den Schrecken eines totalitären Überwachungsstaates beschreibt, wurde zum Symbol für die Gegner der Volkszählung. Die zunächst für das Jahr 1983 geplante Volkszählung konnte nicht stattfinden. Der Protest war breit gestreut und das Bundesverfassungsgericht urteilte und "erfand" das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das es aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ableitete. Bei der Volkszählung im Jahr 1987 war die Verweigerung noch immer nicht unerheblich.

Damals wie heute wird argumentiert, erst die neuen Zahlen würden eine sinnvolle wirtschaftliche und politische Planung ermöglichen. Aber damals wie heute gilt, dass Fehlplanungen auf politische Fehlentscheidungen zurückgehen, auf interessegeleitete Deutungen, auf die Berücksichtigung von Lobbyinteressen oder auf die fehlende Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen. Große zentrale Datensammlungen bergen indes Gefahren. Sie können diskriminierend verwandt werden - z.B. bezüglich der Religion oder des Migrationshintergrunds - und sie rufen Begehrlichkeiten hervor. So könnten sie für diverse wirtschaftliche Belange, aber auch für polizeiliche oder geheimdienstliche Arbeit interessant sein.

Im Mai 2011 beginnt nun wieder eine Zählung des Volkes, der Proteststurm aber ist ausgeblieben. Wir haben den Protest nicht einfach alle verschlafen - die Zeiten haben sich jedoch geändert, Datensammlungen entstehen allüberall, die Formen der Datensammlung haben sich geändert, und der Protest dagegen ist schwieriger geworden. Aber die Argumente, die damals gegen diese Erfassung sprachen, gelten auch heute noch - die Auswertungsmöglichkeiten sind sogar technisch um vieles einfacher geworden. Zwei Verfassungsklagen gegen die anstehende Volkszählung sind vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt worden, die eine wurde als nicht zulässig erachtet, die andere als nicht ausreichend begründet.

Deshalb informieren wir:

- Diese Volkszählung greift weit tiefer als grundrechtlich akzeptabel in das informationelle Selbstbestimmungsrecht ein;
- Davon sind bestimmte Gruppen in besonderer Weise betroffen;
- Wir zerstreuen einige Mythen und zeigen Protestmöglichkeiten auf.

Der Zensus findet diesmal europaweit gemäß der "Verordnung der Europäischen Union über Volks- und Wohnungszählungen vom 09.07.2008" statt. Das deutsche "Gesetz über den registergestützten Zensus im Jahre 2011" hat die zu erhebenden und auszuwertenden Merkmale umfassender normiert als es das europäische Gesetz verlangt. Die Informationen über die BürgerInnen, die zentral gespeichert werden, sind weit gefasst. Und diese Informationen dürfen bis zu vier Jahre aufgehoben werden. Mit Hilfe von Ordnungsnummern bleiben sie während dieser Zeit auch den konkreten Personen zuordbar.

• Bei den Behörden vorhandene Daten der Bürger und Bürgerinnen werden zu neuen Datensätzen zusammengefasst. Davon sind alle betroffen! Das ist weitgehend schon lautlos passiert, ohne die BürgerInnen zu informieren. Das Zweckbindungsgebot der Datenerfassung und -speicherung wurde also missachtet.

• Die Daten werden nicht anonym verarbeitet, sondern sind mit Ordnungsnummern versehen.

• "Nur" 10% der Bevölkerung sollen direkt befragt werden. Diese direkte Befragung scheint also nur wenige zu betreffen. Aber das ist eine systematische Täuschung.

Es wird vermehrt die Bevölkerung in ländlichen Gebieten befragt werden. Die städtische Bevölkerung dagegen ist unterrepräsentiert. Hier wäre vermehrt mit Protest zu rechnen.

Alle EigentümerInnen von Häusern oder Wohnungen werden befragt. ImmobilienbesitzerInnen werden also vollständig erfasst. BewohnerInnen in "Gemeinschaftsunterkünften" (Justizvollzugsanstalten, Krankenhäusern, Behindertenwohnheimen und Notunterkünften für Wohnungslose, aber auch in Kasernen und Studentenwohnheimen) werden direkt und vollständig befragt. Die Daten können aber auch durch die Befragungen der Leiterinnen und Leiter dieser Institutionen erhoben werden. Je abhängiger eine Person lebt, desto geringer sind also ihre Möglichkeiten zu protestieren und zu verweigern. Die restlose Erfassung der Abhängigen verstößt frontal gegen grundrechtliche und darüber hinaus verrechtlichte Diskriminierungsverbote. Sie verletzt damit außerdem Art. 1 Satz 1 GG: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

• Die Erhebungen sind so nicht notwendig. Die erfragten Daten verletzen das Selbstbestimmungsrecht. Insbesondere Fragen nach der Religionszugehörigkeit oder der Weltanschauung - mit genauen Unterscheidungen verschiedener islamischer Glaubensrichtungen - und nach dem Migrationshintergrund bzw. der Einreise nach 1955 gehen weit über das erträgliche Maß hinaus. Der Migrationshintergrund selbst bei deutschen StaatsbürgerInnen wird über Generationen hinweg erfragt und somit zugeschrieben. Die deutsche Gründlichkeit geht hier weit über das von der EU geforderte Maß hinaus, denn danach wird ein Migrationshintergrund nur dann zugeschrieben, wenn jemand nach 1981 in das EU-Land gezogen ist.


Was also bleibt noch zu tun?

Klagen gegen die Volkszählung werden von Einzelnen und von Genossenschaften betrieben. Nach Abschluss eines Verwaltungsverfahrens kann erneut Verfassungsbeschwerde eingereicht werden. Möglich wäre auch ein erneuter Versuch eines Eilverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, "um die Volkszählung bei bestehenden erheblichen Gefahren zu stoppen" (vgl. FIfF Kommunikation 1/2011: Eva Dworschak: Die Volkszählung 2011, S. 34 ff.). Schon gegen die Zusammenführung der vorhandenen Daten kann man klagen. Bisher ist eine solche Klage nicht bekannt geworden. Sollte man selbst zur Auskunft verpflichtet sein, so kann man hiergegen Widerspruch einlegen (§ 68 VerwaltungsGerichtsOrdnung). Allerdings hat dieser keine aufschiebende Wirkung. Wenn aber der Zähler vor der Haustür steht und man zufällig zuhause ist, sollte man ihn auf keinen Fall in die Wohnung lassen. Dazu ist man nicht verpflichtet. Der Fragebogen kann auch ausgehändigt werden. Möglicherweise bleibt er dann mal erst liegen. Es folgen Mahnungen. Ein Bußgeld kann angedroht und erhoben werden. Selbstverständlich kann man gegen solche Maßnahmen dann auch noch klagen und hoffen, dass andere bis dahin schon Erfolge erstritten haben. In jedem Fall wird die Nichtzusammenarbeit Aufwand für den Zensus verursachen und vielleicht von weiteren Nachfragen abhalten. Wenn man den Bogen irgendwann ausgefüllt hat, sollte er in einem verschlossenen Umschlag abgegeben werden.

Nicht zu vergessen ist, dass die Angaben zur Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung (Frage Nr. 8, nicht die zur Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft, Nr. 7) freiwillig sind. Also sollte man hier auf keinen Fall Angaben machen.

Dr. Elke Steven

http://www.grundrechtekomitee.de/node/395

Weiterführende Informationen:
FIfF Kommunikation 1/2011: Eva Dworschak: Die Volkszählung 2011 Zensus 11: Stoppt die Vollerfassung:
http://zensus11.de/


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Quelle:
Pressemitteilung vom 5. Mai 2011
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Aquinostr. 7-11, 50670 Köln
Telefon: 0221/9726920
E-Mail: info@grundrechtekomitee.de
Internet: www.grundrechtekomitee.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2011