Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → FAKTEN

NEWSLETTER/016: Werkstatt für Frieden & Solidarität - Rundbrief 8/2010


Werkstatt-Rundbrief Nr. 8/2010 - 2. Juni 2010


Themen:

SCHWERPUNKT "GRIECHENLAND UND EU-POLITIK"

(1) Brünings Europa" - Interview mit Univ. Prof. Dr. Joachim Becker (WU-Wien)
(2) Die Radikalisierung des Neoliberalismus durch die EU
(3) Österreich statt EU-Konkurrenzregime
(4) Athen-Kredite an Rüstungsaufträge für Deutschland und Frankreich geknüpft
(5) Griechische Schulden, deutsche Panzer, Euro-Diktat
(6) Gaza/Israel: Überfall auf Hilfskonvoi
- Gaza-Blockade sofort aufheben - Militärkooperation mit der Israelischen Armee beenden!
(7) Eisenbahn: ÖBB will Hauptstrecken in Bayern bedienen, während Regionalstrecken in Österreich stillgelegt werden



*


(1) Brünings Europa" - Interview mit Univ. Prof. Dr. Joachim Becker (WU-Wien)


Interview mit Univ. Prof. Dr. Joachim Becker (Wirtschaftsuniverstität Wien) über die Hintergründen der Budgetmisere Griechenlands und Krisenpolitik der EU. Die nun von der EU vorangetrieben Politik des prozyklischen Sparzwangs und der Entdemokratisierung der Wirtschaftspolitik erinnert den Ökonomen "an die Politik der Regierung Brüning in der Endphase der Weimarer Republik." Die Regierung Brüning ebnete Anfang der 30er Jahre mit ihrer krisenverschärfenden Sparpolitik maßgeblich dem Aufstieg Hitlers und der Nationalsozialisten den Weg. Die Werkstatt Frieden & Solidarität organisiert mit Joachim Becker am Mi, 23. Juni 2010 eine Veranstaltung in Linz unter dem Titel "Der Fall Griechenland - Die Radikalisierung des Neoliberalismus durch die EU"

Frage: Worin siehst Du als Ökonom die wesentlichen Gründe für die Budgetmisere Griechenlands?

Joachim Becker: Es gibt im Wesentlichen zwei Gründe. Der erste Grund hängt mit der aktuellen schweren Krise zusammen. Die Rezession hat in allen EU-Ländern einerseits die Staatseinnahmen zurückgehen lassen und andererseits zusätzliche Staatsausgaben erforderlich gemacht. In den Ländern mit einer schweren Krise des Finanzsektors, wie Großbritannien, Irland, den Benelux-Ländern und in geringerem Maße auch Deutschland, Österreich oder Frankreich, sind große Mittel in den Bankensektor geflossen. Teils wurden auch hohe Staatsgarantien vergeben. Dieser Faktor war in Griechenland allerdings nicht besonders bedeutend. Weiters sind durch die steigende Arbeitslosigkeit höhere Sozialausgaben erforderlich gewesen. Steigende Budgetdefizite und damit Staatsschulden sind also zunächst einmal Folgen der Krise, nicht ihre Ursache.

Daneben gibt es aber auch Ursachen, die spezifisch mit der politischen Ökonomie Griechenlands zusammenhängen. Das Budgetdefizit Griechenlands war schon vor der Krise verhältnismäßig hoch. Dies liegt an den recht geringen Steuereinnahmen Griechenlands, die ihre Ursache nicht zuletzt bei recht systematischer Steuervermeidung und -hinterziehung der Selbständigen, vor allem in den freien Berufen, haben. Der Sektor der Selbständigen ist in Griechenland größer als in anderen EU-Ländern. Die Probleme lagen mithin weniger auf der Ausgabenseite als auch der Einnahmenseite des Budgets.

Griechenland war und ist besonders verwundbar durch äußeren Druck, da die Staatstitel zu über 80% von AusländerInnen gehalten werden und das Land aufgrund seiner großen Außenhandelsdefizite von Kapitalzuflüssen aus dem Ausland, beispielsweise in Form von Krediten, abhängig ist. Griechenland, Spanien und Portugal werden oft in einem Atemzug genannt. Doch im Hinblick auf das Ausmaß der Staatsschulden unterscheiden sie sich gravierend. Spanien liegt hierbei sogar unter dem EU-Durchschnitt. Gemeinsam haben die drei Länder hingegen hohe Leistungsbilanz- und Außenhandelsdefizite. Speziell Spanien und Portugal haben im Rahmen des EU-Beitritts eine teilweise Deindustrialisierung erlitten. Griechenland zeichnet sich durch eine generelle Schwäche der Industrie aus. Oft wird hier zu Lande gesagt, die Griechen lebten über ihren Verhältnissen. Dabei war laut Eurostat ein Fünftel der griechischen Bevölkerung im Jahr 2008 armutsgefährdet. Das galt auch für 14% der Beschäftigten in Griechenland, was nach Rumänien der zweithöchste Wert ist.

Die restriktive Lohnpolitik Deutschlands der letzten Jahre hat dort zu einem raschen Anstieg der Exportüberschüsse beigetragen. Den Exportüberschüssen Deutschlands stehen die Handelsbilanzdefizite der südeuropäischen Länder gegenüber. Die deutsche Politik ist zu Lasten der anderen EU-Länder, aber auch der Beschäftigten in Deutschland selbst gegangen. Die relativ hohen Wachstumsraten in Spanien und Griechenland in den Jahren vor der Krise waren nicht zuletzt durch die rasante Zunahme der privaten Verschuldung, die durch den Beitritt zur Euro-Zone billiger geworden war, getragen. Zu den wichtigsten Gläubigern gehören Banken in Deutschland, aber auch in Frankreich. Diese haben ein Interesse daran, dass der griechische Staat seine Kredite weiter bedienen kann. Dies ist auch der Hintergrund für das EU-Stützungspaket.

Frage: Welche Folgen werden die von EU und IWF bezogen auf Griechenland getroffenen Maßnahmen haben?

Joachim Becker: Im Zentrum der Maßnahmenpakete stehen Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst und bei den Pensionen. Hinzu kommen Privatisierungen und Steuererhöhungen. Der Akzent liegt eindeutig bei den ausgabeseitigen, nicht den einnahmeseitigen Maßnahmen. Das Griechenland-Paket entspricht der traditionellen Rezeptur des IWF und bedeutet eine Radikalisierung der neo-liberalen Politik.

Die starken Einkommenskürzungen werden einen deutlichen Rückgang der Wirtschaftsleistung nach sich ziehen. Dies trifft die Steuereinnahmen erneut negativ. Dann wird es heißen: Es muss noch schärfer gespart werden, um die Budgetziele zu erreichen. So kommt dann eine Spirale von Kürzungen, Rückgang von Wirtschaftsleistung und Steuereinnahmen und dann erneuten Kürzungen in Gang. Dies ist eine deflationäre Logik. Die Schuldenproblematik wird so nicht gelöst. Bezogen auf das nun schrumpfende BIP wird die Last der Staatsschuld absehbar sogar weiter steigen.

Deutliche Wirkungen werden die Einkommenskürzungen hingegen auf die Importe haben. Die Handelsbilanz wird sich so verbessern, die Produktionsstrukturen allerdings nicht. Eine ähnliche Politik haben Europäische Kommission und IWF auch mit den Regierungen Ungarns, Lettlands und Rumäniens vereinbart. Die sozialdemokratischen Regierungen Portugals und Spaniens haben unter äußerem Druck ebenfalls Schritte zu Gehaltskürzungen bzw. Einschnitten bei Sozialleistungen angekündigt. Die Nachfrage wird so in der süd- und osteuropäischen Peripherie weiter zurückgehen oder jetzt erst recht einbrechen. In Ländern wie Deutschland und Österreich wird es dann heißen: Auch wir müssen den Gürtel enger schnallen. Denn sonst sind wir bei den Exporten nicht konkurrenzfähig. Damit läuft diese Politik auf die Generalisierung einer deflationären Tendenzen und einer Radikalisierung neo-liberaler Politik hinaus, die von den Rändern ausgeht.

Frage: Wie beurteilst du insgesamt die sog. "Anti-Krisen"-Politik der EU?

Joachim Becker: Nach ein paar vorsichtig keynesianischen Maßnahmen zu Beginn der Krise lässt die aktuelle Politik Parallelen zu den 1930er Jahren erkennen. Mich erinnert sie an die Politik der Regierung Brüning in der Endphase der Weimarer Republik. In der EU gibt es klare Signale für die Institutionalisierung einer pro-zyklischen Politik und die Aushebelung der parlamentarischen Budgetrechte. In den Ländern Süd- und Osteuropas mit Stützungsprogrammen von Europäischer Union (bzw. den Ländern der Euro-Zone) und IWF steht die Budgetpolitik ohnehin bereits jetzt unter dem faktischen Diktat von außen. Es gibt also auch Tendenzen zur weiteren Entdemokratisierung der Wirtschaftspolitik.

Nicht intendiertes, aber reales Resultat dieser Politik wird die Stärkung zentrifugaler Tendenzen in der EU sein. Diese gehen allerdings nicht von den peripheren Ländern, sondern eher vom Zentrum aus. Die deutsche Bundesregierung und das deutsche Kapital sind nicht bereit, von der neomerkantilistischen, einseitig auf die Erzielung von Exportüberschüssen orientierten Politik abzugehen und über eine expansivere Lohn- und Budgetpolitik den Druck auf die Peripherieländer abzumildern. Stattdessen gibt es in Deutschland rassistische Anwürfe gegen Griechenland und eine beginnende Debatte darüber, ob die Euro-Zone ohne Griechenland nicht besser dastünde. Solche Reaktionen sind als wohlstandschauvinistisch zu beurteilen.

Die Proteste gegen die restriktive EU-Politik sind hingegen bislang noch stark auf die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes beschränkt und national fragmentiert.


Joachim Becker ist a.o. Professor für Volkswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien und Redakteur der Zeitschrift "Kurswechsel


*


(2) Die Radikalisierung des Neoliberalismus durch die EU

Wir erleben eine groteske Inszenierung: Nachdem der Neoliberalismus eine die größte Wirtschaftskrise seit 80 Jahren ausgelöst hat, soll über die EU eine Radikalisierung des Neoliberalismus als Therapie verordnet. Die SP/VP-Regierung plant bereits milliardenschwere Sparpakete bis 2014, 70% der Kürzungen sollen im Sozial- und Bildungsbereich erfolgen (sh Grafik Budgeteinsparungen *) . Und Finanzminister Pröll geriert sich als bissiger Pudel von Frau Merkel.

Die größte Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ist letztlich das Resultat der seit zwei Jahrzehnten wachsenden sozialen Ungleichheit, der zunehmenden handelspolitischen Ungleichgewichte und der entfesselten Finanzmärkte. Mit der Vorherrschaft neoliberaler Wirtschaftspolitik wurden die sozialen Errungenschaften zurückgedrängt, der Anteil der der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen gesenkt und die öffentlichen Haushalte ausgehungert, während die Gewinne explodierten. Eine Zeitlang konnte der Rückgang der Massenkaufkraft und der staatlichen Nachfrage durch Kredite und Spekulationsblasen hinausgezögert werden, doch auf Dauer konnte das nicht gelingen. Irgendwann mussten die Kreditrückzahlungen ins Stocken geraten, die Blasen an den Kapitalmärkten platzen und sich das Auseinanderklaffen von Angebot und Nachfrage in einer gewaltigen Finanz- und Wirtschaftskrise entladen.

Die Verschärfung der Ungleichheit sieht man auch in Österreich: Seit dem EU-Beitritt 1995 ist hier die Lohnquote von 62% auf 55% (2008) der Bruttowertschöpfung zurückgegangen. Regelrecht abgestürzt sind die unteren Gruppen der ArbeiterInnen und Angestellten. Die Realeinkommen des untersten Einkommensviertels (25% verdienen weniger, 75% verdienen mehr) sind zwischen 1997 und 2006 um 12% gesunken.

"Strikter Sparkurs"

Diese neoliberale Wirtschaftspolitik ist in der Jahrhundertkrise seit 2008 so spektakulär gescheitert, dass endlich die Zeit gekommen schien, den Weg aus dieser Sackgasse zu beschreiten. Tatsächlich wurden auch innerhalb der EU zunächst gewaltige öffentlichen Mittel mobilisiert, um den totalen Absturz der Wirtschaft zu verhindern. Doch diese Mittel gingen zum größten Teil in die Rettung der Banken und nur zu einem bescheidenen Teil in die Stimulierung der realen Nachfrage. Während in etwa 22% des EU-Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Rekapitalisierung der Banken und für Garantien von Bankverbindlichkeiten von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellt wurden, verwendete man gerade einmal rd. 1 Prozent zur Belebung der Konjunktur. Die EU blieb damit weit hinter den anderen großen Wirtschaftsräumen zurück. Zum Vergleich: Die USA gaben 5,8% des BIP, China gar 7% des BIP zur Wiederankurbelung der Wirtschaft aus.

Umso ambitionierter aber ermahnen jetzt - nach der Überwindung des ersten Schocks - EU-Kommission und Europäische Zentralbank (EZB) die EU-Staaten zu einem scharfen Austeritätskurs. Obwohl die Arbeitslosigkeit EU-weit explodiert und 20% aller Jugendlichen in der EU ohne Job dastehen, erklärte die EZB bereits im September 2009 "die Rezession für beendet" und forderte von den Euro-Ländern von nun ab einen "strikten Sparkurs" (Tagesspiegel, 10.9.2009). Die EU-Kommission stellte anschließend vielen EU-Staaten mit der Eröffnung von Defizitverfahren die Rute ins Fenster; Österreich verordnete sie ein Sparprogramm von sechs Milliarden Euro bis 2013 in den Bereichen Föderalismus, Gesundheit, Pensionen und Bildung. Vor kurzem einigte sich die SP/VP-Regierung nun auf entsprechende "Sparpakete" bis zum Jahr 2014 - also sogar über die laufende Legislaturperiode hinaus. Diese sollen sich 2011 bis 2014 kumuliert auf über 3,4 Mrd. Euro für den Bund und weitere 2 Milliarden für Länder und Gemeinden belaufen. Auf die Bereiche Soziales, Gesundheit, Pensionen, Arbeit und Bildung/Forschung entfallen fast 70% der rot-schwarzen Kahlschlagspolitik (sh. Grafik Budgeteinsparungen). Deutlich mehr als das Doppelte dessen, was zur Konjunkturbelebung nach Kriseneinbruch 2008/09 ausgegeben werden, soll nun eingespart werden. Hieß es bei Ausbruch der Krise noch von Seiten vieler Wirtschaftsforscher, am schnellsten und effektivsten würden Investitionen der Kommunen wirken, gilt ab jetzt ein absoluter Investitionsstopp auf Gemeindeebene. Diejenigen, die schon vor Ausbruch der Krise zu den Verlierern gezählt haben, sollen jetzt erst recht zur Kasse gebeten werden: ArbeitnehmerInnen, Arbeitslose, PensionistInnen, Menschen in Ausbildung und viele andere.

Ausdrückliche Unterstützung für diese unsoziale Sparpolitik von EU und Regierung kommt von rechtsaußen. Bereits im Frühjahr 2009 brachte die FPÖ einen Antrag in den Nationalrat ein, der ein besonders rabiates Sparprogramm zum Inhalt hatte: Die Rechtsextremen beantragten ein Absenken der Staatsquote um 4% des BIP - das sind rd. 12 Milliarden Euro.

Fatale Währungsunion

Der enthemmte Neoliberalismus hat nicht nur die sozialen Gräben zwischen arm und reich innerhalb der EU-Staaten tief aufgerissen, er hat auch die Ungleichgewichte zwischen einzelnen Staaten enorm verschärft. Als besonders fatal hat sich die Währungsunion erwiesen. Konnten früher wirtschaftlich schwächere Länder ihre Industrien durch eine entsprechende Währungspolitik schützen, so ist das seit der Einführung des Euro nicht mehr möglich. Verschärfend kam hinzu, dass das wirtschaftlich stärkste Land, Deutschland, die massivsten Reallohnkürzungen im gesamten EU-Raum durchsetzen konnte, sodass die Ökonomien von Mittelmeerländern wie Griechenland vom deutschen Exportmotor regelrecht an die Wand gedrückt wurden. Deutschland verdreifachte zwischen 2000 bis 2008 seinen Handelsbilanzüberschuss auf über 170 Mrd. Euro, während Länder wie Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und Frankreich immer höhere Handels- und Leistungsbilanzdefizite hinnehmen mussten.

Zwei Drittel seiner Überschüsse erwirtschaftete die deutsche Industrie auf Kosten anderer EU-Staaten. Bezahlt wurden diese Leistungsbilanzdefizite durch eine ausufernde Verschuldung der Mittelmeerstaaten, nicht zuletzt bei deutschen Banken, die auch daran wiederum ganz gut verdienten. Und weiterverdienen sollen. Denn um die Bedienungen dieser Schulden sicherzustellen, in die die Mittelmeerstaaten mit der Einführung der Währungsunion hineingeraten waren, hat die EU nun einen gewaltigen 750 Milliarden "Rettungsschirm" aufgespannt. Der Preis dafür oder vielleicht besser gesagt das Ziel dieser Aktion ist ein Programm der Radikalisierung des Neoliberalismus: Die EU-Länder an der Peripherie, insbesondere Griechenland, werden quasi unter neokoloniale Verwaltung durch die EU-Kommission gestellt; deren Bevölkerung, die schon jetzt zu den Ärmsten in der EU gehört - in Griechenland lebt jeder Fünfte unter der Armutsgrenze - wird eine bespiellose Politik des Lohndumpings, Sozialabbaus und der Privatisierung verordnet.

Aber auch alle anderen Länder sollen an die Kandare genommen werden. Der Schlüssel dafür ist die zunehmende Entmachtung der Parlamente in den EU-Mitgliedsstaaten, denen eines ihrer Hauptrechte, nämlich die Entscheidung über den öffentlichen Haushalt, de facto entzogen werden soll. In Zukunft sollen der EU-Kommission die nationalen Budgets vorgelegt werden, bevor noch die Parlamente darüber beraten und entscheiden können. Faktisch bedeutet das: Die Haushaltsentwürfe schwacher Staaten werden in Zukunft deutschen Regierungsstäben vorgelegt werden müssen, die ihren neoliberalen Brachialkurs immer unverhohlener über EU-Kommission und EZB diktieren können. Im vorauseilenden Gehorsam hat Finanzminister Pröll kürzlich angekündigt, dass auch Österreich eine "Schuldenbremse" nach "dem Vorbild Deutschlands" beschließen werde, wo diese in Verfassungsrang erhoben wurde. Doch damit nicht genug: Pröll will, dass alle EU-Staaten am deutschen Wesen genesen sollen und eine solche "Schuldenbremse" zu beschließen hätten. Nur so könne man "die Schuldensünder an die Kandare nehmen", (Krone, 19.5.2010), geriert sich der österreichische Finanzminister als bissiger Pudel von Frau Merkel.

"Politik der EU gleicht der Zeit unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg"

Wir erleben eine groteske Inszenierung: Nachdem der Neoliberalismus eine die größte Wirtschaftskrise seit 80 Jahren ausgelöst hat, wird als Therapie eine Radikalisierung des Neoliberalismus verordnet: noch mehr Lohnsenkung, noch mehr Sozialabbau und noch mehr Einschränkung bei öffentlichen Investitionen. Joachim Becker, Wirtschaftswissenschafter an der WU-Wien, weist darauf hin, welche Gefahren mit dieser Politik verbunden sind: "In dem Versuch der Wiederbelebung eines überholten Wirtschafts- und Regulationsmodelles gleicht diese Politik der EU der Zeit unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg. Damals mündete eine derartige Politik nach kurzer Pseudo-Prosperität in erneuter schwere Wirtschaftskrise, Autoritarismus und Faschismus." (Kurswechsel 1/2010)

Wir brauchen daher nicht die Radikalisierung des Neoliberalismus sondern - ganz im Gegenteil - eine solidarische und demokratische Wende, um aus der wirtschaftlichen Misere herauszukommen: Umverteilung von oben nach unten, Arbeitszeitverkürzung, Stärkung öffentlichen Eigentums und die Ankurbelung der öffentlichen Ausgaben insbesondere in den Bereichen Bildung, Forschung, Gesundheit, Pflege, öffentlicher Verkehr und erneuerbare Energien. Nur durch eine solche Politik kann wieder Vollbeschäftigung erreicht werden. Alleine in Österreich waren im Jänner 2010 400.000 Menschen ohne Arbeit. Arbeitslosigkeit bedeutet nicht nur die Demütigung und oft auch die Verarmung der Betroffenen, sie bedeutet auch, dass die gesamte Gesellschaft um die Produkte der Arbeit von hunderttausenden Menschen ärmer wird. Arbeitslosigkeit ist daher eine der größten Verschwendungen, die es gibt - und nicht öffentliche Ausgaben für Gesundheit, Soziales, Bildung und Umwelt.

EU-Austritt endlich enttabuisieren!

Dass wir eine Abkehr vom Neoliberalismus brauchen, ist unter fortschrittlichen Menschen weitgehend unbestritten. Weniger klar ist freilich, dass das im Rahmen der Europäischen Union nicht gehen wird. Denn die EU ist ein politisches Gebilde, das - weltweit ziemlich einzigartig - den Neoliberalismus sogar im Grundlagenrecht einzementiert hat: Das EU-Recht, das über einzelstaatlichem Recht steht, verpflichtet alle EU-Mitgliedsstaaten zu einer Wirtschaftspolitik der "offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb". Freier Kapitalverkehr und Freihandel nach innen wie außen sind per EU-Recht festgezurrt. Da immer mehr Menschen unter die Räder dieses Wirtschaftssystems geraten, ist es aus Sicht der Politik- und Kapitaleliten konsequent, den EU-Rahmen zu nutzen, um immer mehr Politikbereiche, insbesondere die Wirtschafts- und Währungspolitik, gegenüber der demokratischen Willensbildung abzuschotten und Länder wie Griechenland, wo es starke und kämpferische Gewerkschaften gibt, eine koloniale Aufsicht zu verpassen. Es ist daher hoch an der Zeit, innerhalb der fortschrittlichen Kräfte die Frage des Austritts aus diesem neoliberalen Rahmen zu enttabuisieren.

Gerald Oberansmayr

(*) aufrufbar über:
http://www.werkstatt.or.at/index.php


*


(3) Österreich statt EU-Konkurrenzregime.

Die EU des schrankenlosen Freihandels ist ein Projekt der verblassenden europäischen Machteliten, ihre Macht zu erhalten, mitunter neuerlich zur Weltherrschaft zu greifen. In ihrem Mittelpunkt steht der Machtwille der deutschen Eliten. Die Frage ist nicht mehr, ob sondern wie dieses Projekt scheitert, mit welchen sozialen Kosten. Über deren Höheentscheidet nicht zuletzt, ob und wie es gelingt, Österreich aus der EU herauszuführen. Ein eigenständiger österreichischer Weg zu einem Solidarstaat könnte dem Machtprojekt EU viel seines aggressiven Potentials nehmen.

Welchem Ziel dient die Europäische Union? Warum wurde und wird in immer weitere Bereiche des auf der Grundlage der II. Republik errichteten österreichischen Solidarstaates hineingeschnitten? In den letzten Wochen wurden für jeden nüchternen Beobachter diese Fragen klar und unmißverständlich beantwortet:

1. Die EU des schrankenlosen Freihandels ist ein Projekt der verblassenden europäischen Machteliten, ihre Macht zu erhalten, mitunter neuerlich zur Weltherrschaft zu greifen. In ihrem Mittelpunkt steht der Machtwille der deutschen Eliten.

2. Die Integration Österreichs in dieses Projekt ist von zentraler Bedeutung: Erst damit entsteht das notwendige Gravitationszentrum; ein Zentrum dominiert einerseits von einer aggressiven Exportindustrie, deren Erfolg auf den Einsatz einer gnadenlosen Produktivitätspeitsche mit Unterstützung der Gewerkschaften gründet, andererseits von politischen Eliten, die nicht davor zurückscheuen, diese wirtschaftliche Potenz in politische und militärische Macht umzusetzen. Wie ein Ministrant darf heute der österreichische sozialdemokratische Kanzler neben Frau Merkel den Kampf gegen Spekulanten und Defizitsünder gleichermaßen verkünden. Und noch eine Frage wurde beantwortet. Dieses Projekt wird scheitern. Wiederum scheitern. Träumte Joschka Fischer in den 90er Jahren noch von einer Art "sanfter Hegemonie", die nunmehr im dritten Anlauf am deutschen Wesen die Welt oder zumindest Europa genesen lassen werde, so kündet der Vorschlag vom Stimmrechtsentzug für Defizitsünder vom unsanften Erwachen aus diesen Träumen. In Zukunft gehen die Sozialbudgets an der europäischen Peripherie über deutsche Kabinettsschreibtische. Die Frage ist nicht mehr, ob sondern wie dieses Projekt scheitert, mit welchen sozialen Kosten. Über deren Höhe entscheidet nicht zuletzt, ob und wie es gelingt, Österreich aus der EU herauszuführen. Ein eigenständiger österreichischer Weg zu einem Solidarstaat könnte dem Machtprojekt EU viel seines aggressiven Potentials nehmen.

Wir finden eine Vielzahl politischer, wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Alternativen, die reif sind, in Gang gesetzt zu werden. Die Werkstatt hat selbst einige dazu beigetragen. Die gesellschaftliche Praxis selbst wird über die Vorliegenden richten und Neue hervorbringen. Unser Problem ist nicht der Mangel an Konzepten, sondern sind Haltungen und Herangehensweisen.

Demokratische Politik ist eine künstlerische Aufgabenstellung; eine Kunst, die sich auf zwei Gebieten in ihrer Widersprüchlichkeit bewähren muß, die nicht eines aufgeben kann ohne am anderen zu scheitern.

A) Wir brauchen eine Bewegung für eine Kultur des Miteinander, der Freiheit, der Weltoffenheit und Gewaltlosigkeit, der ökologischen Umsichtigkeit, in rot-weiß-rot. Der sozialpsychologische Inhalt dieser Bewegung ist den Menschen das Selbstvertrauen zurückzugeben, daß sie diese Kultur leben und entfalten können, weil sie auf ihre unmittelbaren Erfahrungen bei der Bewältigung des Alltags aufbaut. Es geht nicht um neue und alte Welterlösungstheorien. Es geht nicht um den einen Hebel, der jetzt umgelegt werden muß. Es geht nicht um die Verwandlung der Gesellschaft in ein Umerziehungslager für Größeres und Schöneres. Es geht nicht um die Verwandlung der Menschen in willenlose VollstreckerInnen eines geschichtlichen Willens, der sich nur den Erlesensten offenbart. Es geht um Rechte und Pflichten, Arbeit und Freizeit, Verantwortung und Freizügigkeit, Hinwendung zum Anderen und Zuwendung zu sich selbst. Es geht um Offenheit nach Außen und selbstbewußten Schutz der Leistungen der eigenen Gesellschaft. Es geht um Rhythmus; den alten Rhythmus der Menschen unseres Landes in einer neuen Zeit. Der Neoliberalismus als sozial-kulturelle, reaktionäre Bewegung hat zentral die Lebenskompetenz der Menschen angegriffen. Diese waren ihm in Allem zu wenig: zu langsam, zu gemütlich, zu wenig flexibel, zu klein, zu groß, zu dick, zu dünn, zu konservativ, zu visionär und verträumt, zu faul, zu arbeitssüchtig, zu wenig work and life balanced, usw. usf. Im konkreten österreichischen Fall ging dieser reaktionäre Angriff mit der Unterwerfung unter das EU-Regime einher. Folgerichtig wurden all diese Mängel zu einer österreichischen nationalen Attitüde stilisiert. Mit einer Volte wurde einerseits die kulturalistische Begründung der österreichischen Nation kritisiert, um sie als kulturelles Mängelwesen erst recht wieder in die Welt zu setzen. Woanders wären Eliten mit einer derart gewagten Volte vielleicht am Allerwertesten gelandet, in Österreich verhalf ihr eine unappetitliche Koalition von Industrie, Gewerkschaften, Wissenschaftern und Intellektuellen ständig von Neuem auf die Beine.

Die meisten oppositionellen Strömungen haben Facetten des Neoliberalismus wortreich kritisiert, einzelne Auswirkungen angeprangert, in ihrer Grundhaltung dessen Grundannahme über die konkreten Menschen als Mängelwesen aber teilweise vollständig übernommen. Schon seine Durchsetzung rühre nicht aus dem Machtwillen überkommener Eliten, sondern aus der Unfähigkeit der Menschen, in einer plötzlich als globalisiert entdeckten Welt, Vernünftigeres zu praktizieren. Die Ergebnisse der neoliberalen Wende sind auch ganz entgegen der Globalisierungshypothese an den Ecken dieser Welt höchst unterschiedlich. In diesen Strömungen nährt sich die Perspektive seiner Überwindung aus der Hoffnung auf den "big crash" und ein massenhaftes Pfingsterlebnis gleichermaßen. Die einzig verbleibende Handlungsalternative sei die Analyse seines kommenden Endes und die Aufklärung der unwissenden Massen. Damit könne man wahrscheinlich auch nichts bewirken, aber zumindest sein Seelenheil retten. Besonders ausgeprägt ist dieser Grundkonsens zwischen den Protagonisten des Neoliberalismus und seiner Opposition in Österreich. "In Österreich alleine geht gar nichts." Das ist die lange unsichtbare Leine, die die Industriellenvereinigung mit ihrer radikalsten Opposition verbindet. Es ist die eigene als Kränkung empfundene Inferiorität und Impotenz, die man mit der Verachtung gegenüber den konkreten hier lebenden und arbeitenden Menschen und ihrer Republik verschleiert.

Es gibt vielfältige Strukturen in der österreichischen Gesellschaft, an die eine derartige Kulturbewegung anknüpfen kann: eine breit und tief verankerte verantwortungsvolle Haltung in der Arbeitsteilung, eine tief verankerte christliche Solidarität, gut funktionierende gemeinwirtschaftliche Unternehmen, das wertschöpfungsbasierte System der Sozialversicherungen, genossenschaftliche Unternehmen, um nur einige zu nennen. Vieles wurde durch die EU-Integration neoliberal überformt, konnte aber in seiner emanzipativen und solidarischen Substanz trotzdem nicht völlig getilgt werden.

Und dennoch handelt es sich nicht um eine Reise ins Gestern. Die neoliberale Wende war auch eine Reaktion auf die Verknüpfung von alten, agrarisch und industriell geprägten Formen der solidarischen gesellschaftlichen Organisation mit jenen Fragen, die durch die sich entfaltenden auf Bildung basierenden Dienstleistungen auf die Tagesordnung drängten. Es wäre eine grobe Verkürzung, würden wir aus der Tatsache, daß "1968" als das Ereignis in Österreich nicht stattgefunden hat, den Schluss ziehen, dass es den damit verbundenen Prozeß nicht gegeben hätte. Mitunter haben sich die Forderung nach Teilhaberechten, nach Freizügigkeit in der Lebensgestaltung, nach Vielfalt als Konzept einer politischen Ökologie hier nachhaltiger entwickelt, als ein zunächst auf Ereignisse fokussierter Blick wahrhaben will. Und vielleicht führte gerade die Vitalität dieses Prozesses in Österreich, verbunden mit der strategischen Schwäche der Gegner im Inneren dazu, daß aus der EU-Unterwerfung die Reißleine für die auf Reaktion orientierten Eliten wurde. Zwentendorf läßt grüßen. Aber auch die Öffnung und Demokratisierung der Universitäten in den 1970'er und 80'er Jahren.

Vor einer Glorifizierung der Vergangenheit sollten wir uns hüten. Es geht nicht um das Wiederauflebenlassen eines Modells, sondern um das Wiederanknüpfen an Strömungen. Die Auseinandersetzung mit der Unterwerfung unter das EU-Konkurrenzregime ist eine entscheidende, aber nicht die einzige Baustelle in unserem Bemühen um Solidarität und Befreiung. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier ein paar angeführt:

• Bildung: Das Scheitern einer grundlegenden Bildungsreform ist wahrscheinlich das nachhaltig Beschämendste an der Reformpolitik der 1970'er Jahre. Dass sie jetzt unter der Ägide der Industriellenvereinigung und nicht als Reformbewegung von unten durchgezogen werden soll, läßt eine schreckliche Schimäre befürchten. Eine durchstandardisierte Selektionsmaschinerie vom Kindergarten bis zum Master.

• Deutschnational begründete Fremdenfeindlichkeit: Die Hoffnung, die Formel der Deutschnationalen von der deutschen Kulturnation und der österreichischen Staatsnation würde sich mit der Zeit von selbst erledigen, ist praktisch nicht aufgegangen. Der deutschnationale Rechtsextremismus war und ist das wirkungsvollste Instrument um zuerst die Unterordnung unter das EU-Regime zu forcieren und dann die Opposition dagegen in die Irre zu führen. Der Aufstieg ihrer politischen Organisation, der FPÖ, ist unmittelbar mit dem EU-Integrationsprozeß verbunden. Praktisch zeigt sich eine doppeltschiefe Ebene, ein Trichter: die progressivste Begründung einer Praxis der EU-Unterordnung mündet in einer Unterordnung unter Berlin; jede ethnizistische oder kulturalistische Begründung von EU-Opposition mündet ebenfalls dort. Man lese nur die Boulevardschlagzeilen der letzten Wochen. Es mutet an, wie die völlig unterschiedliche, ja konträre Begründung des gleichen Ziels. Es geht uns daher nicht um Abgrenzung, es geht um die praktische Entfernung des rechtsextremenDeutschnationalismus aus der politischen und kulturellen Arena. Österreich war und ist ein Einwanderungsland. Seine Existenz kann weder aus abstrakten rationalen Überlegungen noch aus Blut- und Bodenphantasien abgeleitet werden. Sein Existenzrecht gründet auf den konkreten Existenz- und Teilhaberechten der hier lebenden Menschen. Nicht mehr aber auch keinen Millimeter weniger.

• Demokratie: Die geschriebene österreichische Verfassung, noch mehr aber die Realverfassung atmet den Geist der Angst vor zuviel Demokratie. Das äußert sich vor allem in zwei Bereichen: den engen Grenzen für direkte Demokratie und der Gängelung der Gemeinden. Auf der anderen Seite sind wir mit einer enormen Machtfülle der politischen Parteien konfrontiert. Die Entfaltung direkter Demokratie und die Stärkung der Gemeinden kann zum entscheidenden Machthebel bei der Entwicklung eines österreichischen Solidarstaats werden.


B) Wir müssen die politischen Auseinandersetzungen auf den EU-Austritt zuspitzen. Die politischen Fragen darauf zu bündeln, heißt sie auf die nackten und wirklichen Machtfragen zu fokussieren. Das ist eine mühevolle, sinnliche und höchst gefährliche Angelegenheit. Sie auszuklammern und ihr auszuweichen mündet jedoch in den absurdesten rhetorischen Verrenkungen oder wortreicher Blutleere. Die Schwierigkeit bei der Entfaltung einer derartigen Politik rührt auch daher, daß wir nicht wissen, ob sie in dem einen großen Ereignis mündet. Und wenn, können wir das Wann und Wie nicht bestimmen. Mitunter ist das Ereignis auch erst in der Hinterdreinsicht bestimmbar, seine Gestalt und Verlauf bestehen aus vielen einzelnen Schritten, aus einem Hinausbewegen, einem Hinausdrehen: eine Verweigerung da, die Durchsetzung eines Projekts dort.

Die Werkstatt bezeichnet in ihrem Programm "Für eine Friedensrepublik Österreich!" die Herausbildung eines österreichischen Nationalbewußtseins in der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts als wundersame Entwicklung. Eine wundersame Entwicklung begründet durch auf Kleinstaatlichkeit und Neutralität basierender imperialer und militärischer Impotenz, der Verallgemeinerung von Teilhabe- und Existenzrechten und der gemeinschaftlichen Verfügung über weite Bereiche der Ökonomie. Diese Bausteine scheinen aus anderem Blickwinkel jedoch auch als vorweggenommene Faktoren für die Gestaltung des 21. Jahrhunderts. Im österreichischen Fall belastet mit einem quasi Geburtsfehler. Sie wurden uns gleichsam von der Geschichte geschenkt. Ihre Verletzlichkeit rührt aus dem Mangel an Selbstbewußtsein, das sich auf der Grundlage eigener Kämpfe bei ihrer Durchsetzung entfaltet. Wir können nicht darauf bauen, daß wir sie nochmal geschenkt bekommen. Diesmal müssen wir sie selbst erringen. Die aktuellen Krisenprozesse lassen keinen Aufschub mehr zu.

Boris Lechthaler


*


EU-Kredite für Athen an Rüstungsaufträge für Deutschland und Frankreich geknüpft

Erst vor kurzem ist nun an die Öffentlichkeit gedrungen, dass Merkel und Sarkozy die Bewilligung neuer Kredite für Griechenland davon abhängig gemacht haben, dass Griechenland die Rüstungsaufträge im Umfang von mehreren Milliarden Euro bei deutschen und französischen Unternehmen "bestätigen" müsse. Damit wird sichergestellt, dass die EU-Kredite umgehend wieder auf den Konten von EADS, Thales, Thyssen-Krupp und Siemens landen. Allein für den Kauf neuer Rüstungsgüter gibt die Regierung in Athen im laufenden Jahr 2,8 Milliarden Euro aus, das sind 60% der Einsparungen, die nun im sozialen Bereich geplant sind.

Alle aktuellen Sparmaßnahmen der griechischen Regierung bringen 2010 Einsparungen im Wert von 4,8 Milliarden Euro. Allein für den Kauf neuer Rüstungsgüter gibt die Regierung in Athen im laufenden Jahr 2,8 Milliarden Euro aus. Damit entsprechen allein die Neueinkäufe von Waffen bereits knapp 60 Prozent der genannten Einsparungen, die im sozialen Bereich geplant sind. Der Großteil der Waffenlieferungen kommt aus Deutschland und Frankreich.

Mitten in der Griechenlandkrise, im Februar 2010, hat der deutsche Außenminister Westerwelle Griechenland öffentlich aufgefordert, sich endlich für den milliardenschweren Ankauf von Eurofightern zu entscheiden. Erst vor kurzem ist nun an die Öffentlichkeit gedrungen, dass Merkel und Sarkozy die Bewilligung neuer Kredite für Griechenland davon abhängig gemacht haben, dass die griechische Regierung die Rüstungsaufträge im Umfang von mehreren Milliarden Euro bei deutschen und französischen Unternehmen "bestätigen" müsse. Es handelt sich dabei vor allem um französische bzw. deutsche Fregatten, Hubschrauber, Flugzeuge und U-Boote. (Quelle: Standard 7.5.2010 " Athen-Hilfen an Rüstungsgeschäfte geknüpft"). Damit wird sichergestellt, dass die EU-Kredite umgehend wieder auf den Konten von EADS, Thales, Thyssen-Krupp und Siemens landen.

Dass Korruption in Griechenland ein großes Problem ist, haben wir in letzter Zeit oft gehört. Man sollte vielleicht auch dazu sagen, woher - unter anderem, aber wohl nicht zuletzt - die Schmiergelder fließen. So hat der Münchner Rüstungskonzern Siemens in jüngster Zeit rund 100 Millionen Euro für die Bestechung griechischer Politiker beider Großparteien - der Sozialdemokraten und Konservativen - aus (Quelle: Zeitung gegen den Krieg, Nr. 30, 2010). Einen «Boom für Waffen made in Germany» stellt auch der Mitte März veröffentlichte Bericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri fest. Seit 2005 hätten sich die deutschen Waffenausfuhren vor allem durch den Verkauf von U-Booten und Panzern mehr als verdoppelt. Wichtigster Abnehmer für die deutsche Rüstungsindustrie waren nach der Türkei, an die 14 Prozent der Ausfuhren gingen, das mit der Türkei wettrüstende Griechenland, an das 13 Prozent der deutschen Waffen gelangten. (Quelle: NZZ, 22.3.2010)


*


Gaza: Blockade sofort aufheben! Militärkooperation mit der Israelischen Armee beenden!

Die Werkstatt Frieden & Solidarität verurteilt entschieden den blutigen Überfall der Israelischen Armee auf einen Hilfskonvoi für die notleidende Bevölkerung in Gaza. Es zeigt einmal mehr, mit welch unerhörter Brutalität die Blockade des Gaza-Streifens fortgesetzt wird, die das Leben für die 1,5 Millionen Menschen auf diesem engen Raum unerträglich macht. Diese Blockade muss endlich aufgehoben werden! Im Anhang drucken wir die Stellungnahme der Israelischen Friedensorganisation Gush Shalom zum Angriff auf die Hilfsschiffe ab.

Als Werkstatt Frieden & Solidarität erneuern wir in diesem Zusammenhang die Forderung an die österreichische Bundesregierung, endlich die Zusammenarbeit des Bundesheeres mit der Israelischen Armee zu beenden (sh. Offener Brief). Seit 2008 gibt es eine Kooperation zwischen österreichischen und israelischen Streitkräften im Bereich der Ausbildung. Seit diesem Zeitpunkt bereitet sich das Bundesheer intensiv auf die Teilnahme an den sog. EU-Battle-Groups vor. Im zweiten Halbjahr 2011 und im ersten Halbjahr 2012 sollen sich österreichische Soldaten an diesen EU-Kampfverbänden beteiligen, die für globale Militärmissionen auf Abruf des EU-Rates in Bereitschaft gehalten werden - für Einsätze, die durchaus auch ohne UNO-Mandat stattfinden können, wie EU-Vertreter herausstreichen und es der EU-Lissabon-Vertrag vorsieht. Will sich das österreichische Bundesheer für diese Battlegroups-Einsätze Know-How bei der Israelischen Armee dafür holen, wie man als aggressive Besatzungs- und Blockademacht auftritt?

Unterstützen auch Sie die Forderungen nach sofortiger Beendigung dieser neutralitätswidrigen Militärkooperation!
Schicken Sie Mails an:
Verteidigungsminister Darabos - norbert.darabos@bmlvs.gv.at
Bundeskanzler Werner Faymann - kabhbk@bka.gv.at
Außenminister Michael Spindelegger - michael.spindelegger@bmeia.gv.at


Pressemittleiung der Israelischen Friedensorganisation Gush Shalom zum israelischen Angriff auf die 'Free Gaza' Schiffe

31.05.2010

Uri Avnery: in dieser Nacht wurde mitten auf dem Meer ein Verbrechen begangen - auf Befehl der Regierung Israels und dem IDF-Kommando. Ein kriegsähnlicher Angriff gegen Schiffe mit Hilfslieferungen und tödliche Schüsse auf Friedensaktivisten und Aktivisten humanitärer Hilfe. Es ist eine wahnsinnige Sache, die sich nur eine Regierung leisten kann, die alle roten Linien überschritten hat.

Nur eine wahnsinnige Regierung, die alle Beherrschung und jede Verbindung zur Realität verloren hat kann so etwas tun: Schiffe, die humanitäre Hilfe und Friedensaktivisten aus aller Welt mit sich bringt, als Feinde anzusehen und massive militärische Kräfte in internationale Gewässer zu schicken, sie anzugreifen, zu beschießen und zu töten.

"Niemand in der Welt wird die Lügen und Entschuldigungen glauben, mit denen die Regierungs- und Armeesprecher daherkommen", sagt der frühere Knessetabgeordnete Uri Avnery von der Gush Shalom Bewegung. Gush Shalom Aktivisten werden zusammen mit Aktivisten anderer Organisationen ab 11 Uhr von Tel Aviv abfahren, um vor der vorbereiteten Hafteinrichtung (in Ashdod), wo die internationalen Friedensaktivisten hingebracht werden, zu protestieren.

Greta Berlin, die Sprecherin der Flotillen-Organisatoren, die in Zypern ihren Sitz hat, sagte zu Gush Shalom-Aktivisten, dass das israelische Kommando mit Helikoptern auf den Booten gelandet sei und sofort das Feuer eröffnet hätten.

Dies ist ein Tag der Schande für den Staat Israel, ein Tag großer Besorgnis, an dem wir entdecken, dass unsere Zukunft einer Bande von schießwütigen verantwortungslosen Leuten anvertraut wurde. Dieser Tag ist ein Tag der grenzenlose Schande und des Wahnsinns und der Dummheit, es ist der Tag, an dem die israelische Regierung den Namen des Landes in aller Welt verunglimpft hat, indem es überzeugende Beweise seiner Aggressivität und Brutalität zu Israels schon schlechtem internationalen Image hinzufügt und damit die wenigen verbliebenen Freunde entmutigt und distanziert hat.

Tatsächlich fand weit vor der Küste des Gazastreifens eine Provokation statt - aber die Provokateure waren nicht die Friedensaktivisten, die von den Palästinensern eingeladen waren und die die Küste Gazas erreichen wollten. Die Provokation wurde vom Marinekommando auf Bitte der israelischen Regierung ausgeführt: den Weg für die Boote mit den Hilfslieferungen zu blockieren und tödliche Gewalt anzuwenden.

Es ist Zeit, die Belagerung des Gazastreifens zu beenden, der den Bewohnern nur schweres Leid zufügt. Heute hat die israelische Regierung mit eigenen Händen die Maske von ihrem Gesicht genommen und damit klar gemacht, dass Israel sich noch nicht vom Gazastreifen "getrennt" hat. Wirkliche Trennung von einem Gebiet kann nicht bedeuten, dass weiter der Zugang zu ihm blockiert wird oder Soldaten geschickt werden, um auf die zu schießen, sie zu töten und zu verletzen, die versuchen, dorthin zu gelangen.

Der Staat Israel versprach in den Oslo-Abkommen vor 17 Jahren, die Errichtung eines tiefen Seehafens in Gaza zu ermöglichen, durch den die Palästinenser frei im- und exportieren und ihre Wirtschaft entwickeln können. Es wird Zeit, diese Verpflichtung zu realisieren und den Hafen von Gaza zu öffnen. Erst wenn der Gazahafen für freie und ungestörte Bewegung offen sein wird, genau wie der Hafen von Haifa und Ashdod, wird sich Israel vom Gazastreifen getrennt haben. Bis dahin wird die Welt weiterhin - zurecht - den Gazastreifen unter israelischer Besatzung ansehen und den Staat Israel verantwortlich für das Schicksal der dort lebenden Menschen.

http://www.gush-shalom.org/


*


ÖBB will Hauptstrecken in Bayern bedienen, während Regionalstrecken in Österreich zugesperrt werden.

"ÖBB begrüßt die Liberalisierung in Europa", heißt es kürzlich in einer Pressemitteilung des ÖBB-Vorstandes. Die ÖBB ordert um 400 Millionen neue Garnituren bei Siemens, um damit auf profitablen Hauptstrecken in Bayern mitbieten zu können. Im selben Atemzug kündigt die ÖBB an, das Schienennetz in Österreich "aus Kostengründen auf wenige Hauptstrecken zu reduzieren." Auf dem Altar des freien EU-Marktes werden die Regionalstrecken in Österreich geopfert. Das zeigt einmal mehr, wie aktuell und dringend die Forderungen der Petition "Höchste Eisenbahn!" sind, die von der Werkstatt Frieden & Solidarität gestartet worden ist.

Wir dürfen uns freuen über die Nachricht, das die ÖBB ihr Streckennetz im Regionalbetrieb ausbauen und erweitern will. Sie nimmt dafür unser Steuergeld in die Hand, kauft 200 neue Regionaltriebwägen DESIRO ML bei Siemens um ca. 1 Mrd. Euro und lässt davon 120 in Ostösterreich als Ersatz für die Veralteten S-Bahngarnituren TYP 4020, laufen. Doch erst die restlichen 80 Garnituren dieser Regionaltriebwagen, plus erweitertes Streckennetz, bringen die ÖBB-Entourage in Jubeltaumel. "Die ÖBB "begrüßen die Liberalisierung" in Europa, die Schwung in den Bahnsektor bringen werde", wird in einer Tageszeitung am 14.04.2010 gemeldet. Es muss schon sehr feuchtfröhlich zugegangen sein, denn laut Vorstandsprecherin der Personenverkehr AG Gabriele Lutter wollen die ÖBB im Liberalisierungsprozess "nicht untätig sein" und sich für grenznahe Ausschreibungslose bewerben. In Bayern hat sich die ÖBB für das "Los Werdefeld" (Strecken zwischen München, Garmisch Patenkirchen und Innsbruck) beworben und dafür 80 DESIRO-Garnituren für den Betrieb auf Abruf bei Siemens bereitgestellt. Mit diesen von Siemens um 400 Mill. Euro auf Abruf erworbenen und in Verträgen für Reparatur und Wartung exklusiv für Siemens bereitgestellten, soll der Deutsche Bahnmarkt bearbeitet werden, denn "wir sind dabei nicht in der Warteposition", so Lutter. Entschieden wird im Herbst, denn es wollen auch BENEX (Hamburger Hochbahn) und VEOLIA (Französischer Großkonzern) diese Strecken bedienen. Wir täglich geprüften Bahnbenützer freuen uns über jede Jubelmeldung, dass bei der ÖBB nicht mehr gewartet werden muss und endlich ein Schwung im Bahnsektor bringen werden, der niemand mehr untätig sein lässt!

Bei allem Jubel, aber wohin geht der Zug? Wird der ÖBB ein hochprofitables Streckenlos überlassen, weil die Deutsche Bahn brüderlich auf Profite verzichtet?

"Schienennetz auf wenige Hauptstrecken reduzieren"

Eine Woche später am 21.04.2010 wird unter "Zieldefinition 2025+" in den Medien verkündet, "das Netz der ÖBB soll aus Kostengründen auf wenige Hauptstrecken reduziert werden". Es wird von Angebots- und Nachfragemerkmalen gesprochen, denn das Ziel sei eine "Anpassung der Anlagenmenge" an die Marktnachfrage. Auf allen Bahnstrecken, welche nicht mindestens 60 Kmh Durchschnittsgeschwindigkeit gefahren wird, sollen nicht mehr ausgebaut, sondern aufgelassen werden. Personenfernverkehr im Stundentakt gibt es nur noch bei 8000 Fahrgästen und mehr, ab 4000 Fahrgästen Zweistundentakt. Nebenstrecken werden nur mehr dann bedient, wenn an der Endhaltestelle mindestens 200 Ein oder Aussteiger pro Tag vorhanden sind. Das kommt einem Investitionsstopp in der Fläche gleich. Nicht nur dass laut einer ÖBB-Studie ein Drittel aller Gleisstrecken von der Stilllegung bedroht sind, auch bei Personal und Streckendienst werden ausgegliedert und kaputt gespart.

Nachdem die ÖBB in Zeiten der EU-Liberalisierung am Finanzmarkt bei hochspekulativen CDS (Credit Defoult Swap) Geschäften ca. 600 Mill. Steuereuro in den Sand setzten, bei der Übernahme der Ungarischen Güterbahn MAV 404 Mill. Steuereuro für veraltetes Rollmaterial (und mittlerweile keinen Markt) bezahlt hat, ist die Bahn nun dabei, für den freien Markt in Europa, den regionalen öffentlichen Verkehr der ÖBB in Österreich zu opfern. Was über einen langen Zeitraum hin mühsam aufgebaut worden ist, soll nun am Altar der marktradikalen EU-Liberalisierungsrichtlinien geopfert werden.

Wir fordern die Politik und das ÖBB-Management auf, den Streckenausbau und den Verkehrstakt IN Österreich vor allem auf den Nebenbahnen auszubauen, um das öffentliche Verkehrsnetz, das noch immer den Steuerzahler/Innen gehört, zu attraktiveren. Die Schweiz zeigt vor, wie das geht. Es ist unerträglich mitzuerleben, wie die ÖBB sich an "Beraterfirmen" wie McKinsey orientiert, statt an den Bedürfnissen Ihrer Fahrgästen und der vielen Pendler/Innen, die auf die Bahn angewiesen sind. Diese brauchen keinen freien Markt, sondern eine attraktives öffentliches Verkehrsmittel.

Wir fordern deswegen einen

Sofortigen Liberalisierungs- und Stilllegungsstopp!
Ausweitung des öffentlichen Verkehrsnetzes und Taktfahrplanes nach Schweizer Vorbild!
Mobilitätsabgabe statt teurer Fahrpreise!
Volksabstimmung über die Zukunft des öffentlichen Verkehrs!

Das sind die Forderung der Petition "Höchste Eisenbahn - Für eine Verkehrswende!", die von der Werkstatt Frieden & Solidarität gestartet worden ist. Bitte unterstützen und weiterempfehlen auf: http://www.werkstatt.or.at/Forum/PetitionEisenbahn.php

Rudi Schober


*


Quelle:
Werkstatt Rundbrief Nr. 8/2010 vom 2. Juni 2010
Werkstatt Frieden & Solidarität
Waltherstr. 15, 4020 Linz
Telefon 0732/771094, Fax 0732/797391
Mail: office@werkstatt.or.at
Internet: www.werkstatt.or.at


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juli 2010