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BERICHT/150: "Ein Hartz für Kinder" (FoodFirst)


FoodFirst Nr. 1/2008
FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte

"Ein Hartz für Kinder"
Recht auf Nahrung in Deutschland millionenfach verletzt

Von Armin Paasch


Über Kinderarmut wird in Deutschland seit Jahren lamentiert. Gemeint war meistens die niedrige Geburtenrate. Unlängst ist jedoch der zweite Wortsinn von Kinderarmut in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt: Jedes siebte Kind gilt hierzulande inzwischen offiziell als arm. Studien zeigen, dass auch das Menschenrecht auf angemessene Ernährung massiv verletzt wird.


Das Deutsche Kinderhilfswerk und andere Verbände schlagen Alarm. Über 2,5 Millionen, also 14 Prozent aller in Deutschland lebenden Kinder sind inzwischen auf Sozialgeld angewiesen und gelten offiziell als arm. In Ostdeutschland erreicht der Anteil fast ein Viertel und unter Kindern mit Migrationshintergrund erschütternde 40 Prozent. "Ein Hartz für Kinder" titelte die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) makaber in ihrer Mitgliederzeitschrift. Denn seit der Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld (ALG) II vor drei Jahren hat sich die Anzahl der von Sozialgeld abhängigen Kinder verdoppelt.


Ab dem vierten Geburtstag gibt's Schmalkost

Was heißt Armut für diese Kinder? Eine viel beachtete Studie des Forschungsinstituts für Kinderernährung Dortmund kommt zu einem schockierenden Befund: Mit den Regelsätzen des ALG II ist eine gesunde und ausgewogene Ernährung für Kinder ab vier Jahren selbst dann nicht erschwinglich, wenn die Eltern sorgfältig die Preise vergleichen. Für Nahrung und Getränke beträgt die Regelleistung für Kinder bis 13 Jahre ganze 2,57 Euro pro Tag. Allein zur Deckung des Kalorienbedarfs eines Vier- bis Sechsjährigen wären laut Studie aber mindestens 3,14 Euro erforderlich. An eine Schulmahlzeit ist da - ohne staatliche Unterstützung - erst gar nicht zu denken. Und da die Daten aus März 2004 stammen, sieht die Situation nach den erheblichen Preissteigerungen der letzten Jahre heute weit dramatischer aus. Kein Zweifel: Das Recht auf Nahrung dieser Kinder wird verletzt, denn erfüllt ist es laut UNO erst dann, wenn jeder Mensch "jederzeit physischen und wirtschaftlichen Zugang zu angemessener Nahrung" hat.

Knapsen müssen die Kinder nicht nur bei der Ernährung, sondern auch an Schulranzen, Stiften, Büchern und Medikamenten, von Kino oder gar Urlaub ganz zu schweigen. Auch für diese Ausgabeposten ist das Budget äußerst knapp bemessen. Ein Grund für die Misere: Der Regelsatz von monatlichen 347,- Euro für ALG II-EmpfängerInnen spiegelt nicht den tatsächlichen Bedarf an lebensnotwendigen Gütern wider, sondern orientiert sich an den Ausgaben der 20 Prozent einkommensärmsten Ein-Personen-Haushalte. Die aber sind schon fast per Definition arm und bieten eine denkbar schlechte Bemessungsgrundlage. Noch willkürlicher wird der Regelsatz für Kinder und Jugendliche festgelegt: 60 Prozent des Eckregelsatzes bis zum 14. Geburtstag, dann 80 Prozent. Dabei zeigt die Ernährungswissenschaft, dass der Energiebedarf von 15- bis 18-Jährigen sogar höher ist als bei Erwachsenen.


Wahlkampf für Kinderrechte?

Doch die Regelsätze sind nicht das einzige Problem. So macht der Darmstädter Sozialrichter Jürgen Borchert im Steuer- und Sozialrecht insgesamt eine strukturelle Benachteiligung von Familien mit Kindern aus. Kinder sind nicht nur überdurchschnittlich von Armut betroffen, sondern sie stellen ihrerseits für Familien ein hohes Armutsrisiko dar. "Tatsächlich hilft auch ein Durchschnittsverdienst von 30.000 Euro nicht zu einem Leben oberhalb des steuerlichen Existenzminimums, wenn zwei oder mehr Kinder zum Haushalt gehören", so Borchert. Kein Wunder also, dass 1,3 Millionen ArbeitnehmerInnen ihren Lohn durch Sozialleistungen aufstocken müssen, um wenigstens das offizielle Existenzminimum zu erreichen. Verantwortlich für diese hohe Zahl ist nicht zuletzt auch die 'Flexibilisierung' des Arbeitsmarkts in den letzten Jahren.

Was tun? Die Vorschläge der Sozialverbände reichen von der kostenlosen Schulspeisung über steuerliche Verbesserungen für Familien bis hin zur bedarfsorientierten Grundsicherung für Kinder- oder auch einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle. Die Medienberichte der letzten Monate haben auch die Politik aufgewühlt. Viele dieser Vorschläge wurden in (erfolglosen) Bundestagsanträgen der Grünen und der Linkspartei bereits im November 2007 aufgegriffen. Nun will auch SPD die Kinderrechte zu einem Schwerpunktthema machen. Warmlaufen für den Bundestagswahlkampf? Ein neuer Arbeitskreis von FIAN wird sich dafür einsetzen, dass es nicht bei der Rhetorik bleibt. Die Menschenrechtspakte der UNO gelten nicht nur für Brasilien und Sambia, sondern auch für Deutschland.

Der Autor ist Mitarbeiter von FIAN-Deutschland und Mitglied im neuen FIAN-Arbeitskreis Kinderrechte. Wer mitmachen möchte, kann sich an a.paasch@fian.de wenden.


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Quelle:
FoodFirst - FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte, Nr. 1/2008, S. 3
Herausgeber: FIAN-Deutschland e.V., Düppelstraße 9-11, 50679 Köln
Tel. 0221/702 00 72, Fax 0221/702 00 32
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Internet: www.fian.de

Erscheinungsweise: drei Ausgaben/Jahr
Einzelpreis: 4,50 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2008