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GRUNDSÄTZLICHES/052: Der "Mehrwert" des Menschenrechtsansatzes für die Sozialstaatsdebatte (FoodFirst)


FoodFirst Nr. 3/2011
FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte

Der "Mehrwert" des Menschenrechtsansatzes für die deutsche Sozialstaatsdebatte

von Tim Engel


Übernimmt sich FIAN, wenn wir uns seit einiger Zeit auch um die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung in Deutschland intensiver Gedanken machen? Gibt es nicht schon genug andere Organisationen, die etwa die komplizierte Berechnung vermeintlich ausreichenden Arbeitslosengeldes und der Leistungen für AsylbewerberInnen kritisch begleiten? Oder ist es gerade umgekehrt: hatten wir einen "blinden" Fleck bei unserer Arbeit und haben diese so vollständig auf andere Länder ausgerichtet, dass uns die angespannte soziale Lage im eigenen Land aus dem Blick geraten ist?


Alle drei Fragen sind berechtigt. Eine Antwort findet, wer erkennt, dass der aus dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) erwachsende Menschenrechtsansatz der deutschen Sozialstaatsdebatte einen "Mehrwert" bietet - und dass die Beschäftigung mit und Verbreitung dieses Mehrwerts für FIAN Deutschland unter mehreren Gesichtspunkten wichtig ist. Den Mehrwert zu finden ist dabei zunächst keine leichte Aufgabe. Deutschland ist ein Land mit einem - wohl noch immer - vergleichsweise hohen sozialen Standard, der abgesichert ist durch ein differenziertes Rechtssystem. An der Spitze dieses Systems steht das Grundgesetz mit seinem Grundrechtekatalog. Wie das Bundesverfassungsgericht am 9.2.2010 geurteilt hat, beinhaltet dieser Katalog auch ein unverfügbares "Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums".

Dieses führt nach Ansicht des Gerichts dazu, dass jeder in Deutschland lebende Mensch einen Rechtsanspruch u.a. auf diejenigen Mittel hat, die seine "physische Existenz" ermöglichen, darunter solche für Nahrung - wobei dieser Anspruch seinerseits zeitgebunden ist, also seiner Höhe nach von den Lebensbedingungen hierzulande abhängig sein soll. Genau an dieser Stelle setzt denn auch regelmäßig die - qualifizierte, an Statistiken und Berechnungsmethoden ausgerichtete - Kritik der Sozialverbände an, die beklagt, mit dem konkret zur Verfügung gestellten Geld lasse sich ein menschenwürdiges Dasein nicht bestreiten. Zugleich verharrt die Kritik allerdings auch oft in dem vom Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Denkschema. Jenes Schema ergibt sich aus der Geschichte des Grundgesetzes. Dieses wurde als Reaktion auf den 2. Weltkrieg geschaffen und beinhaltet in allererster Linie solche Grundrechte, die dem Einzelnen die Freiheit vor dem Staat sichern, also etwa die Freiheit, seine Meinung zu äußern oder das Recht, Eigentum zu haben (sogenannte "Abwehrrechte"). Das Recht, vom Staat - also letztlich von den Mitbürgern - etwas zu erhalten, ist hingegen eine relativ neue Ableitung aus den Grundrechten. Der Sozialpakt mit seinem Recht auf Nahrung ist demgegenüber ein Gesetz, das in Deutschland zwar formell unterhalb des Grundgesetzes rangiert, zugleich aber seiner Historie nach ein anderes Menschenbild transportiert. Dieses Menschenbild hat seine Wurzeln nicht allein im westlich-individualistischen Denken, sondern ist seinem Ausgangspunkt nach brüderlicher und zugleich stärker auf Emanzipation, Teilhabe, Selbstbestimmung und Förderung der optimalen Entfaltung jedes Menschen innerhalb der Gesellschaft gerichtet. So heißt es bereits in der Präambel zum Sozialpakt: "in der Erkenntnis, dass (...) das Ideal vom freien Menschen, der frei von Furcht und Not lebt, nur verwirklicht werden kann, wenn Verhältnisse geschaffen werden, in denen jeder seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ebenso wie seine bürgerlichen und politischen Rechte geniessen kann, (...)" Hieraus folgt, dass es auch in Deutschland z.B. einer ernsthaften Diskussion bedarf, ob Hartz-IV-Regelsätze eine echte Teilhabe und gleichwertige Inanspruchnahme aller Menschen- und Grundrechte ermöglichen oder ob Nahrungsmittelpakete oder -gutscheine für AsylbewerberInnen mit dem Menschenbild des Sozialpakts in Einklang zu bringen sind. In der Hinwendung zu diesem anderen Menschenbild liegt - kurz gefasst - der "Mehrwert" des Menschenrechtsansatzes für die deutsche (und im übrigen auch internationale) Sozialstaatsdebatte.

Bleibt abschließend die Frage, warum FIAN diesen "Mehrwert" einbringen sollte. Einerseits, weil er geeignet ist, die Debatte in der nationalen Politik tatsächlich voranzubringen - und schon jetzt auch von Mitgliedern FIANs und anderen BürgerInnen in Deutschland wahrgenommen und bei FIAN "abgefragt" wird. Und andererseits, weil "blinde Flecken" in der Eigenwahrnehmung nie gut sein können für die Glaubwürdigkeit des eigenen Forderns und Handelns gegenüber Dritten.


Tim Engel ist Vorstandsmitglied von FIAN Deutschland und Sprecher des Arbeitskreises Recht auf Nahrung in Deutschland.


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Quelle:
FoodFirst - FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte, Nr. 3/2011, November 2011, S. 6
Herausgeber: FIAN-Deutschland e.V., Briedeler Straße 13, 50969 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2012