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BERICHT/174: SPD-Plan von der "freiwilligen Wehrpflicht" (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 4 - September/Oktober 2007
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Das Reförmchen
Der SPD-Plan von der "freiwilligen Wehrpflicht"

Von Stefan Philipp


"Wer noch alle Tassen im Schrank hat, kann angesichts dieser terminologischen Chimäre nur noch in schallendes Gelächter ausbrechen." Mit solch beißendem Spott kommentierte Jürgen Rose, Oberstleutnant der Bundeswehr und seit Jahren der härteste Kritiker der Wehrpflicht innerhalb der Armee, den Beschluss des SPD-Vorstandes über die "freiwillige Wehrpflicht". Eine solche soll der Ende Oktober in Hamburg stattfindende SPD-Parteitag entsprechend dem Leitantrag "Gesellschaftliche Verankerung der Bundeswehr erhalten - Freiwilligkeit stärken" beschließen.

Was kann man sich unter dieser ominösen Verbindung von "Freiwilligkeit" und "Zwang" vorstellen. Die SPD erklärt das so: "Wir streben an, zum Dienst in den Streitkräften künftig nur noch diejenigen einzuberufen, die sich zuvor bereit erklärt haben, den Dienst in der Bundeswehr leisten zu wollen." Aha ...

Übersetzt will die SPD also folgendes: Die Wehrpflicht bleibt im Grundsatz bestehen, eine Grundgesetzänderung soll es nicht geben. Dort heißt es im Artikel 12a: "Männer können ... zum Dienst in den Streitkräften ... verpflichtet werden." Erhalten bleiben soll auch die zivile Wehrverwaltung, die über die Kreiswehrersatzämter die Musterungen durchführt, denn eine solche soll "beibehalten" werden. Was wegfällt, ist die zwangsläufige Einberufung zum Grundwehrdienst - wenn sich genügend freiwillig melden.

Am Prinzip Wehrpflicht würde sich also nichts ändern, in der Praxis wäre hingegen fast alles anders. Weil niemand mehr damit rechnen müsste, gegen seinen Willen zur Bundeswehr einberufen zu werden, müsste niemand mehr einen KDV-Antrag stellen - der Zivildienst fiele also weg, würde bzw. ebenfalls zu einer rein freiwilligen Veranstaltung umgewandelt werden.

Warum präsentiert die SPD-Führung einen solchen Vorschlag? Sie reagiert damit auf die seit Jahren anhaltende innerparteiliche Diskussion, in der sich mittlerweile zwei annähernd gleich große Lager gegenüberstehen. Das eine will - aus den unterschiedlichsten Gründen - an der Wehrpflicht festhalten, während das andere die Bundeswehr in eine reine Freiwilligenarmee umwandeln will. Die Abstimmung über einen Antrag auf Abschaffung der Wehrpflicht wäre also eine Zerreißprobe. Das Gerede von einer "intelligenten Weiterentwicklung der Wehrpflicht" ist also der klassische Formelkompromiss, der es beiden Seiten erlaubt, das Gesicht zu wahren - die Wehrpflicht bleibt grundsätzlich erhalten, faktisch wird die Bundeswehr zur Freiwilligenarmee.

Ein weiterer Vorteil dieser Lösung: Man müsste als Regierung nicht mehr lügen. Denn in der Realität ist die Bundeswehr schon heute eine Armee, in der die Wehrpflichtigen bedeutungslos sind. Von 250.000 SoldatInnen sind nur 30.000 Grundwehrdienstleistende. Daneben gibt zwar noch ca. 20.000 so genannte FWDL, freiwillig Wehrdienstleistende, die ihren neunmonatigen Grundwehrdienst bei besserer Bezahlung auf bis zu insgesamt 20 Monate verlängert haben, faktisch sind das aber Freiwillige und keine Wehrdienstleistenden. Bei somit 40.000 zwangsweisen Einberufungen pro Jahr über die Wehrpflicht und Jahrgängen, die ca. 400.000 junge Männer umfassen, stellt sich das Gerechtigkeitsproblem.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1978 klar entschieden: Dem Staat steht es frei, ob er die Bundeswehr über die Wehrpflicht oder als Freiwilligenarmee organisiert. Wenn er sich für die Wehrpflicht entscheidet, dann muss diese wegen des Gleichheitsgrundsatzes nach Artikel 3 des Grundgesetzes "gerecht" durchgeführt werden, es dürfen also nicht einzelne oder ganze Gruppen willkürlich von der Verpflichtung zur Wehrdienstleistung befreit werden, weil beispielsweise der Personalbedarf der Bundeswehr geringer ist als die Zahl der zur Verfügung Stehenden.

Genau eine solche Situation existiert aber seit Jahren, weshalb beim Verfassungsgericht bereits eine Vorlage des Verwaltungsgerichts Köln zur Entscheidung anhängig ist, das die "Wehrgerechtigkeit" nicht mehr gewährleistet sieht und deshalb die Wehrpflicht für nicht mehr verfassungsgemäß hält. Die Regierung geht diesem Gerechtigkeitsproblem bislang aus dem Weg und trickst mit allen Mitteln. So sind z.B. die Tauglichkeitskriterien so verändert worden, dass im ersten Halbjahr mehr als 46 Prozent aller Gemusterten für untauglich erklärt wurden - dass die Hälfte der Bevölkerung krank ist, kann aber niemand ernsthaft glauben.

Das Gerechtigkeitsproblem stellt sich auch noch in einer weiteren Frage. Während die Bundeswehr trotz der Tauglichkeitstricksereien nur noch den geringsten Teil der eigentlich zur Verfügung Stehenden einberuft, werden alle anerkannten Kriegsdienstverweigerer zum Zivildienst einberufen. Damit ergibt sich die absurde Lage, dass es weit mehr Zivis als Grundwehrdienstleistende gibt, soll doch der Zivildienst von der Grundgesetzsystematik her lediglich Ersatz für den verweigerten Wehrdienst sein. KDV-Organisationen wie z.B. auch die DFG-VK raten deshalb seit Jahren dazu, mit der KDV-Antragstellung abzuwarten, bis man tatsächlich einen Einberufungsbescheid zur Bundeswehr erhält. Die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer ist mittlerweile so problemlos geworden, dass praktisch jeder, der sich ernsthaft darum bemüht, dem Militärdienst entgehen kann.

Wie sehen die Realisierungschancen der freiwilligen SPD-Wehrpflicht aus? In dieser Legislaturperiode wird sich gar nichts verändern, weil sich die große Koalition auf die Wehrpflicht festgelegt hat und die CDU/CSU bislang daran nicht rütteln will. Nach der nächsten Bundestagswahl könnte sich die Lage allerdings völlig anders darstellen, weil alle drei jetzigen Oppositionsparteien für eine Abschaffung der Wehrpflicht eintreten. Es sind also keine Koalitionen denkbar, in der nicht mindestens ein Partner für eine Veränderung eintritt.

Bleibt die Frage, wie eine "freiwillige Wehrpflicht" aus pazifistisch-antimilitaristischer Sicht zu bewerten ist.

Krieg ist ein Verbrechen, die Dienstleistung dafür ebenfalls, also auch der Zwang zu einer solchen Kriegsdienstleistung. Daraus folgt als Hauptforderung, die nach der Abschaffung der Armee, daneben aber mindestens die nach der Abschaffung des Kriegsdienstzwangs, der Wehrpflicht. Insofern wäre die freiwillige SPD-Wehrpflicht ein erster kleiner Schritt. Ein Reförmchen eben.

Stefan Philipp ist Chefredakteur der ZivilCourage.


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Schwarzbuch Wehrpflicht

99 Fälle aus der Praxis

Vergessen wird bei der Diskussion über die Wehrpflicht meist die Sicht der Wehrpflichtigen selbst. Ihre Stimmen werden kaum wahrgenommen. Was bedeutet die Wehrpflicht für die Minderheit der jungen Männer, die noch einberufen werden? Verlust und Gefährdung des Arbeitsplatzes, Unterbrechung der Ausbildung, Willkür bei Musterung und Einberufung. Diese und andere Stichworte klingen deutlich anders als die Sonntagsreden für die Wehrpflicht.

Die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in der Bundesrepublik Deutschland und die Zentralstelle KDV haben die Stimmen der Wehr- und Zivildienstpflichtigen auf der Internetseite www.Forum-Wehrpflicht.de eingefangen und 99 davon zu einem Schwarzbuch Wehrpflicht zusammengestellt.

Das 76-seitige Schwarzbuch kann als PDF-Dokument aus dem Internet heruntergeladen werden:
www.zentralstelle-kdv.de


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 4 - September/Oktober 2007, S. 28-29
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
Kasseler Straße 1A, 60486 Frankfurt
Redaktion: ZivilCourage, Postfach 90 08 43, 21048 Hamburg
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Erscheinungsweise: zweimonatlich
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Einzelheft: 2,00 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. November 2007