Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → FRIEDENSGESELLSCHAFT

BERICHT/216: 60 Jahre Nato sind genug! (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 5 - November 2008
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

60 Jahre Nato sind genug!
Dem Kriegsbündnis mit breiten Massenprotesten entgegentreten!

Von Tobias Pflüger


Allen Kassandra-Rufen von ihrer bevorstehenden Auflösung zum Trotz entwickelt die Nato in den letzten Jahren eine beängstigend Kriegsdynamik. Das Bündnis rüstet sich auf breiter Front für künftige Kriege. Von einer atomaren Erstschlagstrategie über die Eskalation der Aufstandsbekämpfung in Afghanistan und der Intensivierung der Nato-EU-Zusammenarbeit bis hin zur institutionellen Runderneuerung: Gründe gibt es genug, dem 60-jährigen Jubiläum des Kriegsbündnisses, das am 3/4. April in Kehl und Straßburg begangen wird, mit massenhaftem Protest entgegenzutreten.

In einem Anfang des Jahres veröffentlichten Grundsatzpapier fünf hoher Nato-Strategen unter dem Titel "Fowards a new Grand Strategy" wird offen der nukleare Erstschlag propagiert: "Der Ersteinsatz von Nuklearwaffen muss im Arsenal der Eskalation das ultimative Instrument bleiben, um den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu verhindern." Solche Erstschläge sollen auch und vor allem gegen Staaten geführt werden können, die ihrerseits über keinerlei Atomwaffen verfügen - etwa dem Iran.

Da zum Atomschwert auch der passende Schild aufgebaut werden soll, wurde auf dem Gipfel in Bukarest Anfang April darüber hinaus beschlossen, die Planungen für den Aufbau eines flächendeckenden Nato-Raketenabwehrschildes zu intensivieren. Dieser Schild soll zusätzlich zu den ohnehin geplanten US-Einrichtungen in Polen und der Tschechischen Republik errichtet werden. Die Entscheidung hierfür basiert auf einer bis heute geheim gehaltenen Machbarkeitsstudie, mit deren Anfertigung die Nato ausgerechnet ein Konsortium verschiedener Rüstungsfirmen betraute. Die Rüstungskonzerne beziffern die Gesamtkosten auf etwa 20 Milliarden Euro, die der deutschen Bundesregierung zuarbeitende Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) geht sogar vom doppelten Betrag für dieses destabilisierende Projekt aus.

Der westliche Nato-Militäreinsatz in Afghanistan hat eine schreckliche Eskalationsspirale in Gang gesetzt. Seit die Nato-Truppe Isaf immer offensiver vorgeht, steigen parallel dazu die bewaffneten Auseinandersetzungen und die Todesopfer unter der afghanischen Bevölkerung dramatisch an.

Unter der militärischen Besatzung wurden marktliberale Wirtschaftsstrukturen aufgebaut, die gänzlich ungeeignet sind, die schreiende Armut in Afghanistan zu verringern. Laut UNDP hat sich die humanitäre Lage seit Beginn des Nato-Einsatzes sogar verschlechtert: 61 Prozent der Bevölkerung sind chronisch unterernährt, 68 Prozent verfügen über keinen Zugang zu Trinkwasser. Selbst was die Frauenrechte anbelangt, sind laut UNDP nur minimale Verbesserungen zu verzeichnen.

Die Nato-Besatzung ist das Problem und nicht die Lösung für dieses geschundene Land. Deshalb ist ein sofortiger Truppenabzug dringend erforderlich. Stattdessen will die Nato noch mehr Truppen ins Land entsenden. Auch die deutsche Bundesregierung hat sich dazu entschlossen, "robustere Maßnahmen ins Zentrum zu rücken", wie es Verteidigungsminister Franz-Josef Jung bereits im März ankündigte.

Über die in Afghanistan praktizierte zivil-militärische Zusammenarbeit wird selbst die Entwicklungshilfe in die Nato-Kriegsanstrengungen eingebunden. So kritisierte Caritas International im Juni, dass die Ausschüttung der Hilfsgelder nicht an den tatsächlichen Hilfs-Bedarf gekoppelt ist, sondern sich vielmehr an der Aufstandsbekämpfung orientiert." Auf dem Bukarester Nato-Gipfel im April wurde beschlossen, einen - ebenfalls geheim gehaltenen - "Aktionsplan" zu implementieren, mit dem die zivilmilitärische Aufstandsbekämpfung generell zum Operationsschwerpunkt aktueller und künftiger Nato-Missionen gemacht werden soll.

Schon kurz nach seiner Amtseinführung startete der frisch gewählte französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy eine regelrechte Charmeoffensive: Er kündigte an, sein Land werde nach über 40-jähriger Abwesenheit wieder voll in die integrierten militärischen Strukturen der Nato zurückkehren. Zwar arbeiten beide Organisationen schon heute Hand in Hand zusammen, etwa im Rahmen des Berlin-Plus-Abkommens, mit dem die EU für ihre Einsätze auf Nato-Ressourcen zurückgreifen kann. Frankreich, das bis zum Jahresende die EU-Ratspräsidentschaft innehat, will nun jedoch die Kooperation auf allen Ebenen weiter intensivieren. Hierfür schlägt die Stiftung Wissenschaft und Politik eine stärkere institutionellen Verzahnung beider Organisationen vor, indem eine "zivil-militärische Planungs- und Führungsfähigkeit in der Nato" aufgebaut wird, mit der "die zivilen und die militärischen Fähigkeiten der EU sowie die militärischen Fähigkeiten der Nato an einem Ort koordiniert würden. [...] Unter dem Stichwort 'Berlin Plus Reversed' könnte der Nato die Möglichkeit eingeräumt werden, auf zivile Fähigkeiten der EU zurückzugreifen."

Pünktlich zum 60-jährigen Jubiläum im nächsten Jahr will die Nato ein neues strategisches Konzept verabschieden oder zumindest auf den Weg bringen. Das erwähnte Grundlagendokument "Towards a New Grand Strategy" schlägt hierfür eine Reihe von Maßnahmen vor, u.a. dass ein UN-Mandat für künftige Nato-Kriege nicht mehr erforderlich sein soll. Besonders hervorstechend ist auch die Forderung, dass die Allianz künftig "das Konsensprinzip auf allen Ebenen unterhalb des Nato-Rates aufgibt und auf Komitee- und Arbeitsgruppenebene Mehrheitsentscheidungen einführt." Weiter wird dort propagiert, Ländern, die sich nicht an einer Mission beteiligen wollen, künftig jegliche Mitspracherechte aberzukennen - nur wer mitkämpft, soll auch mitbestimmen: "Es oblag schon immer den einzelnen Staaten, welche Kapazitäten und Truppen sie beitragen wollen. Aber Länder, die keine Truppen beitragen, sollten auch kein Mitspracherecht hinsichtlich militärischer Operationen erhalten. Aus diesem Grund schlagen wir [...] vor, dass nur die Staaten, die zu einer Mission beitragen - das bedeutet militärische Kräfte in einer Militäroperation - ein Mitspracherecht bezüglich dieser Operation erhalten."

Inwieweit diese und andere Forderungen in ein neues strategisches Konzept übernommen werden, ist gegenwärtig noch unklar, sie dürften aber in der anstehenden Debatte eine wichtige Rolle spielen.

Die Nato wird - voraussichtlich - am 3/4. April in Strassburg und Kehl ihr 60-jähriges Bestehen feiern. Das ist auch eine Einladung an uns, die Friedens- und Antikriegsbewegung. Die Nato steht für militärische Durchsetzung westlicher Interessen, sie ist und wird immer mehr ein Kriegsführungsbündnis. Wir sollten eine Kampagne zur Delegitimierung der Nato starten, sie ist überflüssig und muss aufgelöst werden. Höhepunkt der Kampagne könnten dann internationale Proteste gegen den Jubiläums-Gipfel in Straßburg und Kehl sein.


Tobias Pflüger ist DFG-VK-Mitglied und Mitglied des Europäischen Parlaments.


*


Quelle:
ZivilCourage Nr. 5 - November 2008, S. 10
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
Kasseler Straße 1A, 60486 Frankfurt
Redaktion: ZivilCourage, Postfach 90 08 43, 21048 Hamburg
Tel. 040/18 05 82 87, Telefax: 01212/571 94 60 95
E-Mail: zc@dfg-vk.de
Internet: www.zc-online.de

Erscheinungsweise: zweimonatlich
Jahres-Abonnement: 12,00 Euro einschließlich Porto
Einzelheft: 2,00 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. November 2008