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BERICHT/231: Das Recht und die Pflicht zur Kriegsdienstverweigerung (Zivilcourage)


ZivilCourage Nr. 1 - Februar/März 2009
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Das Recht und die Pflicht zur Kriegsdienstverweigerung
Auszüge aus der Studie zur KDV in Europa

Vorwort von Tobias Pflüger


Die Militärs der Europäischen Union professionalisieren sich, daran gibt es keinen Zweifel. Mehr und mehr Länder schaffen die Wehrpflicht ab oder setzen diese aus - im nächsten Jahr Polen, und danach Schweden. Damit reduziert sich die Anzahl der Länder in der EU, die an der Wehrpflicht festhalten, auf acht (neun, wenn die Kandidatenländer mitgezählt werden). Und auch die Länder, die an der Wehrpflicht festhalten, reduzieren mehr und mehr den Militärdienst, und erhöhen den Anteil der BerufssoldatInnen: In Österreich, Finnland und Griechenland sind es fast 50 %, in Estland 60 %, und in Deutschland mehr als 75 %. De facto spielen damit in den meisten Wehrpflichtarmeen der EU die Zeit- oder Berufssoldaten die militärisch wichtige Rolle.

Damit einher geht, dass mehr und mehr militärisch interveniert wird, im Rahmen der Nato, der EU, der Vereinten Nationen oder Ad-hoc-Koalitionen. So gut wie alle Armeen der Mitglieds- und Kandidatenländer der EU sind militärisch im Ausland engagiert: Bulgarien, Dänemark, Estland, Großbritannien, Lettland, Litauen, Mazedonien, Polen, Rumänien und die Tschechische Republik haben Truppen im Irak, alle EU-Länder mit Ausnahme von Malta und Zypern beteiligen sich am Nato-Einsatz in Afghanistan, und Belgien, Kroatien, Zypern, Frankreich, Mazedonien, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Irland, Italien, Luxemburg, Polen, Portugal, Slowenien, Spanien und die Türkei beteiligen sich am Uno-Einsatz Unifil im Libanon; so weit die unvollständige Liste.

Mit zunehmenden militärischem Engagement ist das Recht auf KDV - erkämpft in allen EU-Ländern zumindest für Wehrpflichtige in einem jahrzehntelangen Kampf der KDV-Bewegungen - umso wichtiger. Auch wenn sich die EU offiziell zum Recht auf KDV bekennt, so sieht die Praxis doch anders aus.

Das Ende der Wehrpflicht bedeutete in vielen Fällen auch das Ende des Rechts auf KDV, denn die meisten Länder erkannten und erkennen dieses Recht nur unvollständig und nur für Wehrpflichtige an. (...)

Es zeigt sich, dass es heutzutage mit diesem Recht in der Europäischen Union nicht mehr weit her ist. Die meisten Länder der EU sind weit davon entfernt, die bestehenden internationalen Standards (...).

Die parlamentarische Versammlung des Europarates forderte in einer Entschließung zu "Menschenrechten in den Streitkräften" vom 24. März 2006, von den Mitgliedstaaten "in ihre Gesetzgebung das Recht einzuführen, sich zu jeder Zeit als Kriegsdienstverweigerer registrieren zu lassen, vor, während und nach der Ableistung des Wehrdienstes, sowie das Recht von Berufssoldaten, die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu erhalten". Bereits die Empfehlung 1518 von 2001 empfahl den Mitgliedern des Europarates, das Recht auf KDV auch für BerufssoldatInnen anzuerkennen. Dieses Recht kann potenziell ein Hindernis bei den immer wilderen militärischen Abenteuern der Europäischen Union bilden. Es ist daher notwendig, dass die Friedens- und Antikriegsbewegungen, und insbesondere die KDV-Bewegungen, sich nach der Abschaffung oder Aussetzung der Wehrpflicht verstärkt für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung für Zeit- und BerufssoldatInnen einsetzen, und eine aktive Antirekrutierungs- und SoldatInnen-Arbeit betreiben. Dafür bietet diese Broschüre Hintergrundinformationen.


Zusammenfassung

Diese Broschüre gibt einen Überblick über den Stand des Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung in der Europäischen Union, einschließlich der Kandidatenländer Kroatien, Türkei und FYROM (Mazedonien). Die Broschüre wurde in enger Zusammenarbeit mit der War Resisters' International (WRI) erstellt, und baut auf der weltweiten Übersicht über die Situation der Kriegsdienstverweigerer auf, die von der War Resisters' International 1998 erstellt wurde und deren Aktualisierung vorgenommen vom Quaker Council for European Affairs (QCEA) 2005. Für diese Broschüre wurde die Übersicht grundlegend aktualisiert, überarbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht, da sich seit 2005 die Situation in vielen Ländern beträchtlich verändert hat. Erstmalig wird mit dieser Broschüre der Versuch unternommen, systematisch auch Informationen zum Recht auf Kriegsdienstverweigerung für Zeit- und BerufssoldatInnen bereitzustellen, wobei deutlich wird, dass es zu dieser Frage erhebliche Wissenslücken gibt. Auf einen Fragebogen an die Botschaften aller relevanten Länder, der von der WRI im November 2007 verschickt wurde, gab es lediglich fünf Rückmeldungen (Dänemark, Irland, Österreich, Türkei und Ungarn), und auch diese waren in ihrem Informationsgehalt oft unbefriedigend und trugen wenig zur Erhellung der Situation bei. Es lässt sich also schon jetzt feststellen, dass es zu diesem Thema auch weiterhin einen Recherchebedarf gibt. Erschwerend kommt hinzu, dass in einigen Ländern die Situation derzeit im Fluss ist (Polen, Schweden), und es daher sehr schwierig ist, handfeste Informationen zu bekommen.


Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im internationalen Recht

Das Recht auf KDV ist aus Artikel 18 des Internationalen Paktes zu bürgerlichen und politischen Rechte (Internationaler Zivilpakt) sowie Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention abgeleitet, die sich mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit befassen. Auch wenn Artikel 10 der geplanten Europäischen Grundrechtecharta das Recht auf KDV anerkennt, so geschieht dies nur nach Maßgabe von Ländergesetzen. Artikel 10 selbst formuliert keine Standards zum Recht auf KDV. Aus diesem Artikel ein Argument für den in Irland berechtigterweise abgelehnten Lissaboner Vertrag abzuleiten ist deshalb politisch nicht logisch. Der Lissaboner Vertrag ist und bleibt ein EU-Vertrag neoliberaler und militärischer Ausrichtung.

Auf globaler Ebene haben sowohl die (ehemalige) Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, das damals höchste UN-Forum zum Thema Menschenrechte, bestehend aus RegierungsvertreterInnen, als auch das Menschenrechtskomitee, das ExpertInnenkomitee der Vereinten Nationen, das den Internationalen Zivilpakt interpretiert, sich mehrfach mit der Frage der KDV beschäftigt. Seit 1989 haben Resolutionen der Menschenrechtskommission (verabschiedet ohne Abstimmung) das Recht, "im Rahmen der legitimen Ausübung des Rechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit aus Gewissensgründen den Militärdienst zu verweigern", anerkannt. Das Menschenrechtskomitee betrachtet KDV als eine geschützte Form des Ausdrucks (religiöser) Überzeugung im Rahmen des Artikel 18 Abschnitt 1 des Zivilpaktes. In seiner jüngsten und eindeutigsten Entscheidung zu diesem Thema (Mr. Yeo-Bum Yoon and Mr. Myung-Jin Choi vs. Republic of Korea) entschied das Komitee, dass die Republik Korea Artikel 18 verletzt hat, indem sie in den zur Frage stehenden Fällen das Recht auf KDV nicht anerkannt hat. Die Menschenrechtskommission erkannte in ihrer Resolution von 1998 auch an, "dass im Militärdienst stehende Personen dazu gelangen können, diesen Dienst aus Gewissensgründen zu verweigern". Folglich muss ein Antrag auf KDV zu jeder Zeit - vor, während und nach der Ableistung des Militärdienstes, und auch für BerufssoldatInnen - möglich sein. Ähnlich formulierte es das Europaparlament in einer Resolution von 1989, wenn es "das Recht aller Wehrpflichtigen, zu jeder Zeit den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern", forderte.

Konsequenterweise forderte die parlamentarische Versammlung des Europarates in einer Entschließung zu Menschenrechten in den Streitkräften vom 24. März 2006 von den Mitgliedstaaten, "in ihre Gesetzgebung das Recht einzuführen, sich zu jeder Zeit als Kriegsdienstverweigerer registrieren zu lassen, vor, während und nach der Ableistung des Wehrdienstes, sowie das Recht von BerufssoldatInnen, die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu erhalten". Bereits die Empfehlung 1518 von 2001 empfahl den Mitgliedern des Europarates, das Recht auf KDV auch für BerufssoldatInnen anzuerkennen.


Die Praxis in der EU

Die Praxis in den Ländern der Europäischen Union und den Kandidatenländern weicht jedoch erheblich vom Stand des internationalen Rechtes ab. Die gröbsten Verstöße sind:

• Das Kandidatenland Türkei erkennt das Recht auf KDV weder für Wehrpflichtige, noch für Zeit- und BerufssoldatInnen an. Kriegsdienstverweigerer werden mehrfach inhaftiert und verurteilt.

• Griechenland und Finnland haben einen zivilen Ersatzdienst, der in der Praxis fast doppelt so lang ist wie der Militärdienst. In Griechenland kommt hinzu, dass nichtreligiöse Verweigerer selten anerkannt werden.

• In zahlreichen Ländern der Europäischen Union werden totale Kriegsdienstverweigerer, die auch einen zivilen Ersatzdienst aus Gewissensgründen ablehnen, inhaftiert. Derzeit ist die Situation insbesondere in Deutschland und Finnland problematisch.

• Die große Mehrheit der Länder, die die Wehrpflicht beibehalten, begrenzen die Möglichkeit eines Antrages auf KDV auf die Zeit vor der Einberufung, erlauben also dienenden Wehrpflichtigen sowie ReservistInnen kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung.

• Bis auf drei Länder - Deutschland, die Niederlande und Großbritannien - erkennt keines der untersuchten Länder das Recht auf KDV auch für Zeit- und BerufssoldatInnen an.

• In Großbritannien haben BerufssoldatInnen zwar ein Recht auf KDV, amtliche und öffentliche Informationen dazu gibt es jedoch quasi nicht.

Dies zeigt, dass es auch innerhalb der EU einen erheblichen Handlungsbedarf gibt, um das Recht in den Mitglieds- und Kandidatenländern in Einklang mit internationalen Standards zu bringen. Dies gilt insbesondere für die Frage der KDV für BerufssoldatInnen, ein Thema, das mit dem Trend zur Abschaffung oder Aussetzung der Wehrpflicht zunehmend wichtiger wird.


Schlussfolgerungen

Im wesentlichen unbemerkt geht mit dem Trend zur Professionalisierung der europäischen Armeen eine andere Entwicklung einher: Das in der Europäischen Union weit verankerte Recht auf KDV für Wehrpflichtige wird ausgehöhlt. Es steht für BerufssoldatInnen in der Regel nicht zur Verfügung. Auch die Ausgestaltung des KDV-Rechtes für Wehrpflichtige in den einzelnen Mitglieds- und Kanidatenländern entspricht oft nicht den internationalen Standards. Mit dem zunehmenden Einsatz professionalisierten Militärs im Rahmen der Nato, der EU oder der Vereinten Nationen (oder auch von ad-hoc-Koalitionen) ist jedoch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung für die betroffenen SoldatInnen wichtiger als je zuvor.


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Tobias Pflüger
Mitglied des Europäischen Parlaments und der DFG-KV

Desaströse Lage der KDV in Europa

Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten schicken immer mehr Truppen in Auslandseinsätze. Regelungen für Soldaten, die im Einsatz den Kriegsdienst verweigern wollen, gibt es allerdings nicht, weder EU-weit noch in den meisten EU-Mitgliedsstaaten. Dies ist eines der Ergebnisse einer öffentlichen Anhörung, die am 22. Januar im Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung (SEDE) des Europäischen Parlamentes zur KDV stattfand.

Der Experte Andreas Speck von der WRI (War Resisters' International) legte detailliert die desaströse Lage bzgl. KDV insbesondere von Berufssoldaten in den EU-Mitgliedstaaten dar. So gibt es nur in den Niederlanden, Deutschland und Großbritannien überhaupt das Recht für Berufssoldaten zu verweigern. Alle anderen 24 EU-Mitgliedsstaaten kennen dieses Grundrecht nicht. Dies widerspricht der Resolution der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, die 1998 zum Schluss gekommen ist, "dass im Militärdienst stehende Personen dazu gelangen können, diesen Dienst aus Gewissensgründen zu verweigern."

Der Friedensforscher Prof. Johan Galtung stellte zu Beginn der Anhörung klar, dass nicht diejenigen, die den Kriegsdienst verweigern, erklären müssen, warum sie dies tun. Die Beweislast liegt vielmehr bei den Regierungen der Staaten auch der EU, die meinen, es gäbe für Soldaten ein Recht zu töten. Es gibt nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht zur Kriegsdienstverweigerung.

Dem kann man nur zustimmen. Es müssen diejenigen unterstützt werden, die sich in den EU-Staaten nicht an Kriegen beteiligen wollen, ob dies eindeutig illegale Kriege wie der Irak- und Afghanistankrieg sind oder die immer häufigeren EU-Militäreinsätze.

Um dieses Anliegen zu unterstützen, wurde nun eine umfangreiche Studie zur KDV in der EU und den EU-Kandidatenländern in englisch mit deutscher Einleitung und Zusammenfassung (die hier auszugsweise dokumentiert werden) publiziert, die kostenlos (gegen Porto) auch in größeren Stückzahlen unter folgender Adresse bezogen werden kann: Regionalbüro Tobias Pflüger. Hechingerstraße 203, 72072 Tübingen. Ein Download der 60-seitigen Broschüre als PDF-Dokument aus dem Internet ist möglich unter: www.wri-irg.org/pdf/eu-rtba2008update-en.pdf


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 1 - Februar/März 2009, S. 22 - 23
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
Kasseler Straße 1A, 60486 Frankfurt
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2009