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BERICHT/233: Fragen und Perspektiven nach den Anti-Nato-Protesten (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 2 - Mai 2009
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Fragen und Perspektiven nach den Anti-Nato-Protesten

Von Stefan Philipp


Die Demonstration in Straßburg war ein Desaster - für die Friedensbewegung und die Delegitimierung des Nato-Kriegsbündnisses. Grund genug, die Diskussion darüber, wie und mit wem in Zukunft demonstriert werden soll, intensiv zu führen - und klare Entscheidungen zu treffen: Keine - weil falsche - Solidarität mit Gewalttätern!


Nicht nur die Nato feierte Geburtstag. Zwei Wochen vor dem Nato-Gipfel in Straßburg, Kehl und Baden-Baden beging der Bund für Soziale Verteidigung, in dem auch die DFG-VK Mitglied ist, sein 20-jähriges Bestehen. Der Gründungsvorsitzende Theo Ebert hielt unter der Überschrift "Gewaltfrei und demokratisch" den Festvortrag, in dem er sich ausführlich mit Herkunft und Zukunft des BSV beschäftigte. Dabei kam der "Vater der sozialen Verteidigung in Deutschland" auch auf die bevorstehenden Anti-Nato-Proteste zu sprechen:

"Wenn man sich nach den pazifistischen Alternativkonzepten zur Nato umsieht, findet man wenig Konstruktives. In dem Aufruf, der zu Aktionen gegen das 60-jährige Jubiläum der Nato auffordert, ist man sich nur in den Negationen, nicht aber in den Positionen einig. Das ist auch kein Wunder, wenn man auf das Sammelsurium der Unterzeichner achtet. Bei einigen Organisationen gruselt es mir."

Nach dem 4. April hat das Gruseln viele andere erfasst. Nach massiven Gewalttaten der beiden "schwarzen Blöcke" - auf Seite der Polizei und der der Demonstranten; Opfer beider: friedliche Demo-Teilnehmer - stellt sich für die Friedensbewegung die Frage: Wie und mit wem will sie zukünftig demonstrieren?

Das intensive Nachdenken darüber hat bereits begonnen und es kursieren zahlreiche kluge und inhaltlich gute Papiere aus verschiedenen Spektren. Klar scheint danach zu sein: Es reicht nicht mehr aus, eine Verständigung über das Ziel einer gemeinsamen Aktion in einem Bündnis zu finden, mindestens genau so wichtig ist der Konsens darüber, wie dieses Ziel erreicht werden soll.

Diese Diskussionspapiere sollen hier nicht referiert werden - jede und jeder kann sie nachlesen, z.B. unter www.zc-online.de/nato-auswertung. An dieser Stelle sollen einige Aspekte aus DFG-VK-spezifischer Sicht thematisiert werden; orientiert also an der Gewaltfreiheit und am Programm der DFG-VK, das davon ausgeht, dass der "politische Pazifismus kein spezifisches politisches oder soziales System" propagiert, "aber als entscheidende Kriterien für die Fortentwicklung von Politik und Gesellschaft die Durchsetzung der Menschenrechte, die innergesellschaftliche Toleranz und den Schutz von Minderheiten sowie den Abbau struktureller Gewalt" erkennt, wozu "eine maximale Beteiligung aller an politischen Entscheidungen und die umfassende Demokratisierung politischer Strukturen" gehören.

Wenn die Friedensbewegung (oder auch andere Bewegungen oder Gruppen) zu einer "Demo" aufruft, was will sie damit? Sie will auf etwas hinweisen, etwas zeigen, etwas darlegen, etwas beweisen - ganz im Sinne des lateinischen Verbs demonstrare, oder, wie es der Duden beschreibt, "seine Einstellung für oder gegen etwas in auffälliger Weise öffentlich zu erkennen geben". Das scheint uns eine selbstverständliche Ausdrucksform zu sein, ein unzweifelhaftes Recht.

Dass es das nicht ist, zeigt der Blick in totalitäre Staaten. Die als Grundrechte garantierte und geschützte Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist auch eine Konsequenz aus der NS-Diktatur, was nicht geringgeschätzt und kampflos aufgegeben werden sollte. Egal, wie man zum Staat Bundesrepublik Deutschland steht - und es besteht wohl Einigkeit in der Friedensbewegung, dass sie bei allen Missständen und aller Kritik jedenfalls kein diktatorischer, totalitärer Staat ist -, wäre es fahrlässig und dumm, die staatlichen Vertreter aus ihrer Verpflichtung zu entlassen, sich an ihre eigene Geschäftsgrundlage zu halten. Diese ist im Wesentlichen, dass "Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung" an das Recht jedes Einzelnen auf freie Meinungsäußerung, das Recht "aller Deutschen, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln" sowie die anderen Grundrechte "als unmittelbar geltendes Recht gebunden" sind.

Freilich: "Für Versammlungen unter freiem Himmel" bestimmt Artikel 8 Absatz 2 des Grundgesetzes, dass das Versammlungsrecht "beschränkt" werden kann. Diese Beschränkungen dürfen aber ganz sicher nicht so weit gehen, dass vom Demonstrationsrecht nichts mehr übrig bliebe. Der Artikel von Monty Schädel auf Seite 12 dieses Hefts schildert die Auflagen, die für die Demonstrationen in Baden-Baden und Kehl verfügt wurden. Sie machen deutlich, dass damit die "freie Meinungsäußerung" unter "freiem Himmel" exzessiv be-, wenn nicht gar verhindert werden sollte. Nach dem Geist dieser Restriktionen sollte man wohl schweigend, im Schritttempo und nackt demonstrieren (was dann aber wohl wegen "Erregung öffentlichen Ärgernisses" wiederum verboten würde). Das Land Baden-Württemberg, nach dessen Versammlungsgesetz die Rahmenbedingungen der Demos geregelt wurden, probiert hier etwas, womit Bayern vor dem Bundesverfassungsgesetz bereits Schiffbruch erlitten hat. Dass eine Klage gegen die Auflagen erst in Monaten entschieden würde, ist natürlich Kalkül. Warum aber haben die Veranstalter nicht wenigstens versucht, einstweilige Anordnungen gegen einzelne oder alle Auflagen zu erwirken?

Dass das Bundesverfassungsgericht dem Demonstrationsrecht einen hohen Stellenwert beimisst, ist seit der berühmten Brokdorf-Entscheidung von 1985 bekannt. Dort heißt u.a.: "Das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv am politischen Meinungsbildungsprozess und Willenbildungsprozess teilzunehmen, gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. Diese grundlegende Bedeutung des Freiheitsrechts ist vom Gesetzgeber beim Erlass grundrechtsbeschränkender Vorschriften sowie bei deren Auslegung und Anwendung durch Behörden und Gerichte zu beachten." Und weiter: "Die staatlichen Behörden sind gehalten, nach dem Vorbild friedlich verlaufender Großdemonstrationen versammlungsfreundlich zu verfahren und nicht ohne zureichenden Grund hinter bewährten Erfahrungen zurückzubleiben. Je mehr die Veranstalter ihrerseits zu vertrauensbildenden Maßnahmen oder zu einer demonstrationsfreundlichen Kooperation bereit sind, desto höher rückt die Schwelle für behördliches Eingreifen wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit."

Mit einer solchen Kooperation ist sicherlich ein höchst problematischer Bereich angesprochen, stellt sie doch die Frage, welche Position die Friedensbewegung zum bundesdeutschen Staat beziehen will.

Der DFG-VK-Bundesgeschäftsführer Monty Schädel hat eine umfangreiche Erfahrung in der Organisation von Demonstrationen und Protestaktionen. Bereits vor zwei Jahren war bei allen Verhandlungen mit den Behörden wegen der globalisierungskritischen Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm beteiligt, ebenso wie nun in der Vorbereitung der Anti-Nato-Proteste.

In einer ersten Auswertung kam er Mitte April zu dieser Einschätzung: "Wer heute noch an eine Partnerschaft mit einer Behörde oder der Polizei glaubt, egal ob sie in Anzug und Hemd, der dunkelblauen oder schwarzen Kampfuniform mit Waffen, Schild und Helm oder aber mit bunten Westen als Konfliktmanager daherkommen, sollte sich aus gesellschaftlichen Auseinandersetzungen heraus halten." Die Bereitschaft zu einer Kooperation - diese hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Brokdorf-Urteil von beiden Seiten verlangt - vermochte er nicht zu erkennen, sondern sieht ein System "gegen uns zur Durchsetzung der Regierungspolitik aus Krieg, Militarisierung der Gesellschaft, Abbau von Grund- und Freiheitsrechten, Minimierung sozialer Rechte und Kriminalisierung dagegen gerichteter Bewegung." Dieses wirke unabhängig vom Willen einzelner Akteure der Gegenseite, von denen es einige geben mag, die zu einer Partnerschaft bereit wären.


KONFLIKTMANAGEMENT

Was mir neben den viel zu vielen Polizisten in grün aufgefallen ist, waren die Konfliktmanager, bestimmt ca. 30. Einer hatte sogar einen Friedenstaube-Button. Ich weiß, dass einige Demonstranten diese Beamten als eher störend empfunden haben. Bei mir, als jemand, der sich mit ziviler Konfliktbearbeitung beschäftigt, hat deren Anwesenheit eher positive Gefühle ausgelöst. Ich habe mich daran erinnert gefühlt, dass der Bund für Soziale Verteidigung einst an der Polizeischule Hiltrup den Polizisten erklärt hat, wie gewaltfreie Konfliktbearbeitung funktioniert. Ich halte die inzwischen verbreiteten Deeskalationsstrategien für den richtigen Umgang mit Konflikten. Das große Problem ist natürlich, dass es diese martialischen und provozierenden Auftritte der Polizei nicht gänzlich ersetzt - und dass diese Konfliktmanager eben nur für die Demonstranten zuständig sind und nicht in eskalierende und provozierende Polizeiarbeit eingreifen dürfen. Dennoch: Dieser Ansatz ist der einzig richtige; und in seiner Funktion, weniger in seinen Mitteln ist er vergleichbar mit der Clown Army auf Demonstrantenseite: für Entspannung und Deeskalation zu sorgen, statt - wie die Franzosen auf der anderen Seite des Rheins - Gewalt sprechen zu lassen.

Stephan Brües, ZivilCourage-Redakteur und Vertreter der DFG-VK beim Bundes für Soziale Verteidigung


Checkliste - Umgang mit Störern

Im Rahmen Ihres Einsatzes werden Sie es vermutlich auch mit Störern dieser Veranstaltung zu tun haben. Die überwiegende Mehrzahl nutzt dabei friedliche Mittel, um ihre Ablehnung zu zeigen. Das ist grundsätzlich legitim und ein wesentlicher Bestandteil einer funktionierenden Demokratie.

Es ist grundsätzlich ein höfliches, freundliches und kompetentes, aber auch konsequentes Auftreten anzustreben. Die Beachtung der nachfolgenden Punkte soll Sie hierbei unterstützen:

Handlungsempfehlungen
Lassen Sie sich nicht provozieren. Bleiben Sie ruhig.
Schaffen Sie Transparenz auch gegenüber der Öffentlichkeit und den. Medien - für die polizeilichen Maßnahmen.
Geben Sie, wann immer nötig, klare Anweisungen und setzen Sie Grenzen. Es gibt keine Sonderrechte für bestimmte Gruppen.
Erläutern Sie den Grund des Einschreitens und zeigen Sie verschiedene Lösungsmöglichkeiten auf.
Erläutern Sie die Konsequenzen einer Weigerung und benennen Sie eine Zeitrahmen bis zur polizeilichen Umsetzung der angekündigten Maßnahme.
Lockern Sie die Atmosphäre durch kommunikatives Auftreten auf. Signalisieren Sie Gesprächsbereitschaft.

Aus: Polizei Baden-Württemberg, BAO Atlantik. Einsatzhandbuch zum NATO-Gipfel am Oberrhein 3./4 April 2009


Peter Strutynski, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag hat in seinen Überlegungen "Wie weiter nach Strasbourg?" formuliert, dass die Friedensbewegung "bekanntlich vor allem darauf" setzt, sich "in der Öffentlichkeit verständlich zu machen. Nur so sind Veränderungen in den Köpfen der Menschen, in den gesellschaftlichen 'Großgruppen' (z.B. Gewerkschaften, Kirchen) und schließlich auch im parlamentarischen Bereich zu erzielen." Richtig, und deshalb: So wenig man sich als Gewaltfreier von so genannten Militanten vorzuwerfen lassen braucht, man sei naiv (weil man weiß, dass dass die gewaltbefürwortende und -ausübende Militanz genau das hervorruft, ausübt und bewirkt, was sie bekämpfen will), sollte man in ein Schwarz-weiß-denken verfallen.

Niemand kann Monty Schädel seine Erfahrungen absprechen. Aber in seinem eigenen Auswertungspapier wirbt er im Blick auf die notwendige Aufarbeitung dafür, "dass nicht alle subjektiven Eindrücke generalisiert werden können." In der Tendenz hat er sicherlich Recht, aber wo waren im Vorfeld oder auch kontinuierlich die Kontakte zu den DGB-Kollegen der Gewerkschaft der Polizei? Sicherlich kein einfacher Kontakt, zumal dann, wenn man vom GdP-Vorsitzenden Freiberg in seiner Presseerklärung vom 4. April lesen muss, dass er den "Polizeieinsatz auf deutscher Seite des Nato-Gipfels" als "vorbildlich" beschreibt. Dennoch ein zwar schwieriger, aber unerlässlicher Kontakt.

Oder wo war im Vorfeld das Gespräch mit der FDP, die in Baden-Württemberg an der Regierung beteiligt ist? Sicherlich auch schwierig und mühsam, aber es gibt in dieser neoliberalen FDP auch einen bürgerrechtlichen Flügel. Trägt z.B. der uneingeschränkt beide Maximen mit, wie sie der höchste Verantwortliche für den Polizeieinsatz, der Leitende Kriminaldirektor und Leiter der Landespolizeidirektion Freiburg, Bernhard Rotzinger, vorgegeben hat: "Die Sicherheit der Staatsgäste und aller Delegationsteilnehmer muss jederzeit gewährleistet sein. Der störungsfreie Verlauf aller Veranstaltungen einschließlich der Rahmenprogramme hat oberste polizeiliche Priorität." Der erste Satz scheint mindestens nachvollziehbar, der zweite ist aus grundrechtlicher Sicht schlicht falsch: Auch Staatsgäste und ihr Gefolge haben es in einer Demokratie auszuhalten, sich durch friedlichen Protest "gestört" zu fühlen. Das wird jeder grundrechtsliberale FDPler unterschreiben können.

Das Streben nach "Veränderungen in den Köpfen der Menschen" hin auf eine gewaltfreie Orientierung und mit menschenrechtlich orientierter Perspektive führt direkt zu der Frage nach den Bündnispartnern der DFG-VK.

Versteht man Gewaltfreiheit im Gandhi'schen Sinne als aktives Tun, für das bewusst auch Nachteile in Kauf genommen wird, das stets offen agiert und die volle Verantwortung dafür übernimmt, das das Leben, die Integrität und die Würde des Kontrahenten unter allen Umständen respektiert, dann wäre das ein sehr hoher Anspruch, der den Kreis möglicher Bündnispartner massiv beschränken würde. (Und fraglich wäre im Übrigen, ob ein solches Verständnis überhaupt von allen DFG-VK-Mitgliedern geteilt würde.) Unstrittig in der DFG-VK dürfte aber sein, dass Aktionen so angelegt und durchgeführt werden müssen, dass sie friedlich, gewaltlos und die Verletzung anderer Menschen ausschließend sind. Die Übertretung von Gesetzen wäre damit grundsätzlich nicht ausgeschlossen, die Ausübung zivilen Ungehorsams wäre vielmehr Bestandteil dieses Verständnisses. Gleichzeitig wäre aber auch die Trennlinie eindeutig fixiert: Der kategorische Ausschluss menschenverletzender Gewalt. Dafür braucht sich eine Organisation wie die DFG-VK nicht zu rechtfertigen, dafür muss sich kein DFG-VK-Mitglied entschuldigen. Dem Vorwurf der "Spaltung" (der Friedensbewegung) würde man begegnen mit: "Ja! Genau diese wollen wir - an der Frage der menschenverletztenden Gewalt. Wer mit uns gemeinsam eine Aktion machen will, der muss sich dafür auf diese Bedingung einlassen. Wer an einer unserer Aktionen teilnehmen will, der muss diese Voraussetzung in seinem Handeln erfüllen. Keine Organisation und keine Einzelperson wird gezwungen, mit uns zusammenarbeiten, an unseren Aktionen teilzunehmen." Für PazifistInnen heiligt der Zweck die Mittel nicht, im Gegenteil bilden ihre Methoden das angestrebte Ziel bereits ab.

Was hat den Erfolg der Ostermarsch-Bewegung der 1960-er Jahre ausgemacht, die ein Umdenken im "kalten Krieg" mit angestoßen hat, den Wahnsinn der atomaren Abschreckung für zunehmend mehr Menschen deutlich gemacht hat, die Entwicklung der Kriegsdienstverweigerung zu einer Massenbewegung mit befördert hat? Ihre klare Absage an Gewalt.

Was hat den Erfolg der Friedensbewegung gegen die Aufstellung neuer atomarer Raketen in den 1980-er Jahren mit der Teilnahme Hundertausender an Demonstrationen und Tausender an Blockade-Aktionen und der Zustimmung von Millionen zu ihren Forderungen bewirkt? Ihre friedliche Orientierung, ihre gewaltlosen Aktionsformen.

Es ist ein Märchen zu glauben, man könnte die Meinungsführerschaft als Friedensbewegung in der Bevölkerung gewinnen, wenn man gewaltförmige Methoden nicht klar ausschließen, Zweifel an der friedlichen Orientierung zulassen würde.

Was aber ist mit den Agents Provocateurs, von denen man weiß, dass es sie gab und gibt, dass sie wohl auch in Straßburg "zum Einsatz" kamen? Denn natürlich konnten die Staats- und Regierungschefs der in Straßburg versammelten Nato-Mitglieder nichts dringender brauchen als die Bilder Steine werfender Demonstranten, vermummter Gewalttäter, brennender Gebäude. Nichts hätte die Legitimation ihrer Kriegspolitik stärker in Frage gestellt und die faktische Besetzung einer ganzen Region und die Verhängung des Ausnahmezustands über ihn stärker deutlich gemacht als Zehntausende, die friedlich und selbstbewusst ihr Gesicht zeigend ihre Ablehnung der Nato bekundet hätten und von einer ebenso großen paramilitärischen Polizeitruppe bedroht und angegriffen worden wären. Insofern kann man davon ausgehen, dass es in Straßburg staatliche gelenkte Provokateure gab, die gemeinsam mit nichtstaatlichen Gewalttätern die Tausende friedlicher DemonstrantInnen faktisch in Geiselhaft genommen und deren Anliegen desavouiert haben.

Was also tun mit den Agents Provocateurs? Wenn eine Aktion eindeutig als friedlich und gewaltlos angelegt und die Teilnahme daran mit dem Einverständnis dieser Bedingung verbunden wäre, dann würden die nichtstaatlichen Steinewerfer nicht kommen. Jeder, der zur Gewaltanwendung aufstachelt, der selbst welche ausübt, wäre ein staatlich entsandter Agent Provocateur - und könnte bedenkenlos seinen eigenen Leuten übergeben werden. Das wäre im Übrigen auch keine "Zusammenarbeit mit der Polizei", wie sie von anarcho-pazifistischer Seite abgelehnt würde. Im Gegenteil würde die Zusammenarbeit doch genau darin bestehen, Agents Provocateurs den Schutz der eigenen Leute zu bieten und sie dort ihren Auftrag ausführen zu lassen.

Nun führt die Friedensbewegung bei ihren Demonstrationen keine Zugangskontrollen durch. Weder könnte sie das, noch sollte sie das tun. Die Veranstalter können sich aber darum kümmern, instruierte und vorbereitete Ordner zu stellen. Ordner braucht sie ohnehin, weil das regelmäßig eine behördliche Auflage ist. Das würde es nicht wie bei der Demonstration in Kehl passieren, dass jede und jeder, die/der nicht ausdrücklich "Nein" gesagt hat, eine Ordnerbinde in die Hand gedrückt bekam, ohne dass sie/er die blasseste Ahnung gehabt hätte, wie sie/er sich in welchem Fall zu verhalten hätte oder wie sie/er z.B. Kontakt zur Demoleitung hätte herstellen können.

Was sich bei gewaltfreien Aktionen mit dem Bezugsgruppensystem als sehr positiv bewährt hat, könnte in modifizierter Form auch bei Demonstrationen praktiziert werden. Gerade eine Organisation wie die DFG-VK mit ihrer Mitgliederstruktur könnte dabei hilfreich. Bei der Demonstration in Kehl waren einige Dutzend DFG-VK-Mitglieder dabei. Diese in 3-er Gruppen und ausgestattet mit den Handynummern der anderen über die Demo verteilt...

Wahrscheinlich wäre es klug gewesen, solche und weitere Fragen schon nach den Gewalttaten aus der Demo heraus im Rostocker Stadthafen anlässlich der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm vor zwei Jahren gründlich zu diskutieren und klare Entscheidungen zu treffen. Vielleicht wäre es dann gar nicht zu den "gruseligen" Szenen in Straßburg gekommen? Spätestens aber jetzt sollte man das tun!

Stefan Philipp ist Chefredakteur der ZivilCourage


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Augenzeugenberichte Straßburg

Ich bin morgens gegen 8 Uhr 30 zu Fuß vom Peace-Camp Richtung Europabrücke losgegangen, da ich hoffte, dort um 11 Uhr den baden-württembergischen Ostermarsch zu treffen. Im Peace-Camp selbst gab es leider nur vage und sehr unterschiedliche Informationen über die für 13 Uhr geplante internationale Demo. Einige rieten generell ab, in die Innenstadt zu gehen, andere meinten, wir sollten versuchen, am Universitätsplatz um 13 Uhr zur zentralen Demo zu kommen. Mit einigen anderen Demonstranten kamen wir problemlos bis zu der ersten Brücke zur Innenstadt. Dort kamen uns allerdings schon besorgte Demonstranten entgegen, die abgewiesen wurden von einer sehr robust auftretenden Polizei und sich nicht mehr trauten weiterzugehen. Ich ging weiter Richtung Europabrücke und kam dort bis zu einer ersten Brücke im Bereich des Hafens, die komplett von der Polizei geschlossen war. Seitens der Demonstranten waren dort eine ganze Reihe deutscher und französischer Gruppen, teils organisiert, teils individuell. Aus nichtigem Grund wurde immer wieder Tränengas eingesetzt.

Gegen ca. 10 Uhr 30 entschloss sich die französische Polizei, vorzurücken und die Demonstranten zurückzudrängen. Einige wenige waren auch vom "Schwarzen Block". Soweit ich es sehen konnte, wurden zwei festgenommen. Dann geschah das nächste Unverständliche. Die Polizei räumte die Brücke ganz und machte sich mit fast allen auf den Heimweg(?). Die Brücke und der Weg zur Europabrücke waren jedenfalls frei. Vielleicht ein dutzend Demonstranten nutzten die Gelegenheit und machten sich auf den Weg - vorbei am großen Platz, auf dem die französischen Freunde gerade ihre Stände etc. für die Kundgebung aufbauten.

So kam ich gegen 11 Uhr 50 auf die Brücke und ging bis zur Mitte. Am deutschen Ufer hatte die Polizei mit vielleicht 100 Mann und vier Wasserwerfern alles abgeriegelt. Dahinter sah man nach und nach den wartenden deutschen Demonstrationszug. Auf der Brücke traf ich noch zwei Friedensfreunde aus Karlsruhe, die von Kehl herüber gefunden hatten. Die Polizei fragte sie vor dem Passieren, wo sie hinwollten. Auf die Antwort "Nach Frankreich" durften sie weiter. Es ging gut eine dreiviertel Stunde ins Land und nichts passierte. Da gutes Wetter war und die Stimmung allgemein gut und friedlich, blieb ich auf der Brücke und schwenkte meine Pace-Fahne. Ich wurde dabei, weil die andere Seite auch nichts anderes zu tun hatte, von Land, vom Wasser und auch aus der Luft fotografiert ohne Ende. Als ich einen Polizeifotografen nach Abzügen für mich oder einen Videoclip fragte maulte der nur dienstgemäß.

Etwas unruhiger, aber immer noch sehr locker, wurde es, als die Polizisten plötzlich den Befehl "Helm auf" erhielten. Wir waren auf französischer Seite immer noch maximal zwei dutzend Leute. Ich war noch so naiv zu glauben, dass aus welchem Grund auch immer, die Polizeiarmada einschließlich der großen Wasserwerfer an mir vorbeigehen würde und ich den baden-württembergischen Ostermarsch mit der Pace-Fahne begrüßen könnte. Da ich aber vom Grundsatz her ein neugieriger Mensch bin und vielleicht auch aus Vorsorge fragte ich nach ca. zehn Minuten zwei Polizisten mit aufgesetztem Helm, was sie denn vorhätten. Antwort: "Das geht Sie nichts an." Der nächste sagte wenigstens: "Wenn Sie gleich noch auf der Brücke stehen, machen wir Sie platt!" Meine freundliche Frage, was ich denn falsch machen würde, ich würde seit über einer Stunde auf meine Freunde aus Baden-Württemberg warten, die hier in friedlichem Demozug auf einer genehmigten Route nach Frankreich wollten, war offensichtlich dann doch zu viel - ich hörte als Antwort: "Noch ein Wort und wir nehmen Sie gleich in Gewahrsam." Meine Bemerkung "Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn" war dann doch eine Nummer zu kompliziert für die Herren in erster Polizeireihe. An einen Polizeioberen kam ich nicht heran. Von anderen Polizisten auf der anderen Brückenseite der ca. 20 Mann starken ersten Reihe bekam ich auch keine bessere Antwort. Darauf ging ich zurück auf das französische Ufer und teilte auch allen anderen mit, es sei zu erwarten, dass die Polizei in geschlossener Formation über die Brücke wolle und keinerlei Rücksicht auf demokratische Demonstrationsrechte nehmen wolle, sondern alles, was auf der Brücke ist, "plattmachen".

Erst nach dieser langen Zeit kamen von französischer Seite sehr viele Demonstranten zur Europabrücke, leider auch einige vom "Schwarzen Block", die zunächst Fahnenstangen umknickten und ca. 50 Meter vom französischen Brückenende weg Barrikaden bauten. Auf französischer Seite war gut eine Stunde lang kein einziger Polizist weit und breit zu sehen. Die deutsche Polizei stand unverändert mit aufgesetztem Helm und wartete - auf was auch immer. Als die erste Barrikade zu brennen anfing, kam nach vielleicht zehn Minuten die tolle Durchsage aus einem Polizeilautsprecher: "Was sie tun ist strafbar. Dies ist die erste Ansage. Es ist 13 Uhr 15."

Mit den Leuten vom "Schwarzen Block" war leider überhaupt nicht zu reden. Weder der Versuch einer Diskussion, noch martialischere Versuche einer Diskussion "Macht keinen Scheiß, das schadet uns" zeigten die geringste Wirkung. Ordner von Seiten der Veranstalter der Demo habe ich leider auch nicht gesehen. Die Gewalt nahm ihren Lauf. Erst brannte die ehemalige Zollstation, dann ein kleineres Haus weiter in Frankreich, dann das Hotel Ibis.

Aus meiner noch frischen Sicht (geschrieben eine Stunde nach der Rückkehr von Straßburg in Balingen - Anm. d. Red.) haben drei Tatsachen leider zu der sich nach und nach verstärkenden sinnlosen Randale geführt: 1) Die deutsche Polizei verhinderte den geplanten Demonstrationszug über den Rhein. Wäre dieser, wie genehmigt, rechtzeitig marschiert, hätte auf dem Platz mit der Kundgebung eine große friedliche Manifestation stattgefunden. 2) Nachdem die ersten Reifen brannten, passierte gut eine Stunde nichts. Von Seiten der deutschen Polizei lediglich die weitere Durchsage: "Sie machen sich strafbar, das ist jetzt die zweite Ansage, es ist 13 Uhr 38". 3) Die französische Polizei war auf dem ganzen Platz von der Europabrücke bis zu den ersten Brücken im Hafen völlig abwesend. Erst als das Hotel brannte, kamen Polizisten ohne Ende, mit mobilen Einsatzkräften, mit Schützenpanzern, mit Räumgeräten. Übrigens auch sehr viele deutsche Polizisten, die auf der französischen Seite waren.

Alle Demonstranten waren dann bis fast 17 Uhr auf der Insel "eingesperrt" und mussten warten, bis die Brücken nach Straßburg freigegeben wurden. Nach zwei Stunden Fußmarsch waren wir wieder im Camp und hatten eine ruhige Nacht. Am Morgen wurde mir noch zum Abschluss bei einer Ausfahrtkontrolle durch Zivilpolizisten ca. einen Kilometer vom Camp weg ein Schweizer Taschenmesser (kleine Ausführung) abgenommen. Als ich dafür eine Quittung wollte, kam ich mit Leibesvisitation und ohne Quittung davon, was mir dann doch lieber war als zwei Stunden weitere Autokontrolle, bei der sie mir konsequenterweise auch noch das Autowerkzeug hätten abnehmen müssen, da dies weit militanter ist als das Taschenmesser.

Wolfgang Strasser, DFG-VK-Mitglied aus Balingen


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Brennendes Ibis-Hotel


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9.55 Uhr. Wir fahren mit drei bis auf den letzten Platz besetzten Bussen von Freiburg zur Demonstration ins 90 Kilometer entfernte Straßburg. Einer nach Kehl, zwei nach Straßburg, gewöhnlicherweise ein ansehnliches Ausflugsziel, in einer Stunde erreichbar. Gewöhnlicherweise. Dass heute alles anders sein wird, können wir allenfalls erahnen. Da die Autobahn nach Norden im Bereich Kehl gesperrt sein soll, wählt unser Busfahrer die Route elsassseits am Rhein entlang. Entspannte Stimmung, Vorfreude, noch.

10.27 Uhr. Die wenigen Kilometer bis zur deutsch-französischen Grenze liegen hinter uns. Passkontrolle. "Wir haben einen Treffer im Bus!" erklärt einer der Polizisten emotionslos. Nach einer Wartezeit von anderthalb Stunden entpuppt sich der "Treffer" im anderen Bus als "abgelaufener Ausweis". Erst jetzt dürfen die beiden Busse den Rhein überqueren.

11.55 Uhr. Französische Polizisten, nahezu an jedem Kreisverkehr stehend, leiten unsere Busse mal in Richtung Straßburg, mal in Richtung Vogesen, bis an deren erste Ausläufer, wiederholt sogar zurück in Richtung Breisach. Was anfangs noch recht unterhaltsam wirkt, entpuppt sich alsbald als Schikane ohnegleichen. Irgendwann erreichen wir ein Hinweisschild mit der Entfernungsangabe "Strasbourg 24". Eine halbe Stunde später heißt es "Strasbourg 20". Laufen oder gar Fahrradfahren ginge schneller vonstatten.

14.15 Uhr. Vier Stunden und zwanzig Minuten nach Reisebeginn erreichen wir Straßburg. Begrüßt von einer bedrohlichen Rauchwolke, aufgeregt gestikulierenden und eindringlich vor Gewaltexzessen warnenden Friedensbewegten beschließen einige von uns spontan, den Tag im nächstbesten Straßencafé zu verbringen, ich gehe in einer Kleingruppe zaghaft in Richtung der dunklen Wolke, überall stehen bewaffnete Spezialeinheiten der französischen Polizei in bedrohlicher schwarzer Montur.

Gegen 14.50 Uhr. Ich laufe an rund zwanzig weißen Polizeifahrzeugen vorbei, die mitten auf der Straße stehen, in ihnen warten zahlreiche Uniformierte. Einer inneren Intuition folgend verlasse ich die Straße und besteige einen Bahndamm, der Sicherheit verspricht und beiderseits eine gute Aussicht. Von hier oben kann ich auf der gegenüberliegenden Seite erkennen, wie sich der Kundgebungszug nähert. Tausende friedlicher Demonstranten, Parolen rufend, vielsprachige Anti-Nato-Transparente tragend. Unter ihnen viele schwarz vermummte Menschen, erschreckend viele, je nach Abschnitt sogar mehr als die Friedensaktivisten. Im Hintergrund steigen Tränengaswolken auf, Schockgranaten knallen, verschossen von Polizisten. Warum die Sicherheitskräfte derart drastische Maßnahmen ergreifen, kann ich nicht nachvollziehen. Womöglich sind es die brennenden Häuser, entzündet aus dem schwarzen Block gewaltbereiter zumeist jugendlicher Anti-Nato-Aktivisten, die jegliche Hemmschwellen fallen lassen. Unbeirrt setzt der Demonstrationszug setzt seinen Weg fort, läuft unter dem Bahndamm hindurch und trifft logischerweise auf besagte Polizeifahrzeuge, die blockadegleich den Weg weitgehend versperren. Die Fahrer hupen, fahren sogar langsam in Richtung der Demonstranten los. Jetzt brechen, wen wundert's, sämtliche Dämme, die Gewalt entlädt sich. Die zumeist Vermummten ergreifen die Gelegenheit, nehmen die zuhauf am Bahndamm herumliegenden Steine und bewerfen die Polizeifahrzeuge. Man spricht Deutsch. Steine fliegen, Glas splittert. In ihrer Not fahren die Polizeifahrzeuge konfrontativ in den Demonstrationszug hinein - und das, obwohl rechter Hand ausreichend Platz zum Ausweichen gewesen wäre. Keiner der Polizisten traut sich aus den Fahrzeugen heraus, zu Recht, für sie bestünde Lebensgefahr. Minuten später ist der Spuk vorbei, der Demonstrationszug in Richtung der Hafenanlagen weiter gezogen, wo die offene Feldschlacht ihren Lauf nimmt. Die meisten Friedensbewegten, mich eingeschlossen, halten sich fern. Was bleibt ist eine von Steinen und Glassplittern übersäte Straße und eine Menge Fragen. Ist die französische Einsatzleitung tatsächlich heillos überfordert gewesen? Sind die polizeilichen Spezialeinheiten von der eskalierenden Gewalt überrascht worden? Falls ja, haben sie völlig versagt. In mir regt sich allerdings der Verdacht, dass das Szenario genau so gewollt gewesen und dementsprechend provoziert worden ist. Sollten hier Bilder gewalttätiger Demonstranten erzeugt werden, die den gewaltigen Polizeiaufmarsch beiderseits des Rheins nachträglich legitimieren?

Als wir um 18.00 Uhr nach Freiburg zurückfahren, herrscht weitgehend enttäuschte bis besinnliche Stille, die Euphorie sonstiger Demonstrationstouren - denken wir nur an Büchel - will verständlicherweise nicht so recht aufkommen.

Jürgen Grässlin, DFG-VK-Bundessprecher


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Am Donnerstag, 2. April, erkundeten wir (Christian und ich; beide von der DFG-VK-Gruppe Kiel) das Gebiet um die Europabrücke und den geplanten Auftakt- und Abschlussort für die Großkundgebung am Samstag. Bereits unterhalb der Europabrücke wurden wir von französischen Polizisten gestoppt und durchsucht (Taschenkontrolle). Wir durften dann weitergehen. Nächste Kontrolle - kurz und oberflächlich - durch deutsche Polizisten am Grenzkontrollhäuschen (das am Samstag abgebrannt wurde). Nächste Kontrolle durch französische Polizisten, obwohl wir uns wieder auf nicht gesperrten Wegen aufhielten. Es kamen zwei weitere Polizeiwagen hinzu. Wir wurden mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt und in zwei Polizeiautos verfrachtet. Mit "Tatütata" ging es ins nächste Polizeirevier, wobei sich die drei Polizisten bei mir im Wagen wie große Kinder über diese Fahrt freuten und herumalberten. Im Polizeirevier mussten wir dann drei Stunden verbringen, bis endlich die Dolmetscherin zur Verfügung stand. Christian wurde während dieser Zeit sein - auf Französisch geäußerter - Wunsch verwehrt, zur Toilette gehen zu dürfen. Ich wurde als Erster verhört, dabei wurden Daten über meine Eltern und mich erfragt und aufgenommen. Letzte Frage der Dolmetscherin (die mit 40 Euro Stundenlohn bezahlt wurde) an mich war "Und Sie wissen nun wahrscheinlich gar nicht, warum Sie hier sind", was ich bejahte. Nach kurzer Rücksprache mit einem Staatsanwalt durften wir wieder gehen - und setzten unseren Erkundungsgang wie geplant fort. Christian musste zuvor eine "Pace"-Fahne und eine Tränengasbrille abgeben.

Gottfried Müller, DFG-VK-Gruppe Kiel


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Ausgestattet mit einer Kameraausrüstung machen wir uns auf den Weg ins Stadtzentrum, um Kundgebungen, Aktionen Zivilen Ungehorsams und ggf. Polizeigewalt zu dokumentieren. Mit unseren Presseausweisen passieren wir mehrere - nicht alle - Sicherheitskontrollen. Wir treffen nach vielem Hin und Her auf eine 20-köpfige Schar von Clowns und später auf eine, Blockade von 200 Leuten im nordöstlichen Stadtzentrum, die aber gerade (freiwillig) aufgelöst wird. Wir wollen zur Rheininsel, was über eine Stunde dauert: Überall Sperren, Umleitungen. Schwarze Rauchwolken am Himmel. Beim Verlassen des Stadtzentrums warnt uns die Polizei: Zurück ließen sie uns nicht mehr. Wir gehen weiter. In der Ferne beständiges Detonieren von Schockgranaten. Vor der Vaubant-Brücke: Der Straßenrand zu beiden Seiten übersät von leergeschossenen Tränengaskartuschen, die Luft ein Gemisch aus Rauch und Gas, die Leute waschen sich die Augen aus. Wir erfahren, dass diese Brücke, für Tausende der einzige Zugang zur Demo, stundenlang gesperrt war. Im Moment gibt es ein Schlupfloch, aber die Polizei fährt große Absperrgitter heran. Offenkundig ist: Wer weitergeht, kommt nicht zurück, die Insel wird zum Kessel. Hinter diese Gitter wollen wir nicht. Also zurück, 1.000 DemonstrantInnen kommen uns entgegen (woher kommen die bloß?). Nervöse Polizisten brüllen nicht die Demo an, sondern die Jugendlichen aus den nähen Plattenbauten, vor denen sie offenbar mehr Angst haben...

Frank Brendle, ZivilCourage-Redakteur und Mitglied im DFG-VK-Landesvorstand Berlin-Brandenburg


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Auf den ersten Blick sah die Rheininsel zwischen Straßburg und Kehl, auf der die Demonstration beginnen sollte, recht ruhig aus: im Norden Hafen, im Süden Park und dazwischen nur ein paar Häuser. Doch schon der zweite Blick belehrte mich eines Besseren. Nur wenige Brücken führten in diesen Hochsicherheitstrakt. Diejenige im Norden, auf der ich es zuerst versuchte, war für jeden Verkehr völlig gesperrt. Diejenige im Nordosten war zwar auch für jedes andere Fahrzeug durch unzählige Polizeifahrzeuge blockiert, zu Fuß hatte ich aber keine Probleme. Erst später hörte ich, dass sie kurz zuvor und kurz danach ebenfalls völlig gesperrt war. Lange sah ich nur wenige wie mich auf dem Weg zur Kundgebung, einzelne auf dem Weg zurück und am Himmel eine erste Rauchsäule. Hinter einem Bahndamm sah ich dann die ersten Randalierer, die gerade auf einer Kreuzung Überwachungskameras von Laternenpfosten und Schnapsflaschen aus einer Hotelbar holten. Dieses Hotel schien schon leer und sollte später noch völlig ausbrennen. Weit und breit keine Polizei! Hinter der nächsten Ecke sah ich endlich die eigentliche Kundgebung: Oben auf der Bühne sprach Reiner Braun ein leichtes, doch lösbares Problem mit der Route an. Hinter dem Platz stieg eine zweite schwarze Rauchsäule auf. Oben wurden Neuankömmlinge herzlich willkommen geheißen. Hinten rannten Vermummte gruppenweise unter die Menge. Oben wurde Bianca Jagger begeistert angekündigt. Hinten zogen Tränengasschwaden herüber. Ich hatte genug. Auf endlosen Parkwegen, über eine vergessene Wehrbrücke im Süden, unter rostigen Bahnwaggons und durch willkürliche Polizeikontrollen kam ich auch endlich zurück. Ich hatte genug.

Kai-Uwe Dosch, Sprecher des DFG-VK-Landesverbands Nordrhein-Westfalen


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Am Samstag, 4. April, fuhren ein alter Freund und ich mit der Bahn nach Kehl, wo wir gegen 12 Uhr ankamen. Wir gingen zu Fuß über die Rheinbrücke, wobei unsere Ausweise kontrolliert wurden. Auf der anderen Rheinseite in Straßburg kamen uns bunt gekleidete Menschen mit Fahnen, aber auch schwarz gekleidete Menschen mit Mopedhelmen entgegen. Es war weit und breit kein uniformierter Polizist zu sehen. Direkt am Ende der Brücke standen einige Masten mit verschiedenen Flaggen. Ich erinnere mich an eine Nato-Flagge, eine französische und eine deutsche Nationalflagge. Sie wurden heruntergerissen. Auf der Brücke wurde etwas angezündet, was fürchterlich rauchte und stank. Es war immer noch kein Polizist zu sehen. Nur die Europabrücke hinter uns war von deutscher Polizei gesperrt, indem Polizisten mindestens dreireihig über die gesamte Breite der Brücke standen, dahinter konnte ich vier Wasserwerfer erkennen. Dann wurden die Scheiben in der seit langem unbesetzten Grenzstation eingeworfen und das Haus in Brand gesetzt. Es kamen weder Feuerwehr noch uniformierte Polizei. Wir gingen in den Park am Rhein und gelangten zu dem Gelände, das für die Abschlusskundgebung der Demonstration eingerichtet war. Im vorderen Drittel bei der Bühne hielten sich einige Menschen auf. Es war weder unter ihnen noch am Rand des Geländes irgendwo ein Polizist zu erkennen. Hinter dem Gelände war eine Straße und auf der anderen Seite der Straße ein Hotel. Ich sah, wie einige Menschen, unter ihnen auch welche mit schwarzer Kleidung, die Scheiben des Hotels einwarfen. Einige zündeten vor dem Hotel Mülleimer an, andere gingen in das Hotel und kamen mit Stühlen und Tischen aus dem Hotel heraus, die sie in das Feuer warfen. Es war immer noch nirgends uniformierte Polizei zu sehen. Ob die schwarz gekleideten Menschen zu Organisationen irgendwelcher Art gehörten, war nicht zu erkennen. Etwas über eine Stunde nach dem ersten Feuer kamen dann viele uniformierte französische Polizisten in Polizeifahrzeugen angefahren. Die Polizei schoss Leuchtraketen ab und brachte Tränengas zum Einsatz. Das Tränengas verteilte sich über das Gelände für die Kundgebung. Wir verließen das Gelände schnell in entgegengesetzter Richtung, dennoch kam es zu Reizungen der Atemwege und Augen.

Axel Georges, DFG-VK-Gruppe Karlsruhe


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Augenzeugenberichte Kehl

Wir hatten uns ganz vorne im Ostermarschzug eingereiht und waren im dichten Gedränge noch nicht weit gegangen, als ich Parolen gegen die Polizei vernahm, gebrüllt unmittelbar aus den Reihen hinter mir. Mir fielen nun immer mehr schwarz gekleidete Menschen auf, die nach vorne drängten. Gleichzeitig liefen behelmte Polizisten links und rechts des Demonstrationszuges mit. Mir war zunehmend unwohl in meiner Haut, weil das, was ich hörte, nichts mit einer gewaltfreien Haltung zu tun hatte. Immer mehr sah ich mich von schwarz Bekleideten umringt. Allerdings wollte ich da vorne nicht einfach den Platz räumen, weil ich ganz am Beginn des Demonstrationszuges Freundinnen und Freunde von der DFG-VK und vom Ökumenischen Netz Württemberg mit ihren Transparenten wusste und nicht wollte, dass diese plötzlich nur noch schwarze Gestalten in ihrem Rücken und an ihrer Seite hatten. Viel Zeit zum Nachdenken blieb allerdings nicht, denn bald darauf wurde die Demonstration von der Polizei gestoppt. Die Stimmung um mich herum kochte hoch. Vor uns einige Wasserwerfer und unzählig viele Polizisten, neben uns ebenfalls. Mir wurde es schon mulmig. Was, wenn nun die Polizei plötzlich gegen die Demonstranten losgeht - weit sie sich provoziert fühlt oder aus anderen Gründen. Und dann wohin in diesem dichten Gedränge, eingezwängt zwischen so vielen Menschen? Nach einigen höchst angespannten Minuten kam ein erstes Gefühl von leichter Entspannung in mir hoch, als ich einige Menschen vom Tübinger Bloch-Chor sah, die wenige Meter vor mir zu singen anfingen. Nach langem Warten war klar, dass die Demonstration trotz aller Verhandlungen endgültig nicht mehr ihren Weg fortsetzen durfte. Natürlich war das frustrierend. Und andererseits hätte ich gar keine Lust darauf gehabt, in gewalttätige Auseinandersetzungen zu geraten.

Michael Schmid, DFG-VK-Gruppe Gammertingen


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Bei der Demonstration lief ich mit Leuten der DFG-VK Gruppe Mittelbaden im hinteren Zugteil und musste mir das aufdringliche Gequatsche der MLPD mit ihrem "offenen Mikrofon" anhören, dem man nicht ausweichen konnte. Deren Themen hatten mit der Demonstration sehr wenig zu tun. Am Ende des Demonstrationszuges fuhren mehrere Fahrzeuge der Polizei und mehrere Dutzend Polizisten riegelten den Zug ab. Man konnte zwar aus der Demo raus, aber falls es zu Auseinandersetzungen gekommen wäre, hätte uns die Polizei eingekesselt Da die Demonstrationsteilnehmer allesamt friedlich gestimmt waren, kam es zu keinerlei Provokation mit der Polizei. Als der Zug vor dem Grenzübergang ins Stocken geriet und mehrere Stunden nicht von der Stelle kam, blieb es ruhig. Von Seiten der Demoleitung gab es keine Infos, ob und wann wir über die Europabrücke können. Es gab vereinzelt Infos von den Anti-Konflikt-Teams der Polizei, die aber nicht überprüft werden konnten. Woher die Polizei ihre Infos hatte, war nicht nachvollziehbar. Als auf der anderen Rheinseite schwarze Rauchwolken in den Himmel stiegen, kam etwas Unruhe auf. Es war klar, dass es dort zu Auseinandersetzungen gekommen war. Per Handy gab es vereinzelt Infos, was dort passiert war. Von der Polizei wurde per Durchsage bekannt gegeben, dass uns der französische Präfekt die Einreise verweigert und die Europabrücke gesperrt bleibt. Dies wurde mit Pfiffen quittiert. Für uns Demoteilnehmer war lange unklar, wie es auf deutscher Seite weitergeht. Seitens der Demoleitung gab es keine Infos, sodass wir auf die Durchsagen der Polizei angewiesen waren. Nach und nach gingen viele Demoteilnehmer aus dem Zug nach Hause. Es blieb der "harte Kern" derer, die mit den Bussen angereist waren und deren Rückreise für 17 Uhr geplant war.

Klaus Pfisterer, Sprecher des DFG-VK-Landesverbandes Baden-Württemberg


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Leute, die sich mit den unangenehmsten und blödesten Aufgaben eines Events abgeben, verdienen zunächst mal großen Respekt. Den habe ich auch gegenüber den Organisationsleitern der Kehler Demo. Dennoch war diese Organisation und insbesondere die Informationspolitik gegenüber den Demonstranten suboptimal. Es darf nicht sein, dass einzig die Polizei die Demonstranten darüber informiert, was die Demoleitung unternimmt (z.B. mit der Polizei zu verhandelt). Diese Nicht-Information durch die Veranstalter hat m.E. dazu geführt, dass einige Demonstranten sich aggressiver verhalten haben, als es notwendig war (bei allem Verständnis für deren Frust und deren Wut). Offensichtlich war nicht klar, wie mit der festgefahrenen Situation vor der Europabrücke umzugehen sei. Diese Unsicherheit hat - so meine Beobachtung - dazu geführt, dass ein Wagen der Organisationsleitung, der eine Kundgebung von der Polizeibarriere entfernt vorbereiten sollte, von einem Demonstranten durch eine Sitzblockade behindert wurde. Eine Sitzblockade gegen die eigenen Leute habe ich bisher auf einer Demo noch nicht gesehen. Ich will diese Situation nicht überbewerten, aber sie zeigt dennoch die Konfusion und Überforderung der Demoleitung. Damit will ich nicht Schuld von den Herrschenden auf die Organisatoren abwälzen, aber dennoch sollte das so auf unserer nächsten Demo nicht mehr passieren.

Stephan Brües, ZivilCourage-Redakteur


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Wir befanden uns an der Spitze des Ostermarsches, der von Kehl nach Straßburg führen sollte. Von der Demo-Leitung waren wir gebeten worden, darauf zu achten, dass es hier einigermaßen "geordnet" zugeht und dass der lange Demonstrationszug von den offiziellen Transparenten angeführt wird. Das war keine einfache Aufgabe, da sich immer wieder andere mit ihren Transparenten und Fahnen nach vorne drängen wollten. Als unser friedlicher Marsch an der Rheinbrücke ankam, versperrten uns mehrere Ketten der deutschen Polizei den Weg. In der Nähe waren Wasserwerfer sowie weitere Polizei-Einheiten postiert. Das empfanden wir als eine bewusst gewollte massive Provokation, zumal uns das Passieren der Grenze zugesagt worden war. Eine Begründung für diese Sperrmaßnahme erfuhren wir nicht. Für uns war die hautnahe Konfrontation mit den Ordnungskräften eine recht schwierige Situation, zumal mehrere tausend DemonstrantInnen nachdrängten. Bei zuviel Druck von hinten hätten die behelmten und mit Gummiknüppeln bewaffneten Polizisten sicher dagegen gehalten, und wir Vorderen hatten die Gewalt der Staatsmacht am meisten abbekommen. Zum Glück blieben die OstermarschiererInnen sehr ruhig und geduldig und warteten über zwei Stunden ab. Diese friedliche und gewaltfreie Haltung war schon sehr bewundernswert und hat letztendlich verhindert, dass die von der Polizeileitung bewusst herbeigeführte Provokation nicht auch noch gewaltsam eskaliert ist.

Sonnhild und Ulli Thiel, DFG-VK-Gruppe Karlsruhe


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 2 - Mai 2009, S. 6 - 12
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2009