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BERICHT/248: Bibel und Gewalt (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 22 - II/2009
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Bibel und Gewalt
Gesichtspunkte für ein sachgemäßes Verstehen der Bibel

Von Jochen Vollmer


Die Zwiespältigkeit des Christentums und der Bibel in der Frage der Gewalt

1. Das Verhältnis des Christentums, sachgemäßer der Christentümer, denn es gibt das Christentum nur im Plural, zur Gewalt ist sehr zwiespältig. Von Jesus wissen wir, dass er sich im Namen Gottes und seiner unbedingten und grenzenlosen Vaterliebe der Gewaltfreiheit und der Feindesliebe verschrieben hat, dass Gewaltfreiheit und Feindesliebe konstitutiv für seine Reich-Gottes-Botschaft sind, dass Jesus bis zum Kreuz den Weg der Gewaltfreiheit gegangen ist und seiner Gemeinde den Weg der Gewaltfreiheit zugemutet und sie dazu ermächtigt hat.

2. In den ersten drei Jahrhunderten waren die Christen eine kleine Minderheit im römischen Reich, die in der Nachfolge Jesu gewaltfrei lebten. Nach der konstantinischen Wende wurde das Christentum toleriert und seit dem Dekret von Theodosius 380 zur Staatsreligion. Alle Reichsuntertanen mussten fortan Christen sein. Daraus folgte die Nichtduldung aller nichtchristlichen Religionen, später die Verfolgung von "Heiden", Juden und Häretikern. Aus der Religion von Machtlosen, Angehörigen vorwiegend der Unterschicht und Sklaven wurde eine Religion der Herrschenden, aus der Religion der Gewaltfreiheit eine Religion mit einer erschreckenden Gewaltgeschichte.

3. Die hebräische Bibel der Juden war auch die Bibel Jesu und der ersten Christen. Von der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts an war der Kanon des Neuen Testamentes im Entstehen begriffen und vor der konstantinischen Wende in seinen wichtigsten Schriften abgeschlossen. Die Kirche in den letzten Jahren vor der konstantinischen Wende und die Kirche nach dieser hatte den gleichen Kanon maßgebender Schriften und dennoch zur Frage der Gewalt eine grundverschiedene Einstellung.

4. Die Bibel als die Urkunde des Christentums begründet in ihrer spannungsvollen Pluralität sowohl die Haltung der Gewaltfreiheit als auch die Beteiligung an der Gewalt der Herrschenden, die gewaltfreie Nachfolge Jesu mit der Bezeugung von Gottes grenzenloser Güte und Feindesliebe wie die Ausübung von Gewalt in staatlichen Diensten wie auch in der Verfolgung der "Feinde" des christlichen Glaubens, der "Heiden", Juden und Häretiker. Die Bibel ist keineswegs eindeutig. Sie redet der Gewaltfreiheit wie der Gewalt das Wort - und das jeweils im Namen Gottes. In einem erschreckenden Ausmaß ist in der Bibel von Gewalt die Rede, von Gewalt der Menschen als Ausdruck ihrer Bosheit und Sünde, aber auch von Gewalt, die Gott gebietet und strafend ausübt.

5. Die Gewalt bejahenden Überlieferungen der Bibel im Namen Gottes sind Legion: Gott führt die Kriege der Stämme und des Volkes Israel, gibt seinem Volk ein Land, das bereits bewohnt ist, gebietet die Vertreibung der Ureinwohner, den vernichtenden Bann und den Völkermord an den Ureinwohnern Kanaans. Gerade diese Gewalttraditionen der Bücher Deuteronomium und Josua wirken fort bis zu der friedlosen Politik des Staates Israel heute. Gott sanktioniert das Patriarchat und duldet Sklaverei, setzt in exzessiver Weise das Todesrecht bei zahllosen Vergehen, besonders bei Fremdgötterkult und Sexualdelikten, kann in seiner Heiligkeit mit dem Unreinen und dem Sünder nicht koexistieren, wacht eifersüchtig und unbarmherzig über seiner Tora. Gott ist der Nationalgott Israels, identifiziert sich mit dem Königtum, mit staatlicher Gewalt, legitimiert die brutalen Eroberungen und Menschenrechtsverletzungen Davids, wird von der Jerusalemer Hoftheologie gefeiert. Gott ist der Gott des Gerichts, straft die Sünder, die Bösen, die Ungläubigen mit feindseligem Hass, vernichtender Gewalt und ewiger Höllenpein. Gott bekämpft das Böse, indem er sich in maßloser Weise des Bösen bedient und die Bösen ausrottet. In vielen Überlieferungen der Bibel ist von einem Gott der Gewalt die Rede.

6. Nicht wenige kritische Zeitgenossen sind darum mit der Bibel fertig. Ich erwähne nur Franz Buggle, Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann, 1997, und Herbert Schnädelbach, Der Fluch des Christentums, in: "Die Zeit" vom 11. Mai 2000.

7. Wird die Bibel als "Heilige Schrift" und "Wort Gottes" gelesen, so wird allen Überlieferungen der Bibel, eben auch ihren Gewalttraditionen, den archaischen Vorstellungen von einem blutrünstigen und gewalttätigen Gott maßgebende Geltung zugesprochen. Konfirmandinnen und Konfirmanden erhalten von ihren Kirchengemeinden die Bibel als das maßgebende Buch für ihr Leben, Eheleuten wird eine Traubibel als Buch für ihren gemeinsamen Weg überreicht. (...)

8. In der Bibel kommen aber nicht nur Gewalt bejahende, sondern auch Gewaltverneinende Stimmen zu Wort. Die Sintflutsage Gen 6-9 erzählt die Bekehrung Gottes von Gewalt zum Verzicht auf Gewalt: Gott muss einsehen, dass der Bosheit der Menschen mit Gewalt nicht beizukommen ist. Die Völkertafel Gen 10 besagt, dass Gott alle Völker in ihrer Verschiedenheit geschaffen hat und ihr friedliches Miteinander will. Die Pointe der Josefsgeschichte (Gen 37-50) lehrt, dass Gott aus dem Bösen, das Menschen tun, Gutes wirken kann, ohne Gewalt. Die Ur-Erfahrung Israels ist die Befreiung aus der Gewaltherrschaft in Ägypten durch Gott. Im Exil hat Israel gelernt, dass es Gottes Wahrheit und Recht gewaltfrei allen Völkern bezeugen soll, weil Gottes Schalom Israel und die Völkerwelt umfasst und darum nur gewaltfrei sein kann (..,). Jesus hat sich für Gottes universales und unbedingtes Heil für alle Menschen, für Gottes uneingeschränkte Liebe, für Gottes Feindesliebe verbürgt.

9. Aus diesem Befund folgt, dass man die Bibel gar nicht anders als kritisch - und das heißt unterscheidend - lesen kann.


Gesichtspunkte für ein sachgemäßes Verstehen der Bibel

10. Die Bibel ist eine Sammlung von menschlichen Zeugnissen, wie Menschen Gott erfahren haben, an Gott glaubten und Gott dachten, Gott verstanden und Gott missverstanden. Die Bibel ist keine Einheit, die den einen und einzigen Gott offenbart. Dieses dogmatische Vorurteil wird zwar immer noch vertreten, ist aber nach der Aufklärung nicht mehr möglich. Die Bibel ist ein Dokument der Religionsgeschichte, entstanden auf Grund der Erfahrungen und Bezeugungen Gottes in Israel, Jesu und des Urchristentums in einem langen Zeitraum von ca. 1000 vor bis 150 nach Christus, entstanden auch in Auseinandersetzungen mit den Religionen der jeweiligen Umwelt. Die Gotteserkenntnis in Israel und im Urchristentum ist ein Prozess. Die Bibel enthält auch viele Missverständnisse Gottes, falsche Zeugnisse wider Gott und viele unheilige Traditionen. Menschen haben Gott in ihren jeweiligen soziokulturellen Kontexten erfahren und bezeugt, sie haben aber auch ihre Vorstellungen und Wünsche, ihre Befindlichkeiten und Phantasien, ihre Feindseligkeiten und Rachegedanken, ihre Aggressionen und ihre Gewalt auf ihre Bilder von Gott projiziert. Die Religionskritik Ludwig Feuerbachs muss auch auf das biblische Reden von Gott angewandt werden.

11. Die Bibel ist eine Sammlung von sehr unterschiedlichen und widersprüchlichen Glaubenszeugnissen, vergleichbar mit einem vielstimmigen Chor, dessen Stimmen vorherige Stimmen aufnehmen und weiterführen, sie neu interpretieren und aktualisieren, ihnen widersprechen und sie auch korrigieren. Treffender noch scheint mir die Vorstellung von der Bibel als einer Sammlung von Prozessakten zu sein, Akten eines Prozesses, in dem um die rechte Erkenntnis, die Wahrheit Gottes gestritten wird. In diesem Prozess sind an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten Zeugen aufgetreten, die ihre Erfahrungen und ihre Erkenntnisse Gottes bekundet haben. Der Prolog des Lukas-Evangeliums (Luk 1,1-4) macht deutlich, dass Lukas sich auf verschiedene Vorgänger bezieht, aber den Anspruch erhebt, es besser zu machen als sie. Matthäus und Lukas haben in ihren Evangelien wiederholt die Vorlage des Markus-Evangeliums verändert, weil das Markus-Evangelium für sie nicht "heilige Schrift", sondern kritikfähig und kritikwürdig war. Keine Zeugenaussage in diesem Prozess um die Wahrheit Gottes ist schon deswegen wahr, weil sie in die Sammlung der biblischen Prozessakten aufgenommen wurde. In der kirchlichen Lehrtradition ist auf Grund der Bezeichnung der Bibel als "Heilige Schrift" und ihrer Gleichsetzung mit "Wort Gottes" ein kritisches Verstehen der Bibel faktisch unterdrückt worden. Noch heute ist Bibelkritik in vielen christlichen Kreisen verpönt.

12. Das Verständnis der Bibel als einer Sammlung von Akten des Prozesses im Judentum und in der Alten Kirche, in dem es um die Erkenntnis der Wahrheit Gottes geht, befreit zu einem mündigen und eigenverantwortlichen Umgang mit der Bibel. Wenn ich im Bilde des Prozesses bleibe, haben wir es in der Bibel nur mit Zeugenaussagen zu tun, nicht mit Richtersprüchen, die über die Wahrheit Gottes ein abschließendes und letztgültiges Urteil fällten. In der Bibel begegnen uns nur menschliche Zeugenaussagen, keine unmittelbaren Gottesworte, auch wenn sehr viele Worte als unmittelbare Gottesworte und Gottesreden stilisiert sind. Diese vermeintliche Unmittelbarkeit der Gottesreden hat mit zu der irreführenden Gleichsetzung von Bibel und "Wort Gottes" geführt.

13. Die Bibel ist als ein Dokument der Religionsgeschichte eines der Vergangenheit. Alle menschlichen Zeugnisse und Dokumente, selbstverständlich auch alles menschliche Reden von Gott ist dem geschichtlichen Wandel unterworfen, hat seine Zeit und seinen Ort. Das schließt nicht aus, dass Menschen heute bei der Lektüre der Bibel bzw. im Hören einer Predigt als Auslegung eines biblischen Textes die Wahrheit Gottes aufgehen kann. Aber die Wahrheit Gottes muss mir vor meinem Gewissen aufgehen, sie kann mir nicht von irgendeiner Instanz oder Autorität aufgenötigt werden. Und ich kann von Gott immer nur in meinem sozialen und kulturellen Kontext, in meinem Referenzrahmen reden, der sich von den sozialen und kulturellen Kontexten der biblischen Autoren und ihren Referenzrahmen erheblich unterscheidet.


Unterscheidungskriterien im Umgang mit dem "Prozessaktenmaterial" Bibel

14. Einzelne Propheten im 8. Jahrhundert und Kreise im Exil bezeugten Gott nicht mehr partikular, auf Israel allein bezogen, sondern universal. Gott ist der Gott Israels und der Völkerwelt, der Schöpfer des Himmels und der Erde. Gott ist nicht nur einem Teil der Menschenwelt, nicht nur einem Volk zugetan und verpflichtet, sondern allen Menschen und Völkern. Im Exil haben bestimmte Trägergruppen Israels Erwählung als seine Berufung verstanden, Gottes Wahrheit und Recht der Völkerwelt ohne Gewalt zu bezeugen. Israel begriff sich als Gottes Weg zu den Völkern (vor allem die Gruppe um den Zweiten Jesaja, in der der Streit um die Universalität Gottes zum Teil heftig ausgetragen wurde, Jes 40-55). Gott darf nicht partikular von einer Gruppe von Menschen gegen andere Menschen in Anspruch genommen werden. Diese Kreise im Exil haben auch die Staatlichkeit Israels, das Königtum von Gottes Gnaden, die Jerusalemer Hoftheologie als einen Irrweg begriffen. Staaten sind partikulare Machtgebilde und dürfen als solche nicht religiös überhöht werden. Sie sind menschliche Institutionen, ein Gebot der Vernunft (1 Petr 2,13-17). Der verhängnisvolle politische Traktat Röm 13,1-7 "Jedermann sei untertan der Obrigkeit, denn jede Obrigkeit ist von Gott. Wer sich der Obrigkeit widersetzt, widersetzt sich Gott" - nach meiner Einsicht ein Einschub in den Römerbrief aus dem 2. Jahrhundert - hat in der Geschichte des Christentums bis heute staatliche Gewalt von Gott her legitimiert und damit Gott partikular gemacht. Wer Gott partikular denkt, legitimiert mit seinem partikularen Gott immer wieder Gewalt und verfehlt Gott. In nachexilischer Zeit sind die Gott-König-Psalmen (Ps 47; 93; 96-99) entstanden, die Gott allein als König proklamieren gegen den persischen Großkönig wie gegen die davidische Tradition der eigenen Geschichte, die gescheitert ist und sich als Irrweg erwiesen hat.

15. Gott hat einen jeden Menschen nach seinem Bild geschaffen (Gen 1,26-28). Jeder Mensch ist Gott heilig. Der Mensch ist nach dem Schöpfungshymnus Gen 1 (exilisch-nachexilisch) nur zur Herrschaft über die nichtmenschliche Kreatur bestimmt. Herrschaft von Menschen über Menschen ist wider Gottes Willen. Frauen wie Männer sind von Gott nach seinem Bild geschaffen. Herrschaft von Männern über Frauen ist wider Gottes Willen. Auch Gewalt gegen Kinder kann sich nicht auf Gott berufen, selbst wenn sie in der Bibel geboten wird (z.B. Spr 13,24 "Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten.", ähnlich Spr 19,18; 23,13). Priesterliche Gewalt in der Unterscheidung von rein und unrein wie die Reglementierung und Unterdrückung der Sexualität hat Menschen im Namen des priesterlichen Bildes von der Heiligkeit Gottes bevormundet und unterdrückt, ausgegrenzt und getötet. Das Bild von der Heiligkeit Gottes hat eine starke Gewaltkomponente. Es sieht den Menschen primär als Sünder, der vor dem heiligen Gott nicht bestehen kann, und vergeht sich an der Heiligkeit des Menschen.

16. Jesus hat Gott eindeutig gemacht. Er hat in seiner Verkündigung das Gottesbild von aller Zwiespältigkeit des einerseits liebenden und des andererseits strafenden und tötenden Gottes befreit. Er hat Gott als unbedingt und unbegrenzt liebenden nahen Vater, nicht als unnahbar heiligen Gott bezeugt. Der Vater im Gleichnis rennt seinem heimkehrenden Sohn entgegen, nimmt ihn mit offenen Armen auf und richtet ihm ein maßloses Fest aus (Luk 15). Jesus hat das herkömmliche Bild von der Heiligkeit Gottes zerstört, indem er sich als unrein geltenden Menschen vorbehaltlos zugewandt hat.

17. Jesus hat sein Zeugnis von Gott, das ein Zeugnis für die Heiligkeit eines jeden Menschen ist, mit seinem Tod am Kreuz beglaubigt. Sein Tod kann nicht im Namen der Heiligkeit Gottes als stellvertretender Sühnestraftod gedeutet werden. Die Deutung des Todes Jesu als Sühnetod schreibt Gewalt im Gottesbild definitiv fest. Die Bilder von dem unbegrenzt gütigen Vater und dem heiligen, strafenden und vernichtenden Richtergott schließen einander aus.

18. Jesus hat das Reich Gottes der Gerechtigkeit und des Friedens, in dem es keine Gewalt mehr gibt, bezeugt und sich dafür verbürgt. Die Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5,3-10) können als das Glaubensbekenntnis Jesu gelesen werden. Insbesondere ist hier auf die dritte Seligpreisung "Selig sind, die keine Gewalt gebrauchen; denn sie werden die Erde bewohnen (und bewohnbar erhalten)." (Mt 5,5) und die siebte Seligpreisung zu achten "Selig sind die Pazifisten; denn sie werden Söhne und Töchter Gottes heißen." (Mt 5,9). Weil sie Gott, dem Vater aller Menschen, in seiner gewaltfreien Feindesliebe entsprechen, sind sie seine Söhne und Töchter. Die anderen Menschen sind gewiss auch Gottes Kinder, aber diejenigen, die Gott in seiner Feindesliebe und Gewaltfreiheit entsprechen, erweisen sich als Gottes Kinder.

19. Nach Jesus gilt Gottes Liebe grenzenlos, aber wenn Menschen Gott den Rücken kehren, kann Gottes Liebe sie nicht erreichen. Die Einladung zu Gottes Reich, das im Wirken Jesu im Anbruch begriffen ist, gilt allen Menschen, wer aber die Einladung nicht annimmt, schließt sich selber vom Reich Gottes aus. Wer sich Gottes Liebe nicht gefallen lässt, weiß nichts von Gottes Liebe, bleibt aber trotzdem von Gott geliebt.

20. Gottes Zorn ist Gottes Nein zu unserem Fehlverhalten und zu unseren Irrwegen. Gottes Zorn ist eine Gestalt seiner Liebe, die uns zurechtbringen will, nicht Ausdruck seines Strafens oder gar seines Vernichtungswillens.


Ein Dokument des Patriarchats

21. Die Bibel ist entstanden in patriarchalen Gesellschaften, die noch nichts von den allgemeinen Menschenrechten wussten. Die Bibel ist weit überwiegend ein Dokument des Patriarchats, sie ist ein Dokument, das dieses schon ansatzweise überwindet, und sie ist ein Dokument, das in es zurückfällt. Diesen Rückfall bekunden besonders die Briefe nach Paulus. (der Einschub 1 Kor 14,33b-36; Eph 5, 21-33; Kol 3,18-22; 1 Tim 2,8-15; 1 Petr 3,1-6).

22. Jahrhundertelang war man in dem Irrtum begriffen, das Patriarchat mit den biblischen Traditionen, die den Rückfall in das Patriarchat nach Paulus dokumentieren, als eine gottgewollte Lebensordnung anzusehen, eben weil es von der Bibel als "Heiliger Schrift" bezeugt wird. Und es gibt heute noch viele Christen und nicht wenige Lehrer der Theologie, die eine große Reserve gegenüber feministischen Theologinnen haben, die ihr Menschenrecht wahrnehmen und die Bibel mit den Augen von Frauen lesen.

23. An der Lebensordnung des Patriarchats kann man sich die beiden Fehlhaltungen gegenüber der Bibel verdeutlichen. Es ist falsch, das Patriarchat als gottgewollte Lebensordnung zu bejahen, weil es fast durchgängig in der Bibel bezeugt ist. Es ist aber ebenso falsch, der Bibel ungeschichtlich vorzuwerfen, dass sie in patriarchalen Gesellschaftsordnungen entstanden ist, und sie deswegen zu verwerfen.


Wir lesen die Bibel als Dokument vor der Aufklärung nach der Aufklärung

24. Die Bibel ist ein Dokument der Religionsgeschichte vor der Aufklärung, wir aber lesen die Bibel als Menschen nach der Aufklärung. Als solche haben wir gelernt, aus unserer Unmündigkeit herauszutreten und uns mit Immanuel Kant unseres eigenen Verstandes zu bedienen. Die autoritäre Vorgabe der Tradition, die in den Bezeichnungen "Heilige Schrift" und "Wort Gottes" zum Ausdruck kommt, fordert unser eigenes Urteil heraus.

25. Wir wissen seit der Aufklärung und den Erkenntnissen der Wissenschaften bis heute mehr als die Autoren der Bibel wissen konnten. Das gilt für Fragen des naturwissenschaftlichen Weltbildes wie für Erkenntnisse der Humanwissenschaften.

26. Die Aufklärung bewahrt uns vor einer fundamentalistischen Lektüre der Bibel. Dass die römische Kirche Galileo Galilei verurteilt und erst in dessen 350. Todesjahr 1992 rehabilitiert hat, ist ein Skandal, dass die Evolutionstheorie Charles Darwins von der theologischen Anthropologie noch kaum rezipiert wurde (Lehre von dem Bösen und der so genannten Erbsünde), nicht minder.

27. Die allgemeinen Menschenrechte haben durchaus Anhalt an biblischen Überlieferungen, sie wurden aber weniger auf Grund der Bibel und mit ihr, als vielmehr gegen viele Traditionen der Bibel und vor allem gegen die Kirchen durchgesetzt. Paulus hat an der Sklaverei keinen Anstoß genommen, er vertrat die Auffassung, dass man auch als Sklave/Sklavin im Horizont christlicher Freiheit leben kann, und auch Jesus hat, wie manche seiner Gleichnisse zeigen, die Sklaverei vorausgesetzt und nicht problematisiert. Das zeigt die wahre Menschlichkeit Jesu, dass auch seine Verkündigung geschichtlich und soziokulturell bedingt ist.

28. Die Religionsfreiheit ist eine Errungenschaft der Aufklärung, nicht der Bibel.

29. Dass Homosexualität keine Sünde ist, lese ich nicht in der Bibel (Lev 18,22; 20,13; Röm 1,27), sondern ist eine Einsicht, die ich den Humanwissenschaften verdanke. Wer die Bibel unkritisch als "Wort Gottes" liest, macht homosexuell orientierte Menschen zu Opfern seines Bibelverständnisses und bleibt ihnen das Menschenrecht schuldig, ihre sexuelle Orientierung mit Freude leben zu können.


Jede Erkenntnis Gottes ist begrenzt

30. Dass Religionen einen einzigen und universalen Gott bezeugen und also monotheistisch sind, ist noch kein hinreichendes Kriterium für ihre Wahrheit. Die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam bergen in sich ein großes Gewalt-, aber auch ein großes Friedenspotenzial. Eines der Gewalt sind sie dann, wenn sie zwischen Gott und ihren Bildern von ihm nicht unterscheiden. Dann werden alle ausgegrenzt oder gar mit Gewalt verfolgt, die eine andere Vorstellung von dem einen und einzigen Gott haben.

31. Der Absolutheits- und exklusive Wahrheitsanspruch des Christentums hat sich nur zu oft als friedlos und gewaltförmig erwiesen. Als das Christentum seine Lehrbildung im vierten Jahrhundert im Wesentlichen abgeschlossen hatte und Staatsreligion geworden war, wurde es gewaltförmig und verfolgte alle Andersglaubenden und Nichtglaubenden über Jahrhunderte hinweg auf grausamste Weise. In den Kreuzzügen und der Inquisition des Mittelalters, in der deutschen Kriegstheologie des 19. und 20. Jahrhunderts und in der abgründigen Feindschaft gegen das Judentum bis hin zum Holocaust hat das Christentum seine Identität verloren.

32. Ich kann sagen, dass mir an bestimmten Zeugnissen der Bibel Israels, an Jesus, an den Zeugen Jesu im Zweiten Testament Gott aufgegangen ist, und kann andere einladen, es mit dem Gott der universalen Zeugnisse Israels, dem Gott Jesu und der Apostel zu versuchen. Ich darf aber nicht sagen, so wie ich Gott verstehe, müssen alle Menschen Gott verstehen.

33. Jesu Vorstellung von Gott, dass Gott der Vater aller Menschen ist und wir Menschen also alle Brüder und Schwestern sind, ist eine Absage an jede Form von Gewalt. Geschwister tragen ihre Konflikte gewaltfrei aus. Die Botschaft Jesu ist der Kontrapunkt zur Gewaltgeschichte der Menschheit von Kain und Abel an.

34. Eine Religion macht dann zum Frieden fähig, wenn ihre Anhänger sich bewusst sind, dass Gott immer größer ist als alle Vorstellungen, die sie sich von Gott machen, wenn sie sich der Begrenztheit ihrer Gottesvorstellungen, ihrer begrenzten Perspektiven und Wahrnehmungen Gottes, der Begrenztheit ihres soziokulturellen Kontextes und der Begrenztheit ihres Referenzrahmens bewusst sind, vor allem, wenn sie für die Universalität der Güte Gottes wie für die Universalität der Heiligkeit eines jeden Menschen eintreten.

35. Gott ist einer, aber der Vorstellungen und Bilder von Gott sind viele. Gott ist absolut und unbedingt, aber meine Erkenntnis von Gott kann immer nur relativ, oder besser: relational sein, bezogen auf mein in mehrfacher Hinsicht begrenztes Erkenntnisvermögen, meine Erfahrungen, meine Biographie und meine Perspektive, begrenzt durch mein Denken und meine Sprache und bedingt durch meinen soziokulturellen Kontext, bezogen auf meinen Referenzrahmen.

36. Die Pluralität des biblischen Redens von Gott und das Bilderverbot bewahren uns davor, uns auf eine Rede und eine Vorstellung von Gott fundamentalistisch zu fixieren. Das vielgestaltige biblische Zeugnis entlässt uns in die Verantwortung, die Geister zu unterscheiden (1 Kor 12,10) und die biblischen Reden von Gott zu prüfen an Jesus, der Vernunft, den allgemeinen Menschenrechten und den Erkenntnissen der Wissenschaften.

37. Aus diesen Überlegungen folgt dann auch, dass keine Religion am Ziel der Wahrheit Gottes ist, über die Wahrheit Gottes gleichsam verfügt, die ganze Wahrheit Gottes hat. Jede Religion ist auf dem Weg zu Gott, hat allenfalls Teil an der Wahrheit Gottes, und sei es in der Gestalt der Gottsuche. Die Anmaßung, die christliche Religion gründe in der Offenbarung Gottes, während die Religionen nur Ausdruck menschlichen Suchens nach Gott seien, ist verfehlt. Es gibt keine Offenbarung pur, sondern immer nur von Menschen gedeutete Erfahrungen Gottes. Diese Einsicht ermöglicht einen friedlichen Dialog der Religionen um den besten Weg, die Würde des Menschen zu schützen, soziale Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen und die Schöpfung Gottes zu bewahren.

38. Die christliche Rede von Gottes Allmacht (gleich zweimal im Apostolischen Glaubensbekenntnis) ist besonders gewaltanfällig. Wenn Gott unterschiedslos alles wirkt, dann ist er auch der Urheber von aller Gewalt, die geschieht, letztlich auch der Urheber des Bösen. Es gibt ein infantiles Verständnis von Gottes Allmacht, das den Menschen jeglicher Freiheit und Verantwortung beraubt und ihn entmündigt. Die Rede von Gottes Allmacht muss vermittelt werden mit der Bestimmung des Menschen zur Freiheit wie mit der Hoffnung auf die Vollendung der Welt. Indem Gott uns Menschen zu Freiheit und Verantwortung bestimmt, hat er sich seiner Allmacht begeben. Indem Gottes Welt noch nicht vollendet ist, ist Gott noch nicht am Ziel. Ein liebender Gott ist ein Gott, der Freiheit gewährt und uns als seine verantwortlichen Partner will. Wir sind nicht Gottes Marionetten, sondern seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf dem Weg zur Vollendung seiner Welt.

39. Jede Aussage von Gott bedarf der Interpretation. Es ist ein Irrtum zu meinen, es gebe ein nicht der Interpretation bedürftiges Reden von Gott. Und es gibt nicht eine Theologie, die frei von Irrtümern wäre. Eiferer und Fanatiker halten ihre Vorstellung von Gott und ihre Theologie für die allein wahre und für irrtumsfrei. Die Einbildung einer irrtumsfreien Theologie ist oft mit Gewalt verbunden und hat ungezählte Menschen zu Opfern gemacht und macht noch immer Menschen zu Opfern.

40. Einen biblischen Text interpretieren heißt nicht ihn einfach nachsprechen, sondern ihn ins Gespräch bringen mit meinem Referenzrahmen (dem des Interpreten), ihn in meinen Referenzrahmen übersetzen, ihn aus seiner damaligen Situation in die Situation des Interpreten heute über setzen. Bei solchem Übersetzen wird der Text notwendig transformiert, weil er ja (am anderen Ufer des Flusses) in der heutigen Situation ankommen und zur Geltung kommen soll.

41. Das Bewusstsein unserer begrenzten Gotteserkenntnis ist zu vermitteln mit dem Glauben; dass Gottes Liebe universal allen Menschen ungeteilt gilt, dass jeder Mensch Gott heilig ist und dass Gott allein die Erde gehört. In diesem Glaubenshorizont sind viele Bilder und Vorstellungen, Sprachversuche und Annäherungen an Gott möglich.

42. Texte der Bibel, die nicht die Heiligkeit eines jeden Menschen bezeugen, die Menschen, welche auch immer, außerhalb der universalen Liebe Gottes wahrnehmen, können nicht als verbindliche und maßgebende Zeugnisse von Gott angesehen werden. Jede partikulare Gottesvorstellung verfehlt Gott. Gott in der Perspektive der Nation, des Volkes, der Apartheid, des Kapitalismus ... verfehlt Gott, weil alle diese Perspektiven Gott partikular machen und Menschen in ihrer Heiligkeit verletzen und ausgrenzen.

43. Gottes Wahrheit kann nie mit Gewalt, die Würde und Freiheit anderer Menschen verletzend bezeugt werden, sondern nur mit dem Wort und in Grenzfällen leidend. Wo Gott mit Gewalt bezeugt wird, ist es nicht Gott, der bezeugt wird. Wer im Eifer für Gott, für sein Bild von Gott die Liebe verletzt, verfehlt Gott.


Die Bibel lesen auf dem Weg zu einer Welt frei von Gewalt

44. Wir glauben nicht an die Bibel. Es hat seinen guten Grund, dass im christlichen Glaubensbekenntnis, wie unzulänglich es immer sein mag, ein entsprechender vierter Artikel fehlt. Alle biblischen Zeugnisse sind in einem konkreten Kontext entstanden. Wir können ihre befreiende Wahrheit nur dann erkennen, wenn wir sie in der Perspektive der oben genannten Kriterien lesen und in unseren Referenzrahmen übertragen.

45. Da die biblische Botschaft in ihrer universalen Grundstruktur auf Gottes Reich der Gerechtigkeit und des Friedens, auf Befreiung und gelingende Gemeinschaft zielt, ist der Ort der Bibelauslegung der herrschaftsfreie Dialog in der Gemeinde, die heute schon Salz der Erde und Licht der Welt ist, die Stadt auf dem Berge, die zeichenhaft und gebrochen auf Gottes Reich als einer wahrhaft menschliche Gesellschaft hinweist und zu ihm auf dem Weg ist.

46. Die vielen Gewalttexte in der Bibel, auch in der Bibel des Zweiten Testaments, die Menschen ausgrenzen, die Deutung des Todes Jesu als Sühnestraftod, die Gerichtsaussagen, die Gerichtsgleichnisse des Matthäus-Evangeliums und die gewalttätigen Traditionen der Johannesoffenbarung, die Gottes definitives Nein und seinen Vernichtungswillen bezeugen, und viele andere Überlieferungen mehr kann ich nur als Projektionen menschlicher Gewaltpotenziale, Rache- und Gewaltphantasien, gerade auch in den Vorstellungen und Ausmalungen endloser Höllenqualen lesen, die Gottes Feindesliebe nicht wahrhaben wollen und nicht aushalten. Es muss aber berücksichtigt werden, dass bedrängte und leidende Gemeinden aus ihren Ohnmachtserfahrungen heraus immer wieder ein gewaltmächtiges Eingreifen Gottes erhofft haben.

47. Der gewaltsame Tod Jesu ist die Tat der damaligen Repräsentanten des jüdischen Volkes (nicht pauschal der Juden!) in bewährter Zusammenarbeit mit der römischen Staatsmacht, vertreten durch Pontius Pilatus, die dem Gottesbild Jesu, Gottes unbegrenzter Güte und seiner Feindesliebe entschieden und blutig widersprochen haben.

48. Biblische Traditionen, die den oben genannten Kriterien nicht entsprechen, haben ungezählte Menschen zu Opfern gemacht. Sie sind mit den Augen ihrer Opfer als Zeugnisse zu lesen, wie wir Gott nicht denken und von Gott nicht reden dürfen. Biblische Überlieferungen, die Gott verfehlen, sind als solche durch einen besonderen Druck und durch Anmerkungen in den Bibelausgaben kenntlich zu machen.

49. Ich lese die Bibel kritisch in der Perspektive von Gottes Feindesliebe und Gewaltfreiheit in der Bürgschaft Jesu auf dem Weg zu einer Welt frei von Gewalt. Gott ist noch nicht am Ziel. Gott braucht Menschen, die in der Nachfolge Jesu sich als Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für sein Reich der Gerechtigkeit, der Gewaltfreiheit und des Friedens zur Verfügung stellen.

50. Die kritische Lektüre der Bibel in der Unterscheidung ihrer Gewalt legitimierenden und Gewalt überwindenden Traditionen ist dringend geboten. Weil in der Bibel die Gewalt überwindenden Impulse bezeugt werden auf dem Weg zu einer Welt frei von Gewalt, zunächst in den universalen Traditionen Israels, dann in der Botschaft Jesu und in den Zeugnissen der Urchristenheit von Jesus Christus ist die Bibel für die Christenheit die unverzichtbare Urkunde, ohne die der christliche Glaube keinen Anhalt hätte.


Dr. Jochen Vollmer ist Mitglied des Versöhnungsbundes. Diese Gesichtspunkte für ein sachgemäßes Verstehen der Bibel, die Jochen Vollmer im Rahmen der Veranstaltungen des Versöhnungsbundes beim Kirchentag in Bremen vorgetragen hat, knüpfen an seinen Beitrag zum Thema Bibel und Gewalt in Forum Pazifismus 19 (III/2008) an.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 22, II/2009, S. 35 - 40
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2009