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BERICHT/255: Libanon - ein aktueller Reisebericht (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 24 - IV/2009
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Libanon - ein aktueller Reisebericht

Von Clemens Ronnefeldt


Im Oktober 2009 hatte ich Gelegenheit, im Rahmen einer Libanonreise der evangelischen Erwachsenenbildung Bad Kreuznach Gespräche mit zahlreichen Vertreterinnen und Vertretern verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen zu führen.


Zur Geschichte des Libanon

Im Jahre 1920 entstand der Libanon als Folge französischer Kolonial-Politik, erst 1943 wurde das Land in die Unabhängigkeit entlassen.

Im Libanon gibt es 18 anerkannte Religionsgemeinschaften, darunter Schiiten, Christen, Sunniten und Drusen. Sowohl die Bürgerkriegsjahre von 1975 bis 1990 als auch die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und der Hisbollah auf der einen sowie der Israelischen Armee auf der anderen Seite haben das Land immer wieder an den Rand des Abgrundes gebracht.

Bis zum Fall der Berliner Mauer wurde im Libanon auch der Ost-West-Konflikt mit großer Intensität geführt.

Syrien, Iran, Saudi-Arabien, die USA, Frankreich, Großbritannien, Russland und einige andere Akteure nehmen seit Jahren Einfluss auf die Politik des Libanon, um ihre Interessen im Nahen und Mittleren Osten durchzusetzen. Für das kleine Land mit gerade 4 Millionen Einwohnern, darunter rund 400.000 palästinensischen Flüchtlingen, stellen diese Einmischungen von außen eine große Herausforderung dar.

Die Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri im Jahre 2005 spaltete das Land in ein pro- und ein antisyrisches Lager. Noch immer sind die Spuren des Krieges von 2006 spürbar, gleichzeitig geht der Aufbau voran. Im Jahre 2007 kam es im Flüchtlingslager Nahr El Bared in der Nähe von Tripoli zu schweren Kämpfen, bei denen rund zweihundert libanesische Soldaten und sehr viele Flüchtlinge mit den im Lager verschanzten Islamisten ums Leben kamen. Im Jahre 2008 stand das Land wieder am Rande eines Bürgerkrieges, als Hizbollah-Kämpfer in Beirut die Regierung belagerten und mehr als einhundert Menschen bei Straßenkämpfen getötet wurden, nachdem die Regierung die Telekommunikation-Unabhängigkeit der Hizbollah aufheben wollte.


Begegnungen mit Einzelpersonen und Institutionen

Scheich Hassan Chreifeh

Frederike und Uwe Weltzin, das frühere Pfarrerehepaar in der deutschen evangelischen Gemeinde in Beirut, lernte Scheich Hassan Chreifeh durch eine deutsche Frau kennen. Diese wurde von ihrem libanesischen Ehemann, einem Muslim, misshandelt. Scheich Hassan Chreifeh setzte sich für die unterdrückte Frau ein und betonte, dass er sich nicht für oder gegen die Frau, sondern für die Gerechtigkeit engagiert habe, wie der Koran sie verlange.

Seit mehr als zehn Jahren arbeitet er mit der deutschen Gemeinde auch in Fällen von Ehrenmorden zusammen. Wo immer solche drohen und bekannt werden, versucht der muslimische Geistliche, als Konfliktvermittler die Bluttaten zu verhindern und auf die Männer einzuwirken mit bisher zahlreichen Erfolgen.


Käthi Rotzler

1983 kam Käthi Rotzler als Krankenschwester während des Krieges in den Libanon. Der Weltkirchenrat suchte medizinisches Personal und sie bewarb sich. Nach zwei Jahren wurde das Projekt geschlossen, weil es keine Freiwilligen mehr gab. Anschließend übernahm sie die medizinische Koordination des Meadle East Council of Churches. Heute arbeitet sie als Sozialarbeiterin für die deutschsprachige evangelische Gemeinde in Beirut mit vorwiegend älteren Menschen sowie mit RückkehrerInnen aus Deutschland, die Eingliederungsprobleme haben. Die dritte Gruppe sind Notfälle, meistens Frauen aus binationalen Ehen. Bei Scheidungen und Eherechtsfragen realisieren viele Frauen sehr spät, dass Männer im Libanon mehr Rechte haben als Frauen.

Seit vielen Jahren engagiert sie sich auch in En El Hilweh, dem größten Flüchtlingslager am Rande von Said, wo ihr der Mut der Menschen dort selbst Durchhaltevermögen gibt.

Wegen der Aussichtslosigkeit lehnen viele Jugendliche es ab, eine Ausbildung zu machen. Alle Eingänge sind von der libanesischen Armee bewacht, weil es als "Terroristennest" gilt. Die Menschen im Lager empfinden sich als Aussätzige.

2006 war ihre Freundin schwanger und erlebte während der israelischen Angriffe einen Bombeneinschlag in unmittelbarer Nähe. Sie floh und erlebte am Fluchtort einen zweiten Bombenabwurf. Ihr Sohn Mahmoud schien zunächst gesund zur Welt gekommen zu sein, hat aber erhebliche Sprach- und Konzentrationsschwierigkeiten wegen der Traumatisierungen, weshalb er nicht in einem "normalen" Kindergarten bleiben konnte, sondern einen Platz in einem Spezialkindergarten benötigte.

Eine kleine Alternativschule in En El Hilweh finanziert sich zum größten Teil selbst. Die Schule beherbergt 36 schwerst gestörte Kinder. Besonders schwierige Kinder werden in Spezialzentren weiter vermittelt.

Ihrer Wahrnehmung nach radikalisierten sich junge Männer verstärkt seit dem 11. September 2001, was auch zu mehr Gewalt im Verhältnis von Frauen und Männern führt.


Heinrich Böll Stiftung (HBS) in Beirut, Direktorin Layla Al-Zubaidi (www.boell-meo.org)

Das Büro der Böll-Stiftung im Libanon wurde im Jahre 2004 eröffnet, zuvor arbeitete die Stiftung bereits in Palästina.

Die Frage am Anfang lautete: Wo gibt es Zivilgesellschaft - und wo gibt es Akteure, die für einen Wandel hin zu mehr Demokratie einstehen. Die Wahl fiel auf Libanon, weil es im Land viele Kulturschaffende und zahlreiche kreative Kräfte gibt.

Die HBS fördert Demokratie, nennt dies aber nicht so, weil seit G.W. Bush der Begriff "Demokratieförderung" in der islamischen Welt mit "Bombardierung" assoziiert wird.

Deswegen bezeichnet die HBS ihren Grundsatz: "Staatlichkeit und Partizipation".

Ein weiterer Schwerpunkt ist Klimawandel und Ökologie. Ethnokulturelle Konflikte, früher zwischen Christen und Muslimen, jetzt auch zwischen Schiiten und Sunniten, werden in Seminaren bearbeitet.

Die HBS unterstützt ein Netzwerk für die Eröffnung von Bibliotheken. In Beirut wurden in den letzten Jahren bereits fünf Bibliotheken neu eingerichtet, weitere hundert sind im ganzen Land am entstehen. Die Bibliotheken sollen offen sein für alle Gruppen und Religionen.

Die HBS unterstützt auch die Umweltschutzorganisation "Greenline", die nach dem Krieg 2006 die Ölverschmutzung des Mittelmeeres publik gemacht hatten, nachdem die israelische Luftwaffe ein Tanklager beschossen hatte.

Pro Jahr werden 800.000 Euro für Syrien, Libanon und Irak für Projekte zur Verfügung gestellt für die Arbeit der HBS. In Beirut arbeiten sechs Leute für die HBS, mit dem HBS-Büro in Ramallah gibt es gute Zusammenarbeit.

Die HBS hat die Studie "Walking the line. Strategic Approaches to Peacebuilding in Lebanon" 2008 zusammen mit dem Forum ZFD, DED und FriEnt herausgegeben.


Deir Mukhalles, Schulzentrum der griech-kath.
Religionsgemeinschaft,
Schuldirektor Abdo Raad

Im Jahre 1938 wurde die Schule ausgebaut und war bis dahin nur Seminaristen vorbehalten, die Priester werden wollten. Ab 1938 öffnete sich die Schule auch für andere Schülerinnen und Schüler.

Während des Bürgerkrieges 1975 bis 1990 wurde vieles zerstört. 1985 musste die Schule verlassen werden, weil der Krieg tobte, fünf Jahre war die Schule verwaist. Gegen Ende des Krieges wurde die Schule ein Konversionszentrum für Milizionäre, die Zivilberufe als Schmiede, Automechaniker oder Schreiner erlernen konnten. In dieser Zeit war das Gebäude eine Art Berufsschule.

Derzeit beherbergt die Schule ca. 250 SchülerInnen, das Internat hat Kapazitäten für ca. 60 Schüler, die Probleme in den Familien haben und nicht mehr zu Hause wohnen können.

Zusätzlich gibt es derzeit noch acht Seminaristen, die Priester werden möchten.

Im Sommer bietet die Schule Work-Camps an zwischen Libanesen und Palästinensern.

Die palästinensischen Flüchtlinge kommen aus dem Lager En El Hilweh. Ziel ist es, ein besseres Verständnis füreinander zu bekommen.

Rafik Schami lernte an dieser Schule, ebenso auch Minister und andere führende Intellektuelle.

Rund 66 Prozent der SchülerInnen sind christlich, 34 Prozent sind muslimisch.


Emily Nasrallah, Beirut

Emily Nasrallah gehört zu den führenden Schriftsteller-Persönlichkeiten des Libanon und kam gerade von einem Besuch der Frankfurter Buchmesse zurück. Beirut ist die Hauptstadt der arabischen Bücher. Mehr als zwei Drittel der arabischen Literatur wurde früher in Beirut verlegt.

Die meisten AutorInnen veröffentlichen in Beirut, weil es eine große Toleranz und eine Atmosphäre von Freiheit gibt, was Veröffentlichungen betrifft.

In dieser ihrer ersten Novelle "Septembervögel" beschreibt sie das Thema "Emigration".

Später schrieb sie das Buch "Fluch gegen die Zeit", das ebenfalls um das Thema "Auswanderung" geht. Während des Bürgerkrieges 1975 bis 1990 fühlte sie sich wie "eingefroren".

In der Emigration sind es oft die Frauen, die das Leben organisieren, Männer finden oft nur schwer im Ausland ihre Rolle und fühlen sich nicht gebraucht. Die Männer zieht es dann eher zurück in den Libanon als die Frauen, die sich besser im Ausland zurechtfinden.

In Frankfurt war sie geschockt, wie sie am Flughafen behandelt wurde. Sie hatte Schuhe mit Zip-Verschluss aus Metall, der die Sicherheitsanlage auslöste. Daraufhin wurde sie mit anderen Frauen über eine Stunde festgehalten, ohne Zugang zu einer Toilette. Für sie war es eine ganz schlechte Erfahrung im sonst so "perfekten" Deutschland.


Frauenorganisation KAFA (www.kafa.org.lb), Beirut

Die Organisation KAFA (arabisch: genug; im Sinne von: es reicht) setzt sich für Frauen- und Kinderrechte ein. Derzeit versucht KAFA, ein neues Gesetz durchzubringen, das Frauen und Kindern mehr Rechte einräumt.

Drei männliche Mitarbeiter von KAFA arbeiten mit Männern, die Gewalt gegen Frauen anwenden. Es gibt ein Beratungszentrum für missbrauchte Frauen und auch ein Beratungszentrum für Männer, die Frauen missbraucht haben und Therapie suchen.

Im Zentrum werden Frauen, die Gewalt erfahren haben, von Sozialarbeitern angehört, die anschließend psychologische, juristische und soziale Unterstützung anbieten.

KAFA hat eine 24-Stunden-Hotline und bietet Sozialarbeiterschulungen und Selbsthilfegruppen im Zentrum an, ebenso Trauma-, Tanz- und Beschäftigungstherapie.

Nach repräsentativen Umfragen haben 16 Prozent der Kinder im Libanon entweder sexuelle Gewalt erfahren oder angedroht bekommen - ein Tabuthema im Libanon.

Eine KAFA-Broschüre klärt auf und weist auf Rechte hin, wie Kinder "Nein" sagen können. Drei Erwachsene kann das Kind in einen "Kinderpass" eintragen, bei dem es sich aussprechen kann. KAFA hat einen Film für Teenager gemacht, um sie auf das Thema "sexuelle Gewalt" hinzuweisen und zu warnen.

Sexueller Missbrauch ist nicht schichtspezifisch. Er kommt in allen Religionen und allen sozialen Schichten vor. Die Frauen und Kinder im Libanon erfahren über TV-Werbung, Poster und Presse-Artikel über die Arbeit von KAFA.

Im Libanon gibt es drei Häuser, die als Zufluchtsorte dienen, ein viertes Haus ist ausschließlich für Ausländerinnen. Die Caritas kümmert sich hauptsächlich um die ausländischen Frauen. Auch Klöster sind unter den Zufluchtsorten.

Es gibt viele religiöse Würdenträger, die die Arbeit behindern, aber auch etliche, die sie unterstützen. Frauen haben Angst, obdachlos zu werden, wenn sie "auspacken" und die Familie verlassen. Töchter können sie vielleicht noch mit auf die Flucht nehmen, Söhne gehören den Männern. "Schmutzige Wäsche rauszuhängen" ist schlimm für die ganze Familie.

Wenn eine Frau zur Polizei geht um Gewalt und Missbrauch anzuzeigen, rufen die Polizisten gelegentlich den Mann an, er soll seine Frau abholen, und schüchtern oft die Frauen ein.

Manchmal rufen Nachbarn bei der Polizei an, und die Polizei sagt, so lange der Mann seine Frau nicht tot schlägt, könnten sie nichts machen.

Frauen müssten sich ausziehen auf der Polizeistation, um ihre Narben und Wunden zu zeigen - dies geht aus kulturellen Gründen im Libanon nicht.

Der neue Gesetzentwurf besagt, dass die Polizei den Gewalt-Fällen nachgehen muss.

Wenn der Mann die Frau schlägt, soll er künftig im Falle der Trennung die Wohnung verlassen, um der Frau und den Kindern das Weiterleben zu ermöglichen. Die Männer sollen zum Unterhalt verpflichtet werden. Sollte der Mann nicht zahlen können, soll der Staat einspringen. Fünf Minister haben das Gesetz bereits überarbeitet. Es besteht große Hoffnung, dass das Gesetz im Kern verabschiedet wird.

Wenn eine Frau auch nur eine Nacht außerhalb der Familie verbracht hat, weil sie vor der Gewalt davon gelaufen ist, gilt sie oft schon als "Prostituierte".

KAFA versucht, die Situation der Familien zuhause zu verbessern.

Oft halten die Frauen noch die Ehe aufrecht, bis dann die Scheidung kommt.

Scheidungen sind kompliziert und teuer, kaum eine Frau kann sich eine Scheidung leisten. Die Frauen, die gehen, gelten als die "Bösen", als diejenigen, die die Familie "zerstört" haben.

Von ca. 30 Frauen, die zu KAFA kommen, geht eine in ein Frauenhaus. Der Libanon ist ein Dorf, jeder kennt jeden. Die längste Zeit, die eine Frau im Frauenhaus bleiben kann, sind zwei Jahre.

Bei Orthodoxen ist die Scheidung teuer, bis zu 50.000 Dollar müssen beim Bischof auf den Tisch gelegt werden. Viele Christen konvertieren von der orthodoxen Kirche zum Islam, weil im Islam die Scheidung billiger ist.

Insgesamt gibt es 18 Hauptamtliche und ca. 200 Freiwillige bei KAFA. Oxfam, Save the children (Schweden), EU und Unicef fördern die Arbeit.


Mohamad Raad, Beirut

Mohammad Raad ist Fraktionssprecher der Hisbollah, die im Parlament den Namen "Treue zum Widerstand" trägt. Er empfängt uns im Abgeordnetenhaus in Beirut, wo er sein Büro hat.

Mohammed Raad zitiert einen ehemaligen libanesischen Politiker mit den Worten: "Im Libanon gibt es viel Freiheit und wenig Demokratie".

Die Muslime insgesamt lehnten die Zivilehe ab. Die Frage eines Friedens mit Israel werde nicht durch Mehrheiten entschieden.

Im 128-köpfigen Parlament - je zur Hälfte mit Christen und Muslimen besetzt - hat die Hisbollah derzeit 11 Abgeordnete und zwei weitere unabhängige Kandidaten, die auf der Hisbollah-Liste kandidiert haben, insgesamt also 13 Abgeordnete.

Für die im Libanon lebenden palästinensischen Flüchtlinge engagiert sich die Hisbollah, sieht das Problem jedoch als Aufgabe der gesamten Internationalen Gemeinschaft: "Die Verantwortung für die Flüchtlinge liegt bei der UNRWA, nicht beim libanesischen Staat".

Im Krieg des Jahres 2006 seinen rund 230 Gebäude in Beirut von der israelischen Luftwaffe zerstört worden, die fast alle wieder aufgebaut wurden. Die Probleme seien seither größer geworden.

Auf die Frage, wie er die Zusammenarbeit mit der Unifil bewertet, antwortet er: "Wir akzeptieren die Arbeit von Unifil". Es gebe eine positive Zusammenarbeit zwischen der Unifil und den Menschen im Süden des Libanon. "Leider sind die deutschen Soldaten nicht auch auf dem Festland, sonst gäbe es bestimmt auch mit ihnen eine gute Kooperation", so Herr Raad.

Wenn das Volk entscheidet, dass der Widerstand gegen eine Besatzung auch mit Gewalt geführt wird, sieht er diesen gewaltsamen Widerstand als demokratisch an. Solange es eine Besatzung von libanesischen Boden gibt, ist für ihn diese Situation gegeben. Bei den Schebaa-Farmen sei dies der Fall. Er kritisiert auch die täglichen israelischen Überflüge.

Den Unterschied zwischen Hisbollah - den Menschen im Süden - und anderen Bevölkerungsgruppen im Libanon sieht er darin, dass Hisbollah bereit war, viele Opfer zu bringen, um den eigenen Boden zu erhalten.

"Wir wollen nicht diktieren, was das palästinensische Volk akzeptiert oder nicht akzeptiert.

Wir hätten das Unrecht der Staatsgründung niemals akzeptiert", sagte er. Die ganze Siedlungspolitik lehnt er ab. "Ein Besatzer kann nicht die Identität eines Volkes ändern. Der Besatzer soll und muss das besetzte Land verlassen. Das ist die Meinung der Hizbollah, aber es ist das palästinensische Volk, das letztlich entscheidet", so der Fraktionschef.

Auf die Frage, wo die Hisbollah ihre Kämpfer ausbilden lässt, antwortet er: Im Libanon gab es bis vor kurzem Militärpflicht, wo viele Hisbollah-Mitglieder den Umgang mit der Waffe gelernt haben. Die Hizbollah habe ein großes Kapital an gut ausgebildeten Kämpfern. Wenn es eine Konfrontation gibt, bilden die Ausgebildeten die nicht Ausgebildeten aus: "Der Wille ist da".

Auf die Frage, woher das Geld und die Waffen kommen, antwortet er: "Das ist Angelegenheit der Widerstandsorganisation".

Nachgefragt, ob die Hisbollah bereit sei, ihre Waffen und Kämpfer in die libanesische Armee zu integrieren, antwortet er: "Dies wird am Verhandlungstisch entschieden. Es geht um eine gemeinsame Vorstellung, wie der Libanon sich verteidigen soll. Wenn die Hisbollah sieht, dass die libanesische Armee wirklich in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen und das Land zu schützen, ist so etwas vorstellbar".

Auf die Frage, wie der aktuelle Stand bezüglich der UN-Resolutionsforderung 1701 sei, wo gefordert wird, dass die Hisbollah ihre Waffen auf das Gebiet nördlich des Litani-Flusses zurückziehen muss, antwortet er: "Wenn die Unifil Waffen südlich des Litani-Flusses findet, darf sie diese gerne behalten".

"Ich wünsche Ihnen, dass sie einen Monat im Libanon bleiben und ganz genau schauen, wie der Alltag der Menschen im Süden und der Hisbollah ausschaut. Bedauerlicherweise bringen die Medien ein falsches Bild über die Hisbollah ins Ausland und befördern damit eine bestimme Politik und Richtung", so Herr Raad. In Bezug auf die Hilfe vom Ausland sagte er: "Früher gab es viele Delegationen, die gefragt haben, wo die Hisbollah ihr Geld, ihre Ausbildung und ihre Waffen herbekommt. "Wir haben gesagt: Schiiten sind über die ganze Welt verstreut. Leider haben die arabischen Staaten vor einem Monat begonnen, viele Schiiten aus ihren Ländern raus zu werfen". Und er fügte hinzu. "Iran ist betroffen von Bedrohung, ebenso wie der Libanon".

Auf die Frage, wie die Beziehung zwischen Christen und Muslimen im Süden aussieht, nachdem Herr Raad selbst mit Hisbollah-Kämpfern im Jahre 2000 eine christliche Gemeinde auf Bitten des dortigen Priesters vor Angriffen geschützt hatte, antwortet er: Diese Begegnung war eine ihn sehr glücklich machende. Er habe damals sehr schnell gehandelt - und dieses Handeln zugunsten der Christen habe alles durchbrochen, was vorher Falsches über die Hisbollah gesagt worden sei. "Wenn wir Auseinandersetzungen mit anderen haben, so müssen wir uns dennoch gegenseitig akzeptieren. Wir sind offen für einen Dialog zwischen uns und anderen. Waffen tragen wir, wenn jemand uns angreift und unseren Boden vergewaltigt", so Herr Raad.


Dialog mit einer Vertreterin und einem Vertreter von Unifil

Im "Haus des Friedens" (Dar Assalam, Wardaniyeh) hatten wir eine Begegnung mit zwei Unifil-Vertretern, die namentlich ungenannt bleiben wollen. Sie gaben eine grundsätzliche Situationsbeschreibung der Unifil-Arbeit.

Die derzeitige libanesisch-israelische Grenze ist eine militärische Rückzugsgrenze, keine offizielle Staatsgrenze. Im Norden ist der Litani die Begrenzung für das Unifil-Gebiet.

Unifil wurde 1978 im Sicherheitsrat beschlossen, als die Palästinenser noch im Süden des Libanons sehr präsentwaren. Unifil hatte anfangs 6.000 bis 9.000 Soldaten und konnte später noch nicht im Süden stationiert werden, weil israelische Truppen dieses Gebiet noch bis zum Mai 2000 besetzt hielten.

UN-Militärangehörige und Zivilangehörige leben seit 2000 in Tyrus oder Beirut. Vor dem Sommerkrieg 2006 hatte die Mission nur noch 2.000 Soldaten. Mit der neuen Resolution 1701 im Jahre 2006 schnellte die Mission auf 13.000 Soldaten hoch. Die erste maritime UN-Truppe wurde 2006 mit deutscher Beteiligung gebildet. Diese UN-Resolution 1701 hat ein robustes Mandat. Die LAF (Libanesische Armee Forces) sind für die Sicherheit selbst verantwortlich mit Unterstützung der Unifil. Dies bedeutet, dass Unifil unterstützend für die libanesische Armee tätig wird, nicht umgekehrt. Sehr viele Waffenreste und Minen wurden von der Unifil seither geräumt.

Zivilmilitärische Zusammenarbeit erfolgt in Form von humanitären Projekten. Die Medizinische Versorgung wurde verstärkt. Schul- und Schreibhefte wurden verteilt, um das Leben zu verbessern. Die Belastung für die Zivilbevölkerung wie auch für die Soldaten ist durch den Lärm der Fahrzeuge und die ständige Militärpräsenz sehr hoch.

Derzeit beteiligen sich 30 Staaten an Unifil. Indonesien ist ein sehr großer Truppensteller. Bis 2006 waren Inder und Ghanaer die Haupttruppensteller. Die Inder hatten immer einen Veterinär dabei, der alle Tiere der Region untersucht hat. Dadurch wurde Sympathie geschaffen. Zwei Nationen haben aktuell wieder Veterinäre mitgebracht, die äußerst wichtig sind.

Das politische Mandat liegt bei Unscol (United Nation Special Commission on Libanon).

Mit den Wahlen hat die Unifil nichts zu tun, auch nichts mit der Regierungsbildung. Viele Mitarbeiter sind nur sechs Monate da.

Direkt an der Grenze lud der damalige UN-Kommandeur 2006 unmittelbar nach dem Waffenstillstand israelische und libanesische Militärs ein, um sie in einem Raum zusammen zu bringen.

Mit Karten wurde geschaut, wo noch Israelis sind und wo die libanesischen Soldaten stationiert werden sollten. Unifil überwachte, dass Zone um Zone von den Israelis geräumt wurde und die libanesische Armee die frei werdenden Räume besetzte. Es gab keine großen Probleme, der Rückzug ging relativ reibungslos vonstatten, was viele so nicht erwartet hatten.

Alle vier Wochen findet ein Treffen mit je einem General und drei bis vier weiteren Militärs der jeweiligen Seite direkt an der Grenze in einem Unifil-Gebäude statt. Es ist das einzige Forum, wo Israelis und Libanesen direkt miteinander sprechen.

Fast täglich fliegen israelische Jets über den Libanon, aus dem Libanon wurde im Oktober eine Rakete in Richtung Israel abgefeuert. Solche Verletzungen der UN-Resolution werden an das UN-Hauptquartier in New York gemeldet.

Der derzeitige Grenzzaun ist eine israelische Verteidigungsanlage, teils auf der offiziellen Linie, teils 150 Meter daneben. Manchmal gehen Bauern über die "blaue Linie" der Unifil, recht nahe an den Zaun der Israelis, weil sie so viel Land wie möglich bestellen wollen.

Israelis, Libanesen und Unifil markieren gemeinsam mit GPS-Geräten die "blaue Linie" als Staatsgrenze.

Gajahr - ein Grenzdorf, teilweise libanesisch, teilweise israelisch - ist ein Spezialfall. Die Grenze zwischen Israel, Syrien und Libanon war dort nicht festgelegt. Die Linie geht offiziell durch das Dorf, das aber nicht geteilt wurde. Einige wenige BewohnerInnen des Dorfes haben die israelische Staatsbürgerschaft angenommen.

Die israelische Armee hat sich 2006 aus dem Dorf zurückgezogen und die Hisbollah anschließend einige Attacken gegen Israel durchgeführt. Israelische Truppen sollten sich aus dem nördlichen Bereich des Dorfes zurückziehen und Unifil die Sicherheitsüberwachung übernehmen. Die libanesische Armee soll dort nicht stationiert werden, weil einige israelische Staatsbürger im Dorf leben. Der Nordteil ist eindeutig auf libanesischen Gebiet.

Das Grab des Scheichs in unmittelbar Grenznähe wurde viele Jahre von libanesischen Muslimen verehrt. Israelische Offizielle behaupteten dagegen, dass ein Rabbi im Steinsarg liegt - daher wurde das Grab in der Mitte geteilt. Die Grenze zwischen Israel und Libanon verläuft seither genau in und über der Mitte der Steinplatte.

Ein psychisch kranker libanesischer Mann ging im Herbst 2009 am Zaun entlang, die israelischen Soldaten holten ihn auf ihre Seite, innerhalb von 24 Stunden wurde der Mann mit Hilfe der Unifil zurück in den Libanon gebracht.

Wenig später stieg ein israelischer Mann über den Zaun und wurde innerhalb von 24 Stunden wieder von Libanon nach Israel zurück gebracht, ebenfalls mit Unifil-Unterstützung.

Am 14. August 2006 wurde die aktuelle Unifil-Resolution in Kraft gesetzt. Pro Tag fährt Unifil ca. 300 bis 350 Patrouillen. Vor 2006 gab es keine Präsenz staatlicher Organe - Polizei und Militär - im Süden Libanons. Unifil-Patrouillen haben noch viele Bunker und Befestigungen gefunden. Raketen waren ebenfalls dort gelagert. Im Osten der Sicherheitszone hat Unifil in diesem Jahr bereits 34 Raketen gefunden, die noch abgefeuert hätten werden können. Es handelte sich um alte, aber noch funktionsfähige Waffen.

In Häuser und Privateigentum darf Unifil nicht hineingehen. Wenn keine libanesische Patrouille in der Nähe ist, kann auch die Unifil eingreifen, wenn Gefahr im Verzug ist.

Neben den 13.000 UNIFIL-Soldaten sind 15.000 libanesische Soldaten im Südlibanon stationiert, was angesichts der geschätzten rund 40.000 bis 50.000 libanesischen Soldaten insgesamt eine ganze Menge ist. Wenn jemand schießt, darf zurückgeschossen werden.

Alle Parteien müssen die Bewegungsfreiheit von Unifil garantieren. Es gab vor 2006 Gebiete, in denen Unifil geblockt und UN-Soldaten an der Weiterfahrt gehindert wurden.

270 Unifil-Soldaten sind seit 1978 ums Leben gekommen. In den ersten Jahren nach 1978 gab es die meisten UN-Toten.

Beim Kana-Angriff 1996 der israelischen Luftwaffe wurden mehr als 100 libanesische Zivilisten getötet, die sich auf dem UN-Gelände in zwei Gebäuden in Sicherheit bringen wollten.

2006 wurden in Khiam vier UN-Mitarbeiter auf dem dortigen UN-Stützpunkt durch eine israelische Bombardierung getötet. Ein italienischer UN-Soldat wurde bei einem anderen Angriff von israelischer Seite schwer verletzt und ist seitdem querschnittsgelähmt.

Auf libanesischem Gebiet wurde vermutlich bei der Bodeninvasion 2006 ein technisches Kommunikations-Gerät von der israelischen Armee eingegraben, das von der israelischen Regierung im Oktober 2009 mit Bomben zerstört wurde, damit es nicht von der Hisbollah entdeckt wird. Die arabischen Zeitungen im Libanon berichteten ausführlich mit Bildern über den Vorfall.


Deutsche Botschaft in Beirut

Der Vertreter der Botschafterin, der ebenfalls nicht namentlich genannt werden möchte, gab uns zunächst einen historischen Abriss der jüngsten Geschichte des Libanon, bevor wir auf aktuelle Themen zu sprechen kamen.

Auf die Äußerung von Frau Merkel, dass der deutsche maritime Unifil-Einsatz die Sicherheit Israels verbessere, gab es 2006 deutlich wahrnehmbare Kritik im Libanon. Heute sei Unifil unumstritten, die deutsche Marine hat Boote der libanesischen Seite überlassen und bildet Kontrolleure aus.

Westliche Unterstützung für die Palästinenser wird im Libanon sehr kritisch gesehen, weil dahinter befürchtet wird, die Palästinenser dauerhaft anzusiedeln. Die libanesischen Armen dagegen würden vernachlässigt. Die Botschaft achtet darauf, verschiedene Gruppen zu fördern, damit nicht der Vorwurf der Einseitigkeit entsteht.

Hauptaufgaben der Botschafts-Arbeit sind Ausreisebearbeitungen und Zwangsverheiratungsfälle


Malteser-Zentrum, Beirut (www.libanonprojekt.de)

Carol Cooke, Leiterin des Projektes "Caravan", begrüßte uns. Seit August 2008 läuft das Projekt mit sieben deutschen Freiwilligen, die Behinderte betreuen und gleichzeitig an der Jesuiten-Universität studieren.

Die Malteser waren schon vor 10 Jahren im Libanon. Die Anfangsidee bestand darin, in den Bergen mit Behinderten zu arbeiten. Viele Behinderte hatten seit Jahren keine Ausflüge mehr gemacht.

15 Menschen mit Behinderungen kamen aus der Psychiatrie und 15 aus einem Altenheim; mit ihnen wurden zunächst Sommercamps durchgeführt. Die Behinderten sind zwischen 8 und 40 Jahren. Sie freuen sich sehr, wenn die jungen Menschen aus Deutschland kommen und sie gemeinsam mit libanesischen Freiwilligen betreuen.

Neben den Besuchen bei Behinderten gibt es ein Curriculum an der Jesuiten-Universität, die Prüfungen werden in Deutschland anerkannt (Creditpoint-System). Schwerpunkte sind Arabische Sprache und vergleichende Religionswissenschaften.

Das Mindestalter der Freiwilligen ist 18 Jahre, das Höchstalter etwa 25 Jahre.


Birgit Kaspar, Wardaniyeh

Birgit Kaspar war früher ARD-Korrespondentin für den Nahen Osten, seit einigen Jahren arbeitet sie als freie Journalistin für verschiedene Medien. Am Ende unserer Reise gab sie eine Zusammenfassung ihrer Sicht der aktuellen politischen Situation im Libanon.

Die derzeitige Regierung besteht aus dem Ministerpräsidenten Saad Hariri, dem Führer der Sunniten, der gemeinsam mit den Christen Geagea und Gemayyel eine Bewegung bildet.

Deren Vision beschreibt sie so: Das Land soll ein Imperium der Banken und Immobilienmakler werden, die Libanesen sollen das Leben genießen und der Libanon ein Urlaubsparadies werden.

Die Opposition besteht aus: Hisbollah und Amal auf schiitischer Seite und der Freien Patriotischen Front des Christen Michel Aun.

Deren Vision sieht sie darin: Widerstand gegen Israel organisieren und US-Vorherrschaft im Land verhindern. Soziale Gerechtigkeit soll hergestellt und Korruption bekämpft werden: "Hisbollah operiert am transparentesten und kassiert am wenigsten ab", ergänzt sie.

Die Aufteilung aller Posten funktioniert von der Staatsspitze bis in die niedrigsten Regierungsämter entlang der Aufteilung Christ, Sunnit, Schiit.

Da es keine Volkszählung gibt, kann Frau Kaspar die Bevölkerungsverteilung nur schätzen: ca. 33% Schiiten, ca. 33% Sunniten (inkl. Drusen), 33% Christen. Christen und Sunniten profitieren von der Verhinderung einer Volkszählung, weil sie sonst Privilegien verlieren würden.

Die meisten Schiiten stehen hinter der Hisbollah. Nabih Bern, Parlamentspräsident der Amal-Bewegung, hat keine große Gefolgschaft mehr, die Hisbollah "zieht ihn mit durch, er war der Mann Syriens".

Hisbollah wird im Westen häufig als Widerstandsorganisation bezeichnet. Sie ist aber integraler Bestandteil der Bevölkerung. Die Hisbollah ist die stärkste bewaffnete Organisation im Libanon, andere Organisationen haben ihre Waffen abgegeben nach Ende des Bürgerkrieges. Die Hisbollah ist militärisch sogar stärker als die libanesische Armee. Hisbollah begründet ihre notwendige Stärke mit der Bedrohung Israels.

Hisbollah hat sich seit 2006 nördlich des Litani, vor allem in der Bekaa-Ebene "eingegraben".

Viele Menschen im Süden haben nach wie vor ihre Waffen im Keller. Im Falle eines Falles werden die Menschen dort zu Kämpfern.

Ein Waffendepot der Hisbollah, das von Israel beschlagnahmt worden war im letzten Krieg 2006, wurde im Herbst 2009 gesprengt. Die Masse der schweren Waffen befindet sich derzeit außerhalb des Südlibanon.

Hisbollah hat derzeit kein Interesse, sich von der libanesischen Armee "aufsaugen" zu lassen. Allenfalls ist denkbar, dass die Hisbollah eine "Sonderbrigade" innerhalb der libanesischen Armee wird. Sie wird sich vermutlich nicht von einem sunnitischen General befehligen lassen.

Die Führung der Hisbollah hat engste Beziehungen zu Chameini, dem obersten geistlichen Führer im Iran und zieht eng mit ihm an einem Strang. Wegen der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Hisbollah wird diese vermutlich nicht stillhalten, wenn der Iran angegriffen werden würde. Die Raketen, die nun in der Bekaa-Ebene stationiert sind, reichen bis nach Israel.

Im Grenzgebiet zwischen Syrien und Libanon gibt es ein palästinensisches Militär-Trainingslager, das zum Teil auf syrischem und zum Teil auf libanesischem Gebiet liegt. Durch diese "Schleuse" wurden in der Vergangenheit Waffen in den Libanon gebracht. Die zur Kontrolle eingesetzten libanesischen Sicherheitskräfte schauten weg bei solchen Transporten, weil sie heimliche oder offene Sympathie für die Hisbollah haben, die das Land gegen Israel verteidigt.

So lange beide Seiten kein Interesse an einer militärischen Auseinandersetzung haben, wird die Situation ruhig bleiben.

Die Bundesmarine führt die Maritim Task Force an - und verhindert, dass die israelischen Schiffe die libanesische Küste weiter kontrollieren. Damit hat Israel die Küsten-Kontrolle und deren Kosten seit 2006 an die Unifil "ausgelagert".

Im Juni 2009 wurden landesweite Wahlen durchgeführt. Saad Hariri wurde beauftragt, die Regierung zu bilden. Es geht um Macht und Geld bei den Ministerposten. An die jeweiligen Anhänger werden Beträge überwiesen. Wegen persönlicher Eitelkeiten war bis Ende Oktober keine Regierung zustande gekommen.

Der größte Feind im Land ist die israelische Regierung. Die Libanesen werden vermutlich die letzten sein, die einen Frieden mit Israel schließen, nachdem Syrien einen Frieden geschlossen hat und das Problem mit den palästinensischen Flüchtlingen gelöst ist, so Frau Kaspar.

Die Wirtschaft boomt, beim Hausbau werden Kredite nur vergeben, wenn 50 % Eigenkapital vorhanden ist. Kuwaitis und Saudis bauen, legen Geld an und genießen den etwas kühleren Sommer im Libanon gegenüber den Golfstaaten. Der Libanon ist ein Eldorado für Immobilien-Spekulationen.

Das Bankensystem funktioniert, dennoch ist die libanesische Wirtschaft insgesamt in einem desolaten Zustand. Das Land ist mit ca. 48 Milliarden US-Dollar total verschuldet, noch aus der Rafik Hariri-Zeit, der das Land als Tourismus-Zentrum aufbauen wollte.

Rafik Hariri setzte auf einen baldigen Frieden, der einen Tourismus im großen Stil ermöglichen sollte. Sehr viel Geld geht in die Zinszahlungen. Den größten Teil der Schulden ist die Regierung bei libanesischen Banken eingegangen, die auf nicht absehbare Zeit erheblich an der Staatsverschuldung verdienen werden.

In Beirut gibt es 16 Stunden am Tag Strom, im Süden 8 Stunden, auf den Dörfern manchmal noch weniger. Sowohl die Elektrizitätsversorgung wie auch die Wasserversorgung stehen vor dem Zusammenbruch.

Der Libanon steht auf der Liste der "gescheiterten Staaten" ganz oben. Die größten Probleme sind der Konfessionalismus und die Führer, die sich mehr um ihr eigenes Wohlergehen kümmern als um die Bevölkerung.

Die Regierung Siniora hat in einer Regierungserklärung erklärt, dass die Hisbollah gemeinsam mit der libanesischen Regierung das Land verteidigen soll.

Saad Hariri, Nachfolger Sinioras, hat einen saudischen Pass und fliegt vor wichtigen Entscheidungen nach Saudi-Arabien und fragt, was er machen soll. Die Saudis haben nach 2006 rund zwei Milliarden US-Dollar in libanesischen Banken hinterlegt, um die libanesische Führung zu stützen.

Die Libanesen rechnen damit, dass sie in absehbarere Zeit einen neuen Krieg erleben werden. Der Grund ist, dass Israel auf Dauer nicht mit der starken Hisbollah leben möchte.


Zur Situation der palästinensischen Flüchtlinge

Während der "ethnischen Säuberung Palästinas" (so der Buchtitel des israelischen Historikers Illan Pappe) 1947/48 flohen rund 100.000 palästinensische Flüchtlinge aus dem nördlichen Teil Palästinas in den Libanon, wo die Zahl der offiziell registrierten Flüchtlinge bis heute auf mehr als 400.000 angewachsen ist. Von ihnen, so erzählte uns der bekannte palästinensische Rechtsanwalt Souheil El-Natour, leben inzwischen etwa 100.000 in den Golfstaaten, weil sie im Libanon offiziell nicht arbeiten dürfen - und versorgen z.B. von Kuwait oder den Vereinigten Arabischen Emiraten aus ihre Familienangehörigen im Libanon.

Palästinenser sind auf dem Arbeitsmarkt im Libanon außerhalb der Flüchtlingslager großen Restriktionen und etlichen Verboten unterworfen. Das generelle Arbeitsverbot im Libanon in mehr als 70 Berufen wurde im Jahre 2005 von dem zuständigen Hisbollah-Arbeitsminister für im Libanon geborene Palästinenser aufgehoben. In akademischen Berufen (Arzt, Apotheker, Rechtsanwalt) dürfen Palästinenser weiterhin nicht arbeiten, weil sie nicht in die Standesverbände aufgenommen werden. Die Lockerung des Arbeitsverbots von 2005 verlangt allerdings eine teure Arbeitserlaubnis in Höhe von einem Monatsgehalt, die jährlich neu zu verlängern ist. Außerdem müssen Palästinenser mit Arbeitserlaubnis zwar Sozialabgaben zahlen, kommen aber nicht in deren Genuss. Die libanesische Regierung handelt nach dem Grundprinzip: Ausländer werden im Libanon so behandelt, wie Libanesen in dem entsprechenden Gast-Land behandelt werden. Da Palästinenser aber keinen Staat besitzen, werden ihnen die eingezahlten Sozialabgaben nicht ausgezahlt.

Weil sie in vielen Berufen nicht legal arbeiten dürfen, werden Flüchtlinge als billige Arbeitskraftreserve z.B. in Krankenhäuser sogar als Ärzte illegal beschäftigt, erhalten allerdings nur einen Bruchteil des Gehaltes, den ein libanesischer Arzt oder eine Ärztin verdient.

Etwa 100.000 Palästinenser - so Schätzungen versuchen derzeit in Europa, den USA oder anderen Ländern ihr Schicksal zu verbessern und das Leben ihrer Angehörigen durch Überweisungen zu erleichtern.

Seit dem Frühjahr 2001 hat sich die Eigentumsfrage für palästinensische Flüchtlinge noch einmal massiv verschärft. Es wurde ein Gesetz verabschiedet, dass den Immobilienerwerb außerhalb der Lager für Palästinenser verbietet. Bereits vor 2001 erworbene Immobilien dürfen beim Tod des Eigentümers nicht an dessen Kinder weitervererbt werden.

Nach wie vor erhalten Palästinenser - mit Ausnahme weniger Christen - im Libanon keine Staatsbürgerschaft. Lediglich 30.000 schiitische Palästinenser, die aus sieben Dörfern in Nordgaliläa kamen, wurde in den 1990er Jahren auf Betreiben des libanesischen Parlamentspräsidenten Nabih Berry, der selbst Schiit ist, die libanesische Staatsangehörigkeit verliehen.

Im konfessionalistischen System des Landes, das von der Staatsspitze bis in die niedrigsten Verwaltungsämter alle Posten nach dem Schema Christ (Staatspräsident), Sunnit (Ministerpräsident) und Schiit (Parlamentspräsident) verteilt, würde eine Einbürgerung der palästinensischen Flüchtlinge die Zahl der sunnitischen Muslime um zehn Prozent erhöhen - was insbesondere von den Christen des Landes nicht gewünscht ist.

Nach der Zerstörung des Flüchtlingslagers Nahr El Bared bei Kämpfen zwischen der libanesischen Armee und verschanzten Islamisten im Jahre 2007 stehen zwar internationale Gelder zum Wiederaufbau bereit, archäologische Funde bei Aufräumarbeiten werden allerdings derzeit instrumentalisiert, um die Wiederansiedlung der durch die Kämpfe erneut traumatisierten Flüchtlinge vorerst mittels juristischer Auseinandersetzungen zu verhindern.


Im Lager Mar Elias, Beirut

Am südlichen Eingang des Lagers Mar Elias hängen zwei Foto-Plakate von Jassir Arafat und Sami Kuntar, der als Jugendlicher 1979 nach einer Kommandoaktion in Israel mit etlichen Toten auf israelischer Seite gefangen genommen wurde und bis zu seinem Austausch fast drei Jahrzehnte in israelischer Haft verbrachte. Um ihn im Rahmen eines Gefangenenaustausches freizupressen, hatte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah zwei israelische Soldaten entführen lassen - was im Sommer 2006 die israelische Regierung zum Anlass nahm, einen länger vorbereiteten 33-Tage-Krieg mit mehr als 1.200 Toten auf libanesischer und 160 Toten auf israelischer Seite zu entfachen.

In Mar Elias begegnete mir ein junger Mann, der 1982 im benachbarten Lager Shatila geboren wurde, seit einigen Jahren in Berlin lebt, und immer wieder seine Familie im Lager Mar Elias besucht. Auf meine Frage, was er sich von Deutschland wünscht, antwortete er: "Dass in den Medien die Palästinenser im Libanon nicht immer als Terroristen, sondern stärker als Opfer dargestellt werden".

Eine Gruppe von Flüchtlingsfrauen fällt mir auf, die wartend ihre Blicke auf den Eingang des Lagers richten. Seit zwei Stunden stehen sie hier und hoffen, dass ein Gemüsehändler mit frischer Ware vorbeikommt und sie ein paar Vitamine für ihre Familien einkaufen können.


Im Lager Shatila

Auf der Fahrt vom Lager Mar Elias ins Lager Shatila kommen wir an Fotos des obersten geistlichen Führers im Iran, Ali Chamenei, und des Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah vorbei. Vor dem Eingang zum Lager Shatila herrscht dichter Verkehr, der nur mühsam von einem Verkehrspolizisten auf verlorenem Posten angesichts des libanesischen Kamikaze-Fahrstils geregelt wird.

Seit vielen Jahren gehen auch sozial gestrandete Familien sowie Roma ins Lager Shatila, wo sie nicht vertrieben werden können und keine libanesischen Polizisten zu finden sind. Für die häufig gefährdete Sicherheit - schlimmster Brennpunkt ist das Lager En El-Hilweh bei Saida mit 80.000 Menschen - haben die Palästinenser in den Lagern selbst zu sorgen.

Ein großes Porträtfoto des Gründers der schiitischen Amal-Bewegung (arabisch: Hoffnung), Scheich Moussa Sadr, begrüßt Gäste des Lagers Shatila. Direkt vorne rechts am Eingang zeigen große, mehrere Meter lange Transparente Originalaufnahmen des Massakers von 1982, als christliche Milizen mit Rückendeckung der israelischen Armee mehr als 1.000 Zivilisten brutal ermordeten. Verteidigungsministers Ariel Sharon, dem erhebliche Mitverantwortung für das Massaker zukam, musste damals auf Druck der israelischen Friedensbewegung von seinem Posten zurücktreten.

Ein Mann, etwa Mitte fünfzig, lebt direkt am Eingang der Gedenkstätte in einer mehr als ärmlichen selbst gebauten Hütte von 3 mal 4 Metern. 1982 wurden von seiner großen Familie mehr als 30 Personen umgebracht, darunter seine Eltern, seine Geschwister, mehrere Onkel und Tanten sowie deren Kinder. Um den Toten Angehörigen nahe zu sein, entschloss er sich, direkt auf dem Gelände der Gedenkstätte zu leben.


Das Elend ist unbeschreiblich

An den mehrgeschossigen Betonbauten hängen unzählige Wäschestücke an vielreihigen Leinen, die darauf schließen lassen, wie überfüllt die einzelnen Räume sein müssen.

Durch die engen Gassen fällt kaum Licht in die Elendsbehausungen, im Erstfall würde kein einziges Feuerwehrfahrzeug hindurch passen. Über meinem Kopf hängen hunderte von Kabeln. In diesem Gewirr einen Fehler zu finden, stelle ich mir als Albtraum jedes Elektrikers vor. Manche Leitungen hängen mit blanken Enden herum, eine Sozialarbeiterin erklärt, dass Kinder immer wieder schlimme Verletzungen durch Stromschläge bekommen.

Der Blick in einzelne Zimmer zeigt das blanke Grauen: Kinder sitzen apathisch in dunklen Räumen, in denen sich nichts weiter befindet als verschmierte Wände.

Wie schon bei meinem letzten Besuch 2004 fällt mir auf, dass an mehreren Stellen die Wasserleitungen lecken und niemand sie repariert. Als Folge bilden sich Wasserlachen und Schlammbecken, die von spielenden Kindern mit ihren Fahrrädern teils umfahren, teils durchfahren werden.

Jugendliche hämmern wie sinnlos auf kaputten Tiefkühlschränken herum, Plastikteile fliegen dabei durch die Gegend. Ich denke mir: Auch dies ist offensichtlich eine Art, mit Wut und Frustration umzugehen - und dabei Energie rauszulassen.


Hoffnungsträger

Oasen der Hoffnung bilden in den Lagern die Einrichtungen der Organisation "Beit Atfal Assumoud" (arabisch: Haus der standhaften Kinder), wo uns in Shatila der langjährige Leiter Kassem Aina von der Arbeit erzählt. Mit zwei Jahren wurde er selbst aus seiner Heimat Palästina vertrieben, seit 61 Jahren lebt er nun im Flüchtlingslager, organisiert mit seinem Team Sozialzentren in den verschiedenen Lagern, sorgt für Nachhilfe-, Förder- und Berufsbildungskurse und hilft durch den Verkauf von Stickereien vor allem Frauen, etwas Geld zu verdienen. In den Sozialzentren stehen den Flüchtlingen kostenlos Zahnarztpraxen zur Verfügung, ein Fonds hilft bei medizinischen Notfällen. Unterstützt wird diese Arbeit aus Deutschland vom Verein "Flüchtlingskinder im Libanon e.V." (www.lib-hilfe.de), der mit einer hervorragend gestalteten Nakba-Ausstellung (arabisch: Katastrophe) auch auf die Wurzeln der palästinensischen Flüchtlingskatastrophe hinweist.

Zu den Hoffnungsträgern des Landes zählt auch das "Haus des Friedens" (Dar Assalam, www.libanon-reise.com), dessen Mitarbeiter Said Arnaout seit vielen Jahren in Kooperation mit deutschen Organisationen Begegnungsreisen in den Libanon organisiert.


Clemens Ronnefeldt ist Friedensreferent des Versöhnungsbundes. Er hält bundesweit Vorträge zu den Themen Libanon, Israel, Palästina, Iran und Afghanistan.
Kontakt: C.Ronnefeldt@t-online.de


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 24, IV/2009, S. 24 - 32
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2010