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STANDPUNKT/071: Stuttgarter Friedenpreis - Laudatio auf Agustín Aguayo von A. Zumach (FP)


Forum Pazifismus Nr. 17 - I/2008
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Ein wahrer Held der heutigen Kriege
Laudatio auf den US-Kriegsdienstverweigerer Agustín Aguayo bei der Verleihung des Stuttgarter Friedenspreises

Von Andreas Zumach


Wie kann es sein, dass ein US-Staatsbürger wegen seiner Verweigerung des Kriegsdienstes auf deutschem Boden verhaftet und zu einer achtmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt wird, wo doch die deutsche Verfassung in Artikel 4 Absatz 3 das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung garantiert?

Auf diese Frage gibt es zwei Antworten:

Erstens: Das Grundgesetz gilt in weiten Teilen nur für deutsche StaatsbürgerInnen, nicht aber für Ausländer. So bezieht sich Artikel 4 Absatz 3 nur auf die Verweigerung des Kriegsdienstes in der Bundeswehr, nicht aber in Streitkräften anderer Länder. Aber selbst so programmatische, normative Grundgesetzbestimmungen wie der Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" sind ja bis heute keine Verfassungswirklichkeit für viele BewohnerInnen der Bundesrepublik Deutschland - zum Beispiel für Menschen dunkler Hautfarbe.

Zweitens: Die Festnahme, Verurteilung und mehrmonatige Haft erfolgte ja nicht auf deutschem Boden, sondern in US-Militäreinrichtungen in Schweinfurt und Mannheim. Diese Einrichtungen liegen zwar auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, aber sie sind ja praktisch extraterritorial, da die deutschen Gesetze und auch das Grundgesetz hier keine Gültigkeit haben. Die Militärgerichtsbarkeit der USA könnte auf diesen Einrichtungen Todesurteile verhängen und diese sogar vollstrecken - obwohl die Todesstrafe in Deutschland seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Jahre 1949 abgeschafft ist. Selbst wenn die USA auf ihren Militäreinrichtungen in Deutschland gegen die Genfer Konventionen und andere Bestimmungen des Völkerrechts verstoßen würden - wie sie das seit Jahren in ihrer Basis Guantanamo auf Kuba tun - ließe sich damit unter Berufung auf das Grundgesetz und deutsche Gesetze nichts machen.

Was ich hier beschreibe, ist ein rechtspolitischer Skandal. Aber das ist die herrschende Rechtsinterpretation und Rechtspraxis ausnahmslos aller Regierungen der Bundesrepublik Deutschland seit 1949. Doch auch eine Rechtsinterpretation und -praxis, die nun seit fast 60 Jahren gilt, ist kein unveränderbares Schicksal. Ob es gelingt, diese skandalöse Rechtsinterpretation und -praxis zu verändern und dafür zu sorgen, dass eines Tages Deserteure und Kriegsdienstverweigerer egal welcher Nationalität in Deutschland sichere Aufnahme finden und Schutz vor dem Zugriff der Regierungen oder Militärs ihrer Heimatländer, hängt davon ab, ob wir alle gemeinsam den notwendigen politischen Druck für diese Veränderung entwickeln.


Überwindung der Illusionen

Es ist für mich eine große Ehre und Freude, dass mich die AnStifterInnen mit dieser Laudatio beauftragt haben. Denn hier im Stuttgarter Theaterhaus - und nicht etwa im Bendlerblock in Berlin, auf dem Ehrenfriedhof Arlington in Washington D.C. oder in dem in der deutschen Hauptstadt geplanten so genannten "Ehrenmal" für deutsche Soldaten - werden ja die wahren Helden der heutigen Kriege geehrt. Vor zwei Jahren verliehen die AnStifterInnen den Stuttgarter Friedenspreis hier im Theaterhaus an meine italienische Journalistenkollegin Giuliana Sgrena. Eine der leider nur sehr wenigen KriegsreporterInnen, die sich im Irak den raffinierten Mechanismen der modernen Kriegspropaganda widersetzte, die seit dem Vietnamkrieg unter Federführung des Pentagon entwickelt wurde und inzwischen weltweit praktiziert wird; eine Journalistin, die in ihrem Bemühen um umfassende Information, um Aufklärung und um möglichst weitgehende Annäherung an die Wahrheit gegen den breiten Strom vieler hundert "embedded journalists" schwamm, die sich vor und während des Irakkrieges vom Frühjahr 2003 und zum Teil fortgesetzt bis heute vom Pentagon korrumpieren ließen und lassen. Auch in vielen Redaktionen deutscher Medien.

Und heute geht der Friedenspreis an einen Mann, der vielleicht unter den amerikanischen Soldaten gewesen wäre, die Giuliana Sgrena im März 2005 am Flughafen Bagdad mit gezielten Schüssen und mit Mordvorsatz schwer verletzt haben und ihren Begleiter, den italienischen Geheimdienstbeamten Nicola Calipari, der Giuliana Sgrena kurz zuvor aus wochenlanger Geiselhaft befreit hatte, ermordet haben. Vollendeter Mord und Mordversuch - zu diesem eindeutigen Ergebnis kamen inzwischen die Untersuchungen der italienischen Regierung. Und Mord sowie Mordversuch heißt es auch in der Anklage gegen den tatsächlichen Mordschützen Mario Lozano, über die seit April vor dem Staatsgerichthof in Rom verhandelt wird - in Abwesenheit des Angeklagten, dessen Auslieferung die Regierung Bush in Verhöhnung aller völkerrechtsstaatlichen Bestimmungen verweigert.

In dieser Situation im März 2005 am Flughafen Bagdad oder in anderen Situationen im Irak der letzten viereinhalb Jahre wäre Agustín Aguayo vielleicht ein Mordschütze gewesen - wenn er während seines ersten Einsatzes im Irak den völkerrechtswidrigen Befehl seiner militärischen Vorgesetzten, als Sanitäter eine scharfe Waffe zu tragen und sich an Patrouillengängen, und damit an aktiver Kriegsführung zu beteiligen, nicht verweigert hätte. Und wenn er sich im September 2006 der erneuten Stationierung im Irak nicht durch Flucht aus dem Fenster der US-Kaserne in Schweinfurt entzogen hätte.

Im Januar 2003 unterschrieb Agustín Aguayo seinen Vertrag mit der US-Armee, die ihm ein festes Gehalt und die Ausbildung zum Sanitäter versprochen hatte. Aguayo trat der Armee bei, weil er - nach seinen eigenen Worten in einem Filminterview - "etwas Wundervolles mit seinem Leben machen wollte und etwas Gutes für sein Land".

"Wie naiv und blind patriotisch", höre ich so manche altgedienten Pazifisten und US-Kritiker aus der deutschen Friedensbewegung sagen. Wie kann man sich im Januar 2003 noch bei der US-Army verpflichten, obwohl die damals doch schon seit fast anderthalb Jahre in Afghanistan den "Krieg gegen den Terrorismus" führte, und obwohl der Irakkrieg damals unmittelbar bevorstand.

Doch diese Fragen und Kritik verkennen die reale wirtschaftliche und soziale Situation in den USA. Für ganz viele junge AmerikanerInnen aus den unteren Einkommensschichten des Landes ist die Verpflichtung bei den Streitkräften die einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu finanzieren oder eine einigermaßen vernünftige Ausbildung zu erhalten. Die große Mehrheit der Mitglieder der US-Streitkräfte stammt heute aus den unteren Einkommensschichten. Und der Anteil der Afroamerikaner und Latinos unter den Soldaten ist mehr als doppelt so hoch wie ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung der USA. Das Pentagon richtet sich mit seinen intensiven Rekrutierungsmaßnahmen für neue Soldaten vornehmlich an junge Menschen aus den ärmsten Teilen der Bevölkerung. Rund 2,8 Milliarden US-Dollar stehen dem Pentagon jährlich für Rekrutierungsmaßnahmen zur Verfügung. Zu diesen Maßnahmen gehören die persönliche Ansprache noch minderjähriger Jugendlicher bereits auf Schulhöfen, Werbefilme, Videogames, raffinierte Broschüren sowie finanzielle und andere Versprechen, die später, nach der Verpflichtung der Rekrutierten zu den Streitkräften, oftmals nicht eingehalten werden.

Agustín Aguayo muss immer noch eine kostspielige juristische Auseinandersetzung führen, um seine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer und eine ehrenhafte Entlassung aus der Armee zu erreichen. Möglicherweise wird sein Fall demnächst vor dem Supreme Court, dem höchsten Gericht der USA verhandelt.

Aber Agustín Aguayo engagiert sich nicht nur für die eigene Rehabilitierung. Bei öffentlichen Auftritten und Informationsveranstaltungen an Schulen warnt er unter Berufung auf seine eigenen Erfahrungen davor, sich für den Kriegsdienst im Irak, Afghanistan oder anderswo rekrutieren zu lassen. Zudem fordert er, dass alle US-Truppen so schnell wie möglich aus dem Irak abgezogen werden und dieser völkerrechtswidrige Besatzungskrieg endlich beendet wird.

Während seines ersten Einsatzes im Irak im Jahre 2004 hat Agustín Aguayo alle Illusionen verloren. Er erlebte, so schilderte er es in einem am Montag von der "Washington Post" veröffentlichten Interview, wie dieser Besatzungskrieg aus seinen Kameraden "Menschen machte voller Hass, Rassismus und totaler Missachtung für Menschlichkeit". Aguayo und andere Soldaten, die inzwischen den Kriegsdienst verweigert haben oder desertiert sind, mussten mit ansehen und konnten meist nicht verhindern, wie ihre Kameraden willkürlich und oft auf Befehl von Vorgesetzten unschuldige irakische Zivilisten misshandelten oder ermordeten.


"Muss es erst 58.000 tote GIs wie in Vietnam geben?"

Über 680.000 irakische Zivilisten wurden nach einer Untersuchung der renommierten britischen Medizinzeitschrift "The Lancet" seit Beginn des Krieges im März 2003 gewaltsam ums Leben gebracht. Im Vietnamkrieg waren es am Ende über drei Millionen Zivilisten. Die Zahl der getöteten amerikanischen Soldaten im Irak lag in den ersten drei Kriegs- und Besatzungsjahren bis März 2006 mit 2.314 sogar deutlich höher als in den ersten drei Vietnamkriegsjahren, in denen 1.864 GIs ums Leben kamen. Bis gestern fielen laut Mitteilung des Pentagon im Irak knapp 4.000 US-Soldaten.

Müssen es erst 58.000 werden wie schließlich in Vietnam, bevor dieser Besatzungskrieg beendet wird?

Zu den knapp 4.000 toten US-GIs im Irak kommen inzwischen über 60.000 körperlich Verwundete - darunter Tausende, die für den Rest ihres Leben schwer versehrt und pflegebedürftig bleiben werden. Darüber hinaus gibt es inzwischen über 25.000 GIs, die seit der Rückkehr aus Irak posttraumatische Belastungsstörungen aufweisen.

Aber auch finanziell kommen Krieg und Besatzung im Irak die US-amerikanischen SteuerzahlerInnen inzwischen weit teurer als jede militärische Intervention in der 230-jährigen Geschichte ihres Landes: 480 Milliarden US-Dollar betragen die vom US-Kongress bewilligten Irakkriegsausgaben für die Zeit von März 2003 bis Ende dieses Jahres. Jede Minute verschlingt das US-Besatzungsregime im Irak 200.000 Dollar. Seit Beginn dieser Friedensgala um 19.30 Uhr heute Abend sind das zwölf Millionen Dollar. Bis morgen Abend um 19.30 Uhr werden es 290 Millionen sein.

Für das Haushaltsjahr 2008 hat die Bush-Administration weitere 131 Milliarden Dollar beantragt. Damit werden die Ausgaben für die ersten fünfeinhalbjahre Irakkrieg und -besatzung auf 611 Milliarden Dollar steigen. Zum Vergleich: Der von 1964 bis 1973, also fast zehn Jahre währende Vietnamkrieg hat insgesamt 673 Milliarden Dollar gekostet.

611 Milliarden Dollar für den völkerrechtswidrigen Krieg und Besatzung im Irak - das ist eine obszöne Summe: Nach Berechnungen der Weltbank könnten mit 611 Milliarden US-Dollar Hunger und Unternährung bis zum Jahr 2015 weltweit überwunden und die Grundschulbildung für alle sechsjährigen Kinder dieser Erde gesichert werden. Mit 611 Milliarden Dollar ließe sich das Gesundheitsprogramm für arme, kinderreiche Familien in den USA in Höhe von 35 Milliarden Dollar, das von einer Mehrheit des US-Kongresses beschlossen, von Präsident George Bush aber per Veto verhindert wurde, 17 Mal finanzieren. Mit 611 Milliarden US-Dollar könnten 14 Millionen US-amerikanische StudentInnen ein einjähriges Stipendium inklusive Unterkunft und Verpflegung in Harvard erhalten, der teuersten Eliteuniversität der USA.

Doch für all diese und andere dringend notwendige zivile Aufgaben wird es wahrscheinlich keine zusätzlichen Dollars geben. Denn in der Nacht zu gestern hat der US-Kongress der Bush-Administration von den für 2008 beantragten 131 Milliarden Dollar bereits 70 Milliarden bewilligt. In beiden Häusern des Kongresses geschah diese Bewilligung mit der Mehrheit der demokratischen Senatoren und Abgeordneten. Und dies, obwohl die Parteiführung der Demokraten und ihre acht PräsidentschaftsbewerberInnen doch seit Monaten erklären, sie wollten den Besatzungskrieg im Irak beenden und die Truppen so schnell wie möglich nach Hause bringen. Hillary Clinton, Barak Obama und die anderen beiden Senatoren unter den demokratischen PräsidentschaftsbewerberInnen nahmen an der Abstimmung über das Irakkriegsbudget für 2008 gar nicht erst teil, um eine öffentliche Festlegung zu vermeiden. Dieses Verhalten der Demokraten im US-Kongress unterstreicht, wie wichtig, ja wie unverzichtbar der außerparlamentarische Widerspruch und Widerstand gegen den Besatzungskrieg im Irak ist - darunter gerade auch die Desertion und Kriegsdienstverweigerung von Angehörigen der US-Streitkräfte.


Respekt und Solidarität

Agustín Aguayo ist einer von inzwischen fast 14.000 US-Soldaten, die - laut offiziellen Zahlen des Pentagon - seit Beginn des Irak-Krieges im März 2003 desertiert sind oder den Kriegsdienst verweigert haben. 4.700 waren es allein zwischen September 2006 und September 2007. Damit verlassen inzwischen fast zehn von 1.000 US-Soldaten die Streitkräfte - und alle im Zusammenhang mit den Kriegen im Irak und in Afghanistan. Das ist die einzige erfreuliche Statistik im Zusammenhang mit den heutigen Kriegen. Nur während des Vietnamkrieges entzogen sich noch mehr US-Soldaten dem Kriegsdienst als heute - damals galt allerdings noch die allgemeine Wehrpflicht.

Das Wort "Deserteur" war in den USA - ähnlich wie in Deutschland - bis vor nicht allzu langer Zeit ein Negativattribut. Deserteure und Kriegsdienstverweigerer galten als Drückeberger, Feiglinge ja Vaterlandsverräter. Noch im Präsidentschaftswahlkampf 2004 wurde dem damaligen demokratischen Bewerber John Kerry politisch das Genick gebrochen mit einer aus der Bush-Administration gesteuerten Schmutzkampagne, die Kerry, der im Vietnamkrieg kämpfte und damals mit der höchsten Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet wurde, als Deserteur und Feigling denunzierte. Doch angesichts der aktuellen Kriegsdesaster im Irak und in Afghanistan erfahren die Kriegsdienstverweigerer und Deserteure in den USA inzwischen von immer mehr Menschen Achtung und aktive Solidarität. Als Anfang letzten Jahres bekannt wurde, dass einige hohe Offiziere der US-Streitkräfte bis hin zur Generalsebene ihre Befehlsverweigerung beziehungsweise ihren Rücktritt angekündigt haben für den Fall, dass die Bush-Administration ihnen einen Krieg gegen Iran befiehlt unter Einsatz atomarer Bunkerbrecher-Waffen - da erhob niemand den Vorwurf, diese Offiziere seien Feiglinge, unpatriotisch oder gar Verräter.


Wo bleiben die deutschen Deserteure?

Für Agustín Aguayo ist die wichtigste Stütze seine Frau Helga. Nicht nur, weil sie ihren Mann in den letzten für ihn so schwierigen Jahren mit all den unbequemen, viel Mut erfordernden Entscheidungen vorbehaltlos unterstützt und während seiner langen Abwesenheiten im Irak, in Schweinfurt und im US-Militärgefängnis Mannheim die Familie in Kalifornien aufrecht erhalten hat. Sondern Helga Aguayo engagiert sich zusammen mit anderen Lebenspartnerinnen, Müttern, Ehefrauen, Schwestern und Töchtern amerikanischer Soldaten dafür, dass die aktuellen Kriegsdienstverweigerer und Deserteure alle politische, juristische, finanzielle und seelsorgerische Unterstützung erhalten, die sie benötigen; dass möglichst viele US-Frauen sich der Entsendung ihrer Lebenspartner, Söhne, Ehemänner oder Väter nach Irak widersetzen; und dass die heute noch im Irak stationierten US-Truppen so schnell wie möglich und vollständig wieder nach Hause gebracht werden. Deswegen ist der Friedenspreis, der Agustín Aguayo heute Abend verliehen wird, nach meinem Verständnis auch eine Auszeichnung für seine Frau Helga.

Agustín und Helga Aguayo sind aber nicht nur wahre Helden der Kriege, in denen ihr Heimatland derzeit noch schuldig verstrickt ist. Ich hoffe, sie werden auch Vorbilder für deutsche Soldaten und ihre Lebenpartnerinnen, Mütter, Frauen und Töchter. Denn seien wir ehrlich - bei aller notwendigen scharfen Kritik und verständlichen moralischen Empörung über die aktuelle Kriegspolitik der amerikanischen Regierung seit dem 11. September 2001: Unser Land und auch die anderen europäischen Staaten haben diese Politik fast ohne Einschränkung mitgetragen. Und fragen wir uns einmal selbstkritisch: Wo sind die deutschen Deserteure und die Kriegsdienstverweigerer in der Bundeswehr, seit Deutschland wieder aktiv Krieg führt?

Wie viele Bundeswehrsoldaten, die 1999 am völkerrechtswidrigen Luftkrieg der Nato gegen Serbien/Montenegro beteiligt waren - sei es direkt als Luftwaffenpiloten über dem Kriegsgebiet oder indirekt in Einsatzstäben auf bundesdeutschem Boden oder im Nato-Hauptquartier - sind desertiert, haben den Kriegsdienst verweigert oder auch nur einen einzigen Befehl nicht ausgeführt? Kein Einziger!

Wie viele der deutschen Soldaten, die seit 2001 in Afghanistan einen völkerrechtswidrigen Krieg kämpfen im Rahmen der Operation "Enduring Freedom" oder als Tornadopiloten sowie der Soldaten, die diese Kriegseinsätze in Afghanistan von Bundeswehreinrichtungen auf deutschem Territorium aus befehlen und logistisch unterstützen, sind bislang desertiert, haben den Kriegsdienst verweigert oder auch nur einen einzigen Befehl nicht ausgeführt? Kein einziger!

Wie viele der deutschen Soldaten, die im Frühjahr 2003 an der logistischen Unterstützung des völkerrechtswidrigen Irak-Krieges beteiligt waren, die die Regierung Schröder/Fischer der Bush-Administration damals ohne Einschränkung gewährte, sind desertiert, haben den Kriegsdienst verweigert oder auch nur einen einzigen Befehl nicht ausgeführt?

Ein Einziger! Major Florian Pfaff. Wegen der Schikanen, mit denen die Bundeswehr damals auf Pfaffs Verweigerung völkerrechts- und grundgesetzwidriger Aktivitäten reagierte, erstritt der Major schließlich ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes, das ihn voll rehabilitierte. Das Bundesverwaltungsgericht klassifizierte den Irakkrieg eindeutig als völkerrechtswidrig und als Verstoß gegen die Uno-Charta. Auch die logistischen Unterstützungsleistungen der Bundesrepublik Deutschland stufte das Gericht als völkerrechtswidrig ein. Die seinerzeitige Behauptung der rot-grünen Bundesregierung, eine Verweigerung dieser Unterstützungsleistungen sei wegen des Nato-Truppenstatuts sowie wegen bilateraler Verträge mit den USA rechtlich nicht möglich gewesen, verwarf das Gericht mit der Feststellung, dass die Uno-Charta und das Völkerrecht immer Vorrang haben vor bilateralen oder multilateralen Verträgen. Schließlich räumte das Gericht den einzelnen Soldaten einen großen Spielraum ein für die Entscheidung, einen als völkerrechts- oder grundgesetzwidrig empfundenen Befehl zu verweigern.

Dieses Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Juli 2005 ist eine der wichtigsten höchstrichterlichen Entscheidungen der gesamten deutschen Rechtsgeschichte seit 1949. Es gehörte als Lehrstoff in die erste Ausbildungsstunde eines jeden deutschen Soldaten. Stattdessen wird dieses Urteil von der Bundeswehrführung und dem Militärministerium gegenüber den Soldaten systematisch verschwiegen. Das mag mit ein Grund dafür sein, dass bislang noch kein Soldat der Bundeswehr Gebrauch gemacht hat von dem Spielraum für eine situationsbedingte Verweigerung des Kriegsdienstes oder einzelner Befehle, den das Bundesverwaltungsgericht definiert hat.

Möge das mutige Verhalten von Agustín Aguayo und der Preis, den er dafür heute erhält, dazu beitragen, dass sich das sehr bald ändert; dass der 86-jährige Ludwig Baumann und die Handvoll weiteren wahren Helden des Zweiten Weltkrieges nicht die letzten noch lebenden deutschen Deserteure bleiben; und dass die AnStifterInnen bei der Friedensgala in zwei, drei Jahren vielleicht die ersten neuen Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus den Reihen der Bundeswehr auszeichnen können.


Andreas Zumach ist DFG-VK-Mitglied, seit Jahrzehnten in der Friedensbewegung engagiert und politischer Korrespondent der Tageszeitung "taz" bei der Uno in Genf. Die Laudatio hat er am 21. Dezember 2007 im Stuttgarter Theaterhaus, vor dem seit dem letzten Jahr ein Denkmal für alle Deserteure steht (vgl. Forum Pazifismus 16, S. 26ff.), gehalten, wo die Bürgerrechtsgruppe "Die Anstifter" (www.die-Anstifter.de) im Rahmen einer Friedensgala den Stuttgarter Friedenspreis an Agustín Aguayo verliehen haben.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 17, I/2008, S. 8 - 11
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2008