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STANDPUNKT/103: Geht es auch ohne Militär? (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 30/31/32 - II-IV/2011
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Geht es auch ohne Militär?
Noch ist nicht alles gut in einem Deutschland ohne Wehrpflicht

Von Margot Käßmann


Sehr geehrte Damen und Herren,
gestern Abend haben wir das Ende der Wehrpflicht gefeiert. Manche mögen sagen: stürmisch war das nicht gerade. Schließlich war die Zentralstelle KDV lange in Norddeutschland angesiedelt und war protestantisch geführt. Das hat sich sicher bemerkbar gemacht. Aber der Schein trügt. Das war ein Fest und es war ein Fest wert!

Wir haben uns dabei nicht von der Wehrpflicht als einem "legitimen Kind der Demokratie" verabschiedet, sondern von Wehrpflicht als Rekrutierungsinstrument für Großarmeen. Nichts anderes war die Wehrpflicht in der Vergangenheit und nichts anderes ist sie in den Ländern, in denen es sie noch gibt. Immer wieder haben wir erlebt, dass zentrales Argument gegen ein Ende der Wehrpflicht der "Bürger in Uniform" ist. Aber längst gab es doch gar keine Wehrgerechtigkeit mehr. Zuletzt dienten 60.000 von einem Jahrgang von 440.000 Männern und 90.000 leisteten Zivildienst. Ja manches Mal wurde der Zivildienst, der anfangs als Drückebergermentalität mit Häme bedeckt wurde, am Ende in einer Art Umkehrschluss zur Begründung der Wehrpflicht herangezogen.

Und: Es waren doch Wehrpflichtarmeen, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg von Deutschland aus Europa mit Krieg und Vernichtung erobern wollten. Warum eigentlich sollte eine Freiwilligenarmee nicht demokratisch kontrolliert werden können, wenn das in der Mehrzahl der westlichen Staaten(1) inzwischen längst der Fall ist? Eine Freiwilligenarmee ist doch dem Parlament unterstellt und nicht ein ökonomisches Outsourcing an private Anbieter, die lebenskundlichen Unterricht und ethische Fragestellungen einfach vom Tisch fegen könnten.

Die Zentralstelle KDV hat sich in ihrer täglichen Arbeit mit den ganz banalen Problemen der Wehrpflicht auseinandergesetzt, mit dem Umgang mit der Gewissensprüfung, mit Wehrgerechtigkeit, mit der Gestaltung des Zivildienstes und mit vielem anderem. Aber sie hat dabei die Vision von der Abschaffung der Wehrpflicht nicht aus dem Blick verloren.

Die Aufgaben der Zentralstelle KDV als gemeinsame Einrichtung sind im Wesentlichen beendet - zumindest vorerst. Sollte es politische Veränderungen geben, werden unsere (ehemaligen) Mitgliedsverbände eine neue, dann angemessene Organisationsform finden, um wieder eine gemeinsame und schlagkräftige Einrichtung zu haben, die sich für die Gewissensfreiheit der Kriegsdienstverweigerer einsetzt, davon bin ich überzeugt.


Internationaler Tag der Kriegsdienstverweigerer

Heute ist der Internationale Tag der Kriegsdienstverweigerer. Dieser Tag wurde 1982 auf einer Konferenz in Dänemark geschaffen, um in vielen Ländern gleichzeitig ein gemeinsames Thema aufzugreifen. Und dieses Thema bleibt aktuell.

Zum Beispiel Türkei: Der Kriegsdienstverweigerer Inan Süver wird dort am 6. Juni 2011 bereits zum vierten Mal wegen seiner Kriegsdienstverweigerung vor Gericht stehen. Der Kriegsdienstverweigerer Halil Savda wurde am 4. März 2011 wegen Distanzierung des Volkes vom Militär zu fünf Monaten Haft verurteilt. Mit dieser Verfolgung der Kriegsdienstverweigerer verstößt die Türkei gegen den Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte sowie gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 24. Januar 2006(2). Darin hatte das Gericht festgestellt, dass die Strafverfolgung von Kriegsdienstverweigerern die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt. Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht!

Zum Beispiel Deutschland: Im April lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag des US-Deserteurs André Shepherd ab. Shepherd war 2004 zur US-Armee gegangen und nach seiner Ausbildung sechs Monate als Mechaniker für den Apache-Hubschrauber im Irak eingesetzt. Nachdem er zurück zu seiner Einheit nach Katterbach (Bayern) gekommen war, setzte er sich intensiv damit auseinander, wie das US-Militär im Irak gegen die Zivilbevölkerung vorgeht. "Schließlich wusste ich", so Shepherd, "wenn ich noch einmal in den Irak gehe, werde ich für den Tod und das Elend Anderer verantwortlich sein. Für mich war daher der Weg eindeutig: Ich musste raus aus dem Militär." Shepherd berief sich mit seinem Antrag auf die Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union(3). Mit ihr sollen die geschützt werden, die sich einem völkerrechtswidrigen Krieg oder völkerrechtswidrigen Handlungen entziehen und mit Verfolgung rechnen müssen.

André Shepherd sagte zum Abschluss einer Pressekonferenz vor einem Monat: "Wir werden weitergehen. Auch andere Soldaten sollen die Gewissheit haben, dass eine Entscheidung, sich nicht weiter an völkerrechtswidrigen Kriegen oder Verbrechen zu beteiligen, unterstützt wird. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass sie im Zweifelsfall Schutz erhalten."(4)

Der Internationale Kriegsdienstverweigerer-Tag sorgt dafür, dass solche Vorgänge weltweit bekannt und nicht einfach hingenommen werden. Bei einer Konferenz in Moskau vor wenigen Jahren konnte ich selbst erleben, wie schwer es bis heute für junge Männer in vielen Ländern ist, Kriegsdienst zu verweigern, wie stark immer noch das Label des "Weicheis", des "Verweigerers eines Dienstes am Vaterland" zugesprochen wird. In Russland gibt es inzwischen zwar ein Gesetz zur Wehrdienstverweigerung, doch die jungen Männer müssen fast doppelt so lange Zivildienst leisten wie der Wehrdienst dauert(5) 21 Monate statt 12 Monate Wehrdienst).


Es geht ohne Militär!

Als scheidende Präsidentin der Zentralstelle KDV will ich mich heute einem Thema widmen, dass nie zu den satzungsmäßigen Aufgaben der Zentralstelle KDV gehörte. Dieses Thema brennt aber den Menschen in der Zentralstelle KDV und vielen, die bei der Zentralstelle KDV um Rat und Unterstützung nachgesucht haben, unter den Nägeln: Geht es auch ohne Militär? Ja, natürlich! - Das ist meine und unsere so einfache wie eindeutige Antwort.

Jetzt wird man mir wieder sagen: Das ist eine naive Frau, die von Krieg sowieso nichts versteht. Als ich gesagt habe "Nichts ist gut in Afghanistan", hat der Wehrbeauftragte das so kommentiert: Frau Käßmann sollte sich doch vielleicht mal mit den Taliban in ein Zelt setzten und bei Kerzenlicht beten. Diesen Satz werde ich so schnell nicht vergessen. Zum Glück war ich damals reaktionsschnell und habe geantwortet: "Vielleicht wäre das eine konstruktivere Methode, als in Kundus Tanklaster zu bombardieren, Herr Robbe." Weiter sind wir in unserem Dialog aber nicht gekommen.

Ob das "ohne Militär" von heute auf morgen geht, ist eine andere Frage. Aber für die Vision wie bei der Vision von dem Wegfall der Wehrpflicht - gilt die Antwort uneingeschränkt. Es geht ohne Militär. Allein, uns fehlt die Fantasie für den Frieden.


Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein

"Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein" lautet die zentrale Aussage der ersten Versammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam. Die Anwendung militärischer Gewalt bedeutet Krieg - da mag man noch so viele andere Begriffe erfinden. Militär bedeutet letztlich die Option zur militärischen Gewalt. Bei der Ökumenischen Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung 1990 in Seoul erklärten die Kirchen der Welt: "Wir bekräftigen Gottes Frieden in seiner ganzen Bedeutung. Wir werden alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen und Konflikte durch aktive Gewaltfreiheit zu lösen. Wir werden jedem Verständnis und System von Sicherheit widerstehen, das den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln vorsieht. (...) Wir verpflichten uns, unsere persönlichen Beziehungen gewaltfrei zu gestalten. Wir werden darauf hinarbeiten, auf den Krieg als legales Mittel zur Lösung von Konflikten zu verzichten." Wir treffen uns in der nächsten Woche in Jamaika, um als Kirchen der Welt noch einmal zu sagen: Gewalt muss und kann überwunden werden.(6)

Militärische Gewalt ist etwas anderes als polizeiliche Gewalt. Das ist sehr wohl und sehr genau zu unterscheiden. Eine internationale, der UNO unterstellte Polizei kann Straftäter fassen und sie dem internationalen Strafgerichtshof überstellen. So kann dieser schmale Korridor legitimierbarer Gewalt um des Aufbaus von Frieden und der Verteidigung der Menschenrechte willen im Sinne der Friedensdenkschrift der EKD aus dem Jahr 2007 aussehen. Ein internationaler Strafgerichtshof ist zudem notwendig, damit deutlich wird: Gewalt wird geahndet über nationale Grenzen hinweg von der internationalen Gemeinschaft.


Zivile Friedensfachkräfte

Das Forum Ziviler Friedensdienst - getragen von deutschen Friedens- und Entwicklungsorganisationen und finanziert vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - beschreibt die Problematik so(7): "Staaten leisten sich seit Jahrhunderten Spezialisten für Gewaltlösungen. Sie investieren ungeheure Mengen an Geld, Arbeitskraft, Intelligenz in Gewaltinstrumente, Gewaltstrategien und ihre Rechtfertigung. Auch heute noch wird dies weitgehend für alternativlos gehalten."

Zu Recht heißt es dort weiter: "Solche schweren Fehler können wir uns zukünftig immer weniger leisten. Krieg wird von Menschen gemacht, Frieden auch. Wenn man systematisch das Kriegshandwerk erlernen kann, kann man auch zum Spezialisten für Friedenshandeln werden." Ich hoffe sehr, dass das auch für die deutsche Gesellschaft bald begreifbar wird.

Dass viele - in diesen Fällen religiös motivierte Aktivisten - Spezialisten für Friedenshandeln sein können, hat Markus Weingart in einer Studie(8) über vierzig internationale Konflikte gezeigt, in denen religiös motivierte Akteure zu Friedensbotschaftern werden und in einem Konflikt tatsächlich vermitteln, durch Mediation, durch erlernte Methoden, durch den Aufbau von Vertrauen. Er spricht davon, dass es eine emotionale Konfliktkompetenz gibt, die vielfach unterschätzt wird.

Heinz Wagner, der Geschäftsführer des Forums Ziviler Friedensdienst sagte Anfang dieses Monats in einem Interview(9): "Militär ist dazu da, irgendwann am Ende widerstrebenden politischen Willen im Auftrag deutscher, europäischer, westlicher Interessen zu brechen, auch mit Gewalt. Der Zivile Friedensdienst dagegen versucht, widerstrebenden politischen Willen in gemeinsame Lösungen einzubinden."

Genau das ist der Punkt. Wir müssen uns die Frage stellen: Geht es um die Durchsetzung der eigenen Interessen oder um das Interesse an gemeinsamen Lösungen? Wenn wir die Frage "Geht es auch ohne Militär?" mit Ja beantworten wollen, müssen wir an dieser Stelle umdenken. Unser Interesse muss es sein, gemeinsame Lösungen bei widerstreitenden Interessen anzustreben und zu finden. Experten des Afghanistankonfliktes sagen ganz deutlich, dass es eine langfristige Friedensstrategie dort nicht geben kann ohne die Taliban. Ohne sie einzubeziehen kann es keine Lösung geben. Es ist eine Illusion zu meinen, einfach alle Taliban vernichten zu können, um so eine friedliche und gerechte Gesellschaft zu schaffen.

Immer wieder wird denen, die meinen, gewaltfrei Frieden schaffen zu können, Naivität unterstellt. Nein, das ist nicht Naivität, sondern Kreativität. Und die muss ebenso finanziell unterstützt werden wie militärische Aufrüstung. Gegen die Logik des Krieges und der Waffen gilt es, eine Kultur der Gewaltfreiheit zu entwickeln. Die hat viele Facetten von der Bedeutung der Erziehung bis zum Erlernen von Mediation, vom Fördern der Fantasie bis zum Praktizieren von Versöhnung.

Den Kritikern militärischer Lösungen wird oft vorgeworfen, dass sie nichts vorzuweisen haben, keine Erfolge, keine erfolgversprechenden Handlungsszenarien. Heinz Wagner hat das in seinem Interview auf den Punkt gebracht:

"Wenn man Militär und den Zivilen Friedensdienst miteinander vergleichen will, muss man auch gleiche Maßstäbe anwenden. Was könnten 50 Soldaten ohne moderne Ausrüstung irgendwo erreichen? Nichts und das erwartet auch niemand. Gemessen an den Ressourcen, die wir einsetzen können, brauchen wir uns nicht zu verstecken. Ein Ziviler Friedensdienst in Afghanistan kann zum Beispiel lokale Aktivisten in ziviler Konfliktbearbeitung trainieren. Damit Hand in Hand ginge eine Stärkung demokratischer Grundhaltungen. Und er könnte vorhandene lokale, traditionelle Konfliktregelungsmechanismen stärken."

Genauso nachdrücklich wie bei der Einsicht in die Rechtfertigung des Einsatzes von Soldaten unter UN-Mandat bleibe ich bei der Forderung, gleichzeitig deutlich mehr Geld und Personal in die Entwicklungshilfe und den zivilen Aufbau des Landes zu geben, um Bildung, Entwicklung und den Aufbau eines funktionierenden Staatswesens zu fördern. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat einen Vorrang für Zivil gefordert und sieht militärische Gewalt nur dann in engen Grenzen für vertretbar, wenn sie klar dem zivilen Aufbau dient. Also nicht nur 30.000 weitere Soldaten, sondern mindestens auch 30.000 weitere Entwicklungshelfer, Lehrkräfte oder Verwalter. Wir haben die Sorge, dass dieser Vorrang für Zivil aus dem Blick gerät.

"Zivile Konfliktbearbeitung ist ein konstruktives Vorgehen, in dem gleichermaßen Akteure der Staaten- wie der Gesellschaftswelt mit ihren unterschiedlichen Methoden und Instrumenten in eigener, ziviler Art mitwirken. Es bezeichnet den Ansatz, Konflikte vorbeugend, deeskalierend und nachsorgend ohne militärische Gewalt und ihre Androhung so zu bearbeiten, dass sich die Konfliktparteien in ihrem kooperativen Verhalten gestärkt fühlen und Versöhnung zwischen ihnen möglich wird. Zivile Konfliktbearbeitung folgt dementsprechend einer völlig anderen Logik als die militärische Konfliktaustragung. Sie öffnet Perspektiven auf eine grundsätzlich andere, humane und nicht militär-gestützte Sicherheits- und Außenpolitik." Schon 1998 wurde das vom Forum Ziviler Friedensdienst so formuliert.(10)


Grundgesetz: Dem Frieden in der Welt zu dienen.

Sehen wir uns unser Grundgesetz an, können wir gar nicht anders, als diesen Gedanken zu folgen. Unsere Verfassung greift in der Präambel die Friedensverpflichtung nach den Erfahrungen der Nazi-Zeit in Deutschland auf. Ulrich Finckh hat das im Vorwort für sein gerade erschienen Buches, das den Untertitel hat "Beiträge zu Rechtsstaat und Friedensethik", sehr eindrücklich beschrieben:

"Zu den entscheidenden Prinzipien des Grundgesetzes, der ersten Verfassung, die nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen von 1948 verfasst wurde, zählen unbestritten die Achtung der Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaat, Grundrechte, Bundesstaat und Sozialstaat. Weniger beachtet wird oft ein weiteres Prinzip, das schon die Präambel nennt: Die Verpflichtung zum Frieden. Deutschland ist danach "in der Verantwortung vor Gott ... von dem Willen beseelt, ... dem Frieden der Welt zu dienen" (Präambel). Es sieht die Menschenwürde als Grundlage des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (Art. 1, 2 GG). Es ordnet sich internationaler Schiedsgerichtsbarkeit unter (Art. 24, 3 GG). Es ist bereit, auf nationale Hoheitsrechte zu Gunsten von Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit zu verzichten (Art. 24, 2 GG). Es erkennt die allgemeinen Regeln des Völkerrechts an (Art. 25 GG). Es verbietet Handlungen, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Vorbereitung eines Angriffskrieges (Art. 26, 1 GG). Es garantiert die Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) und damit auch ausdrücklich das Recht der Kriegsdienstverweigerung (Art. 4, 3 GG). Ebenso wird das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG) garantiert, was im Krieg nicht möglich ist."(11)

Möglicherweise ist unsere Grundordnung ein wesentlicher Grund dafür, dass es in Deutschland seit dem Ende des 2. Weltkrieges keinen Krieg mehr gegeben hat (auch wenn Deutschland woanders inzwischen wieder aktiv an Kriegen beteiligt ist). Ganz sicher ist aber auch ein Grund darin zu sehen, dass die Fürstentümer in Deutschland kein eigenes Militär mehr haben, die Stedinger und Bremer eben keinen Krieg mehr gegeneinander führen können, die Schlagbäume zwischen Friesland und Ostfriesland längst abgebaut wurden, die Armeen in Baden auf der einen Seite und Württemberg auf der anderen Seite längst aufgelöst sind. Warum soll das, was zwischen Bayern und Hessen gilt, nicht auch zwischen Ägypten und Italien gelten können?


Rüstungsexporte

Wir beklagen die Kriege dieser Welt, aber wir verdienen auch an ihnen! Allein im Jahr 2005 gab es einen rasanten Anstieg der Rüstungsexporte. Kriegswaffen im Wert von 1,6 Milliarden Euro sind aus Deutschland ausgeführt worden, das war ein Anstieg von 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr! Auch das Volumen der Ausfuhrgenehmigungen wurde von 3,8 Milliarden 2004 auf 4,2 Milliarden Euro 2005 gesteigert(12). Wir sind besonders beunruhigt, dass Rüstungsgüter mit einem Volumen von 1,65 Milliarden Euro in Länder geliefert werden, für die wir Entwicklungshilfe leisten. Was bedeutet das? Gerade die Lieferung von kleinen und leichten Waffen in diese Länder hat ja die Fortdauer gewaltsamer Konflikte zur Folge. Ja, wir brauchen endlich verbindliche Standards für Rüstungsexporte - auch das wäre Fantasie für den Frieden und könnte das Ende militärischer Auseinandersetzungen beschleunigen!

Wir stellen in allen Kriegen dieser Welt fest, dass die Waffenindustrie mitverdient. Jürgen Grässlin, Sprecher der Kritischen AktionärInnen DaimlerChrysler, hat das gerade in einer Pressemitteilung zu dem Krieg in Libyen beschrieben: "Mercedes-Militärfahrzeuge, wahrscheinlich vom Typ ACTROS 4860, transportierten Panzer der libyschen Streitkräfte ins Kriegsgebiet für ihren Vormarsch nach Bengazi. Sie ermöglichen so den Feldzug der libyschen Regierung ... Gleichzeitig sind bei den Angriffen, die die britische Luftwaffe zurzeit gegen die Flugbasen und die Stellungen der libyschen Armee fliegen, Eurofighter- und Tornado-Kampfflugzeuge mit deutschen Bestandteilen im Einsatz. Die EADS in Varel fertigt das Eurofighter-Rumpfmittelteil, die Montage erfolgt bei EADS-Cassidian in Manching."(13)

So verdient ein und dieselbe Aktiengesellschaft, indem sie mit von ihr gebauten Waffen der einen Kriegspartei die von ihr gebauten Waffen der anderen Kriegspartei vernichtet. Was zerstört ist, muss nachgeliefert werden. Das Geschäft blüht also weiter.

Bei den eingesetzten Streubomben gab es eine große Empörung in Deutschland. Und dann stellt man fest, dass diese Streubomben aus dem Bereich der europäischen Union geliefert wurden. Machen wir uns also auf den Weg.

Übrigens: Ich erinnere mich recht gut, dass es Skepsis gab, als ich damals als Bischöfin Präsidentin der Zentralstelle KDV wurde. Eine Frau der Kirche? Haben Kirchen nicht allzu oft Krieg legitimiert. O ja, das haben sie. Und auch Wehrpflicht wurde von Kirchen befürwortet, der "Bürger in Uniform" schien als Legitimation der Bundeswehr mitten im demokratischen Deutschland ausreichend. Seelsorge in der Bundeswehr war und ist ein heftig debattiertes Thema. Aber die Grundlinie - Selig sind, die Frieden stiften - ist immer wieder erkennbar. Sie hat - auch wenn es in der Geschichte manche Verirrungen gab und gibt den roten Faden der Gewaltfreiheit erkennbar gemacht.

Insofern habe ich mich auch in meinen Jahren als Bischöfin nicht fremd gefühlt in der Rolle als Präsidentin der Zentralstelle KDV. Dass Kriegsdienstverweigerung das deutlichere Zeichen ist, haben vor allem Christen in der DDR immer wieder betont. Viele verweigerten aus Gewissensgründen und wurden Bausoldaten oder Wehrdiensttotalverweigerer - ein schwerer Weg! Und ich erinnere an Christen etwa in Russland, die den Wehrdienst verweigern und selten von ihrer Kirche unterstützt werden. So sehr ich respektiere, dass es Christen in der Bundeswehr gibt und der Christenmensch, wie es die Confessio Augustana sagt, seligen Standes sein kann, so sehr bin ich doch überzeugt, dass es das klarere Zeichen ist, den Dienst an der Waffe in einer Armee zu verweigern. Ich habe Hochachtung vor den historischen Friedenskirchen, die dafür immer konsequent eingetreten sind, und halte es mit Martin Luther King, der am 4. Juni 1957 sagte: "Das ist nicht Passivität, das ist nicht aggressiv auf die aktive Art, aber es ist aggressiv auf die spirituelle Art, gewaltfrei für Gerechtigkeit einzutreten."

Es geht ohne Militär. Davon bin ich fest überzeugt. Es geht ohne Militär, wenn wir nur wollen, dass es ohne Militär geht. Auf dieses Wollen kommt es an. Das Instrumentarium für diese Vision der Konfliktregulierung mit zivilen Mitteln und Strukturen haben wir bereits in der Hand. Wir müssen diesem Instrumentarium nur das nötige Gewicht geben und es anwenden. Machen wir uns also auf den Weg.


Prof. Dr. Margot Käßmann ist Präsidentin der Zentralstelle KDV (und seit diesem Herbst Schirmherrin der Aktion Aufschrei: Stoppt den Waffenhandel; www.aufschrei-waffenhandel.de). Dieser Text wurde von ihr als Impulsreferat bei der Abschlussveranstaltung der Zentralstelle KDV am 15. Mai 2011 in Berlin gehalten.


Anmerkungen

(1) Wehrpflicht in der Europäischen Union haben noch Estland, Finnland, Griechenland und Österreich.

(2) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Entscheidung Ülke vs. Turkey, application no. 39437/98.

(3) Richtlinie 2004/83/EG über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtling oder als Personen, die anderwertig internationalen Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Ratsdokument 8043/04 vom 30.9.2004)

(4) Zitiert nach "US-Deserteur Shepherd erhebt Klage gegen Ablehnung seines Asylantrages" in Connection e.V. und AG "KDV im Krieg" (Hrsg.): Rundbrief "KDV im Krieg", Ausgabe April 2011

(5) 21 Monate statt 12 Monate Wehrdienst

(6) Die Internationale Ökumenische Friedenskonvokation (IÄFK) vom 18. - 24.5.2011 in Kingston/Jamaika

(7) Siehe: www.zenithonline.de/deutsch/politik//artikel/kein-politisches-feigenblatt-mehr-sein-001783/

(8) Markus Weingart, Religion Macht Frieden, Kohlhammer-Verlag 2007

(9) Siehe: www.zenithonline.de/deutsch/politik//artikel/kein-politisches-feigenblatt-mehr-sein-001783/

(10) Aus "Ziviler Friedensdienst und Militär", forumZFD-internes Arbeitspapier für die dortige Mitgliederversammlung im Dezember 1998.

(11) Ulrich Finckh, Vom heiligen Krieg zur Feindesliebe Jesu, Radius-Verlag 2011, Seite 7.

(12) Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahre 2005 (Rüstungsexportbericht 2005), siehe unter: www.bicc.de/ruestungsexport/pdf/misc/ruestungstxportbericht2005.pdf

(13) Aus: Jürgen Grässlin, "Krieg ist gut fürs Geschäft.", siehe unter
www.juergengraesslin.com/Zeitungsber_Krieg_gut_fuers_Geschaeft_2011-04.htm


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 30/31/32 - II-IV/2011, S. 74 - 78
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Februar 2012