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FREE GAZA/121: "Die Menschen in Gaza kochen vor Wut" (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 1. Juni 2010

»Die Menschen in Gaza kochen vor Wut«

Nach der Nachricht vom Überfall: Unruhen auf den Straßen,
Großdemonstration, Staatstrauer. Ein Gespräch mit Usama Antar

Interview von Martin Lejeune


Dr. Usama Antar arbeitet als Politologe in Gaza-Stadt


Wie reagieren die Palästinenser darauf, daß Israel auf hoher See auf Schiffen, die Hilfsgüter bringen wollten, ein Massaker angerichtet hat?

In Gaza herrscht Wut, die Menschen sind aufgebracht. Montag nachmittag hat es schon die ersten Unruhen auf den Straßen gegeben, überall fanden spontane Demonstrationen statt. Am Hafen, wo der Hilfskonvoi erwartet worden war, hatte sich aus Protest gegen den Piratenakt eine große Menschenmenge versammelt. Am frühen Nachmittag gab es in Gaza-Stadt eine Kundgebung, zu der die Parteien Hamas und Islamischer Dschihad, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen aufgerufen hatten. Daran nahmen auch viele Palästinenser teil, die keiner dieser Gruppierungen angehören. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hat drei Tage Staatstrauer angeordnet.

Dieser Überfall des israelischen Militärs wird nicht in Vergessenheit geraten. Es sind dabei dieses Mal keine Palästinser ums Leben gekommen, sondern Ausländer - wer in aller Welt soll jetzt noch glauben, diese Kommandoaktion sei ein Akt der Selbstverteidigung Israels gewesen?

Die Menschen in Gaza haben dieses Hilfsprojekt schon seit zwei Monaten mit großem Interesse verfolgt - jetzt aber wird überall darüber berichtet. Uns interessiert sehr, mit welchen Augen die Welt nach diesem Zwischenfall auf die Lage in Gaza schaut. Die internationale Politik hat nämlich total darin versagt, die Probleme zu lösen. Seit vier Jahren zerstört Israel mit seiner Blockade das Leben der Menschen hier - wovon letztlich die Hamas-Bewegung profitiert.


Könnte das Massaker auf hoher See Auslöser für eine neue Intifada sein?

In Gaza sicherlich nicht - wohl aber vielleicht in Israel selbst: Raed Salah, der Führer der israelischen Moslems, wurde bei dem Überfall lebensgefährlich verletzt. Er ist ein wichtiges Symbol für den Widerstand der Araber in den von Israel schon seit 1948 besetzten Gebieten. Salah ist darüber hinaus wichtig für alle Palästinenser - ob sie nun im Westjordanland, in Gaza oder in Israel leben. Er kämpft unter anderem für den Zugang zur Al-Aqsa-Moschee und für die Rechte der Palästinenser in Ostjerusalem. Wenn er für tot erklärt würde, gälte er als Märtyrer - was einen Volksaufstand nach sich ziehen könnte. Zumindest dürfte es erhebliche Unruhen geben.



Wie ist die materielle Situation in Gaza?

Hunger leiden wir zwar nicht - es gibt Mehl und Reis vom UN-Flüchtlingshilfswerk. Es ist aber erniedrigend, wenn man nur von internationalen Organisationen ernährt wird. Die Menschen in Gaza können keine Häuser mehr bauen, Israel läßt nämlich keinen Zement herein. Aber das Schlimmste ist nicht allein die Perspektivlosigkeit. Israel schränkt die Bewegungsfreiheit der Menschen völlig ein, der Gazastreifen ist isoliert vom Rest der Welt.


Wie dringend werden die Hilfsgüter auf den von Israel geenterten Frachtern benötigt?

Wir brauchen sie sehr, sehr dringend. Es sind ja vor allem medizinisches und Baumaterial, Medikamente und Rollstühle für Behinderte - alles Güter, die die Israelis nur selten nach Gaza durchlassen. Wie gesagt, die nötigsten Lebensmittel kommen durch, alles andere nur im äußersten Ausnahmefall. Gerade Rollstühle sind besonders nötig - seit der Bombardierung Gazas im Sommer 2006 und seit dem Krieg, den Israel 2008/2009 anzettelte, hat die Zahl der Verkrüppelten stark zugenommen. Luftangriffe auf Gaza finden übrigens auch heute noch jede Nacht statt.


Wie soll es weitergehen?

Der Piratenakt wird enorme Konsequenzen haben: Die Beziehungen Israels zur Türkei sind jetzt schon schwer erschüttert, auch die indirekten Gespräche zwischen Palästinensern und Israel werden leiden - ein Friedensprozeß wird immer unwahrscheinlicher. Jetzt ist die internationale Gemeinschaft gefragt, die Welt darf ihre Augen nicht mehr vor Israels Vorgehen verschließen und die Blockade muß beseitigt werden.

Die Menschen in Gaza kochen vor Wut, sie wollen wieder unbehelligt reisen können, ihre Verwandten in der Westbank besuchen, sie müssen ihre zerschossenen Häuser wieder aufbauen.


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Quelle:
junge Welt vom 01.06.2010
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2010