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APPELL/015: "Aus Sorge um den Frieden" in der Ukraine und in Europa (Friedensratschlag)


Bundesausschusses Friedensratschlag - Presseerklärung vom 20. Mai 2014

"Aus Sorge um den Frieden" in der Ukraine und in Europa

100 Autoren, Musiker, Bildende Künstler, Wissenschaftler, Juristen, Ärzte, Theologen, Gewerkschafter und Friedensaktivisten wenden sich mit einem dringenden Appell an Politik und Öffentlichkeit



Berlin/Kassel, 20. Mai 2014 - Aus Sorge um den Frieden in der und um die Ukraine haben sich zahlreiche Bürger mit einer Erklärung an Bundesregierung, Parlament und Öffentlichkeit gewandt. "Lassen Sie nicht zu, dass der Kampf um die Ukraine zu einem Stellvertreterkrieg zwischen 'dem Westen' und Russland eskaliert!", heißt es darin.

Hundert Jahre nach Beginn des 1. Weltkriegs befinde sich die Welt in einer höchst gefährlichen Lage. Dem unverantwortlichen Kampf um geostrategische Positionen und Einflusssphären müsse Einhalt geboten werden. Wirtschaftssanktionen und andere "Strafmaßnahmen" gegen Russland seien aber ein "untaugliches Mittel zur Deeskalation".

Das Vorgehen in der Ukraine-Krise widerspreche zutiefst der 1997 von NATO und Russland unterzeichneten Pariser "Grundakte über Gegenseitige Zusammenarbeit und Sicherheit". Darin hatten sich beide Seiten verpflichtet, "die Spuren der früheren Konfrontation und Konkurrenz zu beseitigen", "ungelöste Gebietsstreitigkeiten, die eine Bedrohung für unser aller Frieden, Wohlstand und Stabilität darstellen" sowie andere "Meinungsverschiedenheiten" auf der Grundlage des "gegenseitigen Respekts im Rahmen politischer Konsultationen" beizulegen. Zahlreiche Maßnahmen der NATO - vom Krieg gegen Serbien 1998 bis zur hemmungslosen Osterweiterung - hätten diesen Respekt vermissen lassen. Der Westen und Russland müssten vielmehr neu darüber nachdenken, wie das Spannungsverhältnis von territorialer Unverletzlichkeit und Selbstbestimmung friedlich zu lösen sei.

Die Bundesregierung müsse einen Beitrag zur Deeskalation leisten, indem ihre Politik - auch angesichts der historisch belasteten Beziehungen zu Russland - die Sicherheitsinteressen aller Staaten des "gemeinsamen Hauses Europa" berücksichtigt. Konkret heiße das, die Vereinbarungen der Pariser Grundakte einzuhalten und "rhetorisch abzurüsten", die "Strafmaßnahmen" zu beenden und auf die Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz zu drängen.

Zu den Erstunterzeichner/innen gehören die Schriftsteller Ingo Schulze und Irina Liebmann, der Liedermacher Konstantin Wecker, die Schauspieler Jutta Wachowiak und Rolf Becker, die Rechtswissenschaftler Andreas Fisahn und Norman Paech, der Bundesrichter a.D. Wolfgang Neskovic, die Friedens- und Sozialwissenschaftler Andreas Buro, Christoph Butterwegge und Werner Ruf, sowie die Theologen Friedrich Schorlemmer und Hans Christoph Stoodt.

Die Initiatoren der Erklärung "Aus Sorge um den Frieden" weisen außerdem auf die Möglichkeit hin, die Erklärung online unterzeichnen zu können, und zwar unter der dafür eingerichteten Adresse:
http://www.kontext-tv.de/Ukraine/Aufruf/Aus_Sorge_um_den_Frieden

Daniela Dahn, Schriftstellerin, Berlin
Peter Strutynski, Bundesausschuss Friedensratschlag Kassel

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Aus Sorge um den Frieden

Aus Sorge um den Frieden und mit Blick auf die anhaltend kritische Lage in der und um die Ukraine wenden wir uns an Bundesregierung, Parlament und Öffentlichkeit mit der dringenden Bitte: Lassen Sie nicht zu, dass der Kampf um die Ukraine zu einem Stellvertreterkrieg zwischen "dem Westen" und Russland eskaliert!

Hundert Jahre nach Beginn des 1. Weltkrieges befindet sich die Welt in einer selbstverschuldeten gefährlichen Lage, in der sogar mit der Möglichkeit eines erneuten globalen Krieges gespielt wird. Es ist höchste Zeit, dass alle Menschen, die guten Willens und am Frieden interessiert sind, dem verantwortungslosen Kampf um Einflusssphären, Gaspipelines und geostrategische Positionen Einhalt gebieten. Wirtschaftssanktionen und andere "Strafmaßnahmen" der USA, der EU und Deutschlands gegenüber Russland sind ein untaugliches Mittel zur Deeskalation, zumal der Westen selbst nicht in der Lage oder Willens ist, seine Verbündeten in der Kiewer "Übergangsregierung" zur Einhaltung der ausgehandelten Verträge, zuletzt der Genfer Vereinbarung, zu bewegen. Sanktionen versperren den Weg zu Gesprächen und Kompromissen und wirken somit krisenverschärfend.

In der Pariser Grundakte über Gegenseitige Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen NATO und Russland vom Mai 1997 haben sich beide Seiten verpflichtet, "gemeinsam im euro-atlantischen Raum einen dauerhaften und umfassenden Frieden" zu schaffen. "Die NATO und Russland betrachten einander nicht als Gegner. Sie verfolgen gemeinsam das Ziel, die Spuren der früheren Konfrontation und Konkurrenz zu beseitigen", heißt es dort. Beide Seiten strebten "ein Europa ohne Trennlinien oder Einflusssphären" an, die die Souveränität irgendeines Staates einschränken. "Ungelöste Gebietsstreitigkeiten, die eine Bedrohung für unser aller Frieden, Wohlstand und Stabilität darstellen", sowie andere "Meinungsverschiedenheiten" sollten auf der Grundlage des "gegenseitigen Respekts im Rahmen politischer Konsultationen" beigelegt werden.

Zwei Jahre später öffnete die Nato mit ihrem ohne UN-Mandat und gegen den russischen Willen geführten Krieg gegen Serbien die Büchse der Pandora. Auch die vom Westen geführten Kriege in Afghanistan, Irak und Libyen haben - bei katastrophalen Opfern unter der einheimischen Zivilbevölkerung - ihre selbstgesteckten Ziele gründlich verfehlt. Kriege lösen keine Probleme - ein weiterer Beweis dafür ist mehr als entbehrlich.

Die hemmungslose Osterweiterung der NATO, die seit Jahren über ihre Grenzen hinausgreift und zur Ukraine enge Beziehungen aufbaut, ist nicht von dem Russland zugesagten Respekt getragen. In der Pariser "Grundakte" wurde noch lobend hervorgehoben, dass Russland "tiefe Einschnitte in seine Streitkräfte vorgenommen" und "in beispielloser Weise Truppen aus den Ländern Mittel- und Osteuropas sowie den baltischen Staaten abgezogen" habe. Aber das tat Russland doch nicht, damit die NATO nun ihrerseits sich in diesen Ländern festsetzt und ihre Grenzen bis unmittelbar an die Russische Föderation ausdehnt!

Wie der Website von Jazenjuks Stiftung "Open Ukraine" zu entnehmen ist, haben das US-Außenministerium und die Nato seit Jahren Aktivitäten finanziert, die der ökonomischen und militärischen Annäherung an den Westen dienten. Vor diesem Hintergrund sind die Vorgänge um die Krim mit Vorwürfen wie den Begriffen "Annexion" oder "Invasion" an die Adresse Moskaus nicht hinreichend beschrieben. Statt die Ukraine in unlösbare Alternativen zwischen Eurasischer Union und Europäischer Union zu treiben und sich mit gegenseitigen Schuldzuweisungen zu überbieten, sollten beide Seiten und alle um den Frieden Besorgten neu darüber nachdenken, wie in der heutigen Staatenwelt vermehrt auftretende Spannungsverhältnisse zwischen der territorialen Unverletzlichkeit von Staaten und dem Selbstbestimmungsrecht von Bevölkerungen und Minderheiten friedlich zu lösen sind.

Hören wir auf, ständig an der Ukraine herumzuzerren! Niemand ist berechtigt, sein Gesellschaftsmodell anderen Staaten zu oktroyieren. Es kann nicht hingenommen werden, dass sich eine Politik zugunsten von reichen Minderheiten auf Kosten einer dramatischen sozialen Spaltung der Weltbevölkerung ausweitet. Es wäre ein Verbrechen, dafür den Weltfrieden zu gefährden. Wehren wir uns, bevor es erneut zu spät ist!

Von der Bundesregierung verlangen wir, dass sie eine Politik zum Abbau der aufgebauten Spannungen und zur Deeskalation der militärischen Konfrontation betreibt. Wir setzen auf gemeinsame Sicherheit: In den internationalen Beziehungen, insbesondere in den historisch so belasteten Beziehungen zwischen dem Westen und Russland, müssen die berechtigten Sicherheitsinteressen aller Staaten des "gemeinsamen Hauses Europa" Berücksichtigung finden.

Wir fordern von Politik und Medien, die Nato-Staaten und Russland daran zu messen, wie sie die von beiden Seiten unterzeichnete Pariser Grundakte einhalten. Die Verantwortung der Medien liegt in sachgerechter Berichterstattung und rhetorischer Abrüstung. Der Rückfall in alte Feindbilder schürt den überwunden geglaubten Kalten Krieg.

Wir fordern den Stopp von ökonomischen "Strafmaßnahmen", die letztlich auf Kosten der Lebensbedingungen der Völker gehen und nicht nur in der Ukraine Rechtsextremen in die Hände arbeiten.

Wir fordern alle diplomatischen Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Konflikte in der Ukraine zu lösen. Die baldige Einberufung einer europäischen Sicherheitskonferenz unter Einbeziehung der Konfliktparteien könnte deeskalierend wirken und Vertrauen schaffen.

Gemeinsame Sicherheit statt Konfrontation

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Quelle:
Presseerklärung vom 20. Mai 2014
AG Friedensforschung und Bundesausschuss Friedensratschlag
Germaniastr. 14, 34119 Kassel
Telefon: (0561) 93717974
E-Mail: Bundesausschuss.Friedensratschlag@gmx.net
Internet: www.ag-friedensforschung.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2014