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AUFRUF/070: Lasst uns Frieden stiften - Das Glück des Friedens neu begreifen (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Das Glück des Friedens neu begreifen

von Reto Thumiger, Juni 2021


Anlässlich des 80. Jahrestages des Überfalls Nazideutschlands auf Russland und die Völker der Sowjetunion erschien am 22. Juni 2021 in der russischen Tageszeitung Kommersant und in der Berliner Zeitung der Aufruf "Lasst uns Frieden stiften".

Ohne jede Beteiligung der Bundesregierung sowie des Bundestags wurde am diesjährigen Jahrestag international des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion vor 80 Jahren gedacht. Mit diesem Überfall begann die zentrale Phase des deutschen Vernichtungskriegs, der mehr als 27 Millionen Bürger der Sowjetunion das Leben kostete, weite Teile des Landes verwüstete und die jüdische Bevölkerung den deutschen Vernichtungsverbrechen auslieferte.


Reiner Braun während der Pressekonfrenz am Tisch sitzend - Foto: © Reto Thumiger

Reiner Braun
Foto: Reto Thumiger

Reiner Braun, Geschäftsführer des International Peace Bureau, bezeichnete auf der Pressekonferenz am 21. Juni den Verzicht auf eine Veranstaltung im Bundestag als unverzeihlich, unverantwortlich gegenüber den Opfern und gegenüber einer Entspannungspolitik. Als Gegengewicht wurde eine Initiative ins Leben gerufen und bewusst für die Veröffentlichung des Aufrufs am 22. Juni eine russische Zeitung gewählt, um deutlich zu machen: "Es gibt auch ein anderes Deutschland, das für friedliche Beziehungen mit Russland steht".

Der Aufruf wurde sehr kurzfristig gestartet und die Initiator:innen waren über die enorme Resonanz in der Kürze der Zeit positiv überrascht. In nur 3 Wochen ist der Aufruf von ca. 1.300 Bürger:innen Deutschlands unterstützt worden, die sich für eine Entspannungspolitik einsetzen. Die Unterstützung kommt von Konservativ bis Links, von Gewerkschaften bis Kirchen, ist somit ein Ausdruck der gesellschaftlichen Vielfalt und Breite und verdeutlicht, dass in der Gesellschaft immer noch eine Mehrheit für die Entspannungspolitik mit Russland steht, und zwar trotz der einseitigen Medienberichtserstattung.


Prof. Dr. Peter Brandt während der Pressekonfrenz am Tisch sitzend - Foto: © Reto Thumiger

Prof. Dr. Peter Brandt
Foto: Reto Thumiger

Prof. Dr. Peter Brandt, Historiker und Sohn des Bundeskanzlers Willy Brandt, führte an, dass man, wenn man sich für gute Beziehungen mit Russland einsetzt, sehr schnell unter dem Verdacht steht, ein Naivling zu sein. Wenn man sich in die Position des Gegenübers versetzt, heißt das ja nicht, dass man dessen Perspektive übernimmt oder befürwortet, sondern sie zu verstehen versucht. Unterdessen existiere ein breiter Konsens, dass im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts wichtige Chancen für einen wirklichen Neuansatz verpasst wurden. "Aber es ist ja nicht zu spät", mahnte Peter Brandt.

Dr. Antja Vollmer, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages a.D., beschäftigte die Frage, warum denn diese Chancen nicht ergriffen wurden. Die positiven Ereignisse 1989/90 seien dem Zusammenwirken von Entspannungspolitik und der Basisbewegung der Menschen- und Bürgerrechtler:innen zu verdanken. Dieses Bündnis gebe es heute nicht mehr und gerade in den Medien wird die Entspannungspolitik als etwas aus vergangenen Zeiten dargestellt. Menschenrechts-Engagement, Antje Vollmer nennt es auch "Menschenrechts-Bellizismus", wird als Rechtfertigung für Sanktionen oder eine eher aggressive Haltung, insbesondere gegenüber Russland oder dem neuen großen Systemrivalen China, benutzt. Hier würden neue Fronten entstehen, die dringend eine neue Friedensbewegung erfordern.


Dr. Antje Vollmer während der Pressekonfrenz am Tisch sitzend - Foto: © Reto Thumiger

Dr. Antje Vollmer
Foto: Reto Thumiger

Für die ehemalige Vizepräsidentin des Bundestages stellt die gleichzeitige Veröffentlichung in der Berliner Zeitung und in einer großen russischen Tageszeitung einen Brückenschlag dar. Sie verglich es mit einer Art Friedensvertrag unter Bürger:innen - als Signal an die russische Bevölkerung.

Martin Hoffmann ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied beim Deutsch-Russischen Forum e.V., der sich vor allem für die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit einsetzt und den Dialog zwischen den Bürger:innen vorantreibt. Er kommentierte: "Die russische Version des Aufrufs trägt die Überschrift 'Wir möchten das Glück des Friedens neu begreifen' und wir wollen diesem Thema im Bürger:innen-Dialog dauerhaft einen zentralen Platz geben. Wir wollen die Frage ausleuchten, wie die Bürger:innen in Ost und West, in Deutschland und Russland diesen Frieden voranbringen können, nicht konfrontativ sondern versöhnt."


Martin Hoffman während der Pressekonferenz am Tisch sitzend - Foto: © Reto Thumiger

Martin Hoffmann
Foto: Reto Thumiger

Reiner Braun schlug als realistische Forderung vor, mit einer Entspannungspolitik im Kleinen anzufangen und dann zu versuchen, zu größeren Ergebnissen zu gelangen. Grundlage sei es die Bereitschaft, mit dem Gegenüber zu reden und auszuloten, wo es Gemeinsamkeiten gibt.

An die Bundesregierung gerichtet stellte er die Fragen, wann es denn endlich wieder freien Verkehr zumindest für die Jugendlichen gebe und wann mit größerer Unterstützung für Städtepartnerschaften und Dialoge der Zivilgesellschaft zu rechnen sei.

"Aus friedenspolitischer Sicht steht die Frage im Raum, wann endlich diese unsäglichen Manöver an der russischen Grenze mit Tausenden von amerikanischen Truppen aufhören werden."

Rund um den Jahrestag haben bis zu 100 Veranstaltungen zum Gedenken an den Überfall auf die Sowjetunion stattgefunden. Die Friedensbewegung sei im Rahmen der Möglichkeiten während der Pandemie aktiv und auf der Straße, um dieses Datum in Erinnerung zu behalten. Für die Friedensbewegung ist der Kernpunkt die Überwindung der Abschreckungspolitik durch Abrüstung. Das habe sehr viel mit Atomwaffen zu tun, aber natürlich auch mit dem wahnwitzigen Aufrüstungsprogramm, das in Europa und Deutschland vorangetrieben wird.

"Diese Themen gehören alle zum Versuch, Entspannungspolitik auf die Straße zu bringen und, wie Frau Vollmer sagte, wir brauchen wieder eine starke Friedensbewegung", schloss Reiner Braun.

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Der deutsche Text des Aufrufs:

22. JUNI 2021 - LASST UNS FRIEDEN STIFTEN

Am 22. Juni 2021 jährt sich zum 80. Mal der Überfall Nazideutschlands auf Russland und die Völker der Sowjetunion. Für uns, die Unterzeichner:innen, ist dieser Tag ein Tag der Trauer, der Scham und des Nachdenkens über eigene historische Schuld. Von deutschem Boden ging ein beispielloser Vernichtungskrieg aus, geboren aus politischer Hybris und Rassismus gegen die Völker der Sowjetunion, besonders gegen die Juden und andere Minderheiten. Er brachte unendliches Leid über die Menschen und forderte allein in der Sowjetunion mehr als 27 Millionen Opfer, vor allem in Russland, der Ukraine und Belarus.

Es ist Teil der Verantwortung unserer Generation, dass niemand diese Gräueltaten je vergessen oder relativieren darf. Denn zur Geschichte Europas gehört auch, dass die Sowjetunion unter großen Opfern den Faschismus besiegt und Deutschland von dieser Ideologie befreit hat. Zur Geschichte des deutsch-russischen Verhältnisses gehört ebenso, dass die Sowjetunion und ihr Rechtsnachfolger Russland maßgeblich die Wiedervereinigung Deutschlands und ein Ende des Kalten Krieges ermöglicht haben.

Wir wissen: Frieden in Europa gelingt nur gemeinsam mit Russland und nicht gegen Russland.

Deshalb rufen wir die Politiker:innen Europas in Ost und West auf: Bewegt Euch! Verlasst endlich die Sphäre und die Logik des Kalten Krieges! Nicht die Panzertruppen oder Rüstungszahlen müssen wachsen, sondern die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Macht es, wie es die Menschen in Russland, Deutschland und Europa bei ihrer konkreten Arbeit in Städtepartnerschaften, im Jugendaustausch, in Wirtschafts- und Wissenschaftskooperationen tun. Verlasst die mentalen Gefängnisse der Feindbilder, Ressentiments und Ängste! Lasst uns endlich Frieden stiften! Die Menschen in Europa warten schon lange darauf.

Dies ist die Lehre des 22. Juni. Und dafür stehen wir.

Die Liste der Erstunterzeichner ist zu finden unter:
https://www.pressenza.com/de/2021/06/das-glueck-des-friedens-neu-begreifen/


Über den Autor:
Reto Thumiger - Seit über 25 Jahren ist der gebürtige Schweizer und gelernte Kaufmann Aktivist des Neuen-Humanismus. Seine Anliegen, wie kulturelle Vielfalt, gleiche Rechte und Möglichkeiten für alle Menschen sowie eine innere und äußere Revolution - basierend auf der aktiven Gewaltfreiheit, führte ihn in sehr unterschiedliche Länder, wie Ungarn, Spanien, Togo und Sierra Leone. Mit seiner freiwilligen Tätigkeit bei Pressenza Berlin möchte er der neuen Sensibilität und dem neuen Bewusstsein ein Sprachrohr verleihen und mit seinem Engagement bei der Organisation "Begegnung der Kulturen" von einem multikulturellen Nebeneinander zu einer weltweiten menschlichen Nation gelangen.


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 13. Juli 2021

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