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OFFENER BRIEF/097: Unbegleitete minderjährige Flüchlinge nach Hamburg holen (Bündnis Solidarische Stadt Hamburg)


Bündnis Solidarische Stadt Hamburg - Januar 2020

Offener Brief vom Bündnis Solidarische Stadt Hamburg an Herrn Dr. Peter Tschentscher, Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg


An den Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg
Dr. Peter Tschentscher
Senatskanzlei
Rathausmarkt 1
20095 Hamburg

Unmenschlicher Umgang mit Flüchtlingskindern als Sinnbild für Europas, Deutschlands und Hamburgs Schande - mindestens 100 unbegleitete Minderjährige nach Hamburg holen - jetzt!

Januar 2020

Sehr geehrter Herr Dr. Tschentscher,

ganz vorn, in seinem ersten Artikel, hat unser Grundgesetz die Menschenwürde als unantastbare Grundlage herausgestellt. Damit wird sie zu einer Eigenschaft erklärt, die jeder Mensch unverlierbar besitzt.

Für die darauf vereidigte Bundesregierung ist es eine humanitäre, politische und moralische Bankrotterklärung, aufnahmewilligen Ländern, Kommunen und Städten zu verweigern, noch nicht einmal 4000 unbegleitete Kinder und Jugendliche nach Deutschland zu holen, die in hoffnungslos überfüllten griechischen Flüchtlingslagern, in unglaublichem Elend, voller Grauen und Verzweiflung dahinvegetieren.

Angesichts dessen, dass sich ein Teil der Kinder noch nicht einmal mehr in Lagern befindet, sondern in Zelten vor Stacheldrahtzäunen haust, unter Planen im Schlamm und Morast versinkt, zeugen die Abwehrreflexe aus Regierungskreisen von einer Kälte und Brutalität, die im krassen Gegensatz zum Selbstverständnis Deutschlands als einer den Menschenrechten verpflichteten Wertegemeinschaft stehen.

Verlautbarungen der Bundesregierung, natürlich sei es ihr ein Anliegen, "die Lebenssituation der Menschen vor Ort, auch der Kinder, zu verbessern" und das Wehklagen aus dem Innenministerium, die Zustände auf den griechischen Inseln seien "so nicht tragbar und nicht akzeptabel", entlarven sich somit als bloße Betroffenheitsrhetorik.

Deutschland und die weiteren europäischen Regierungen vergehen sich gegenüber Kindern, die ja nicht selbstbestimmt handeln können, in unvorstellbarem Ausmaß an Werten der Humanität und Menschlichkeit. "Die europäischen Regierungen", so Heribert Prantl auf NDR Info, "sind nicht viel besser als König Herodes in biblischen Zeiten, der die Kinder hat umbringen lassen." Wohl wahr.

Und Hamburg? Nach Selbstbeschreibung seiner politischen Entscheidungsträger eine Stadt der Weltoffenheit, kultureller Grundwerte und Humanität! Tatsächlich ist es ein einziger Verrat an diesen Grundwerten, wie sich Senat und die ihn tragenden Bürgerschaftsfraktionen von SPD und Grünen zu der Forderung verhalten, wenigstens die Kinder von den griechischen Inseln zu holen.

Nicht nur, dass Hamburg keinerlei Bereitschaft zeigt, zusammen mit anderen Bundesländern, Kommunen und Städten, wenigstens bei der Aufnahme Minderjähriger - einmal! - mit voranzugehen. Mit ihrer Mehrheit sorgten die Fraktionen von SPD und Grünen dafür, dass ein Antrag der Linksfraktion in der Bürgerschaft abgelehnt wurde, 70 minderjährige unbegleitete Geflüchtete aus Griechenland aufzunehmen.

Stattdessen beschlossen sie einen eigenen, ausgesprochen heuchlerischen Antrag. Letztlich enthielt er nichts anderes als die Aufforderung an den Senat, er möge auf die Bundesregierung einwirken, auf den Inseln des Elends den UNHCR dabei zu unterstützen, das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik zu kaschieren. Es ist eine perfide Logik, dass sich Hamburg selbst mit diesem Beschluss zu gar nichts verpflichtet hat und dabei sogar noch nationalistische Abschottungsbestrebungen bedient.

Besonders auffallend in der Debatte über die Flüchtlingskinder ist die Zurückhaltung der Hamburger Grünen im Bürgerschaftswahlkampf. Ihr Auftreten passt so gar nicht zu Robert Habecks Zwischenruf. Zu Recht haben die Hamburger Grünen bislang immer betont, dass Menschen kein menschenwürdiges Leben führen können, solange sie nicht vor verschiedenen Formen von Unterdrückung und Entbehrung geschützt werden. Sie verlieren jede Glaubwürdigkeit, wenn sie jetzt an der Seite der SPD sogar einen Abwehr-Krieg gegen minderjährige unbegleitete Flüchtlinge führen.

Die Haltung von SPD und Grünen ist umso unverständlicher, als nicht ansatzweise die Rede davon sein kann, dass Flüchtlinge Hamburg überrennen. In den Jahren 2015 und 2016 blieben von den Geflüchteten, die in Hamburg ankamen, jeweils zwischen 22.000 und 23.000 in der Stadt. Im Jahr 2018 waren es noch nicht einmal mehr 5.000, die in Hamburg blieben. (Für 2019 liegen uns noch keine Zahlen vor). Ein Hamburg, das angesichts dieser Entwicklung selbst Kindern den Schutz vor unmenschlichen Lebensbedingungen verweigert, ist ein Hamburg der brutalen Unbarmherzigkeit. Die Parteien, die das zu verantworten haben, haben ihr menschenrechtliches Fundament an den Nagel gehängt.

Dort hängt es fest auch nach dem Schwenk, den SPD und Grüne nun jäh vollzogen haben. Der öffentliche Wind blies ihnen so scharf ins Gesicht, dass sie nach dem Motto, "sag mir das Wort, das so gern ich gehört", plötzlich ihre Bereitschaft erklärten, minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen. Wiederum ist es ein Beschluss, mit dem sie sich zu nichts verpflichten. Zur Zahl und zum Zeitpunkt kein konkretes Wort. Dafür aber wortreiche Erklärungen, dass das Thema im Bund zu bewegen sei, Seehofer seine Haltung überdenken müsse und Hamburg sich weiter darum bemühen werde, zu einer ganzheitlichen europäischen Lösung zu kommen.

Ein Hamburg, das so agiert, ist nicht dabei, Kinder in höchster Not zu retten. Es zerstört Hoffnungen, dass Flüchtlingskinder wieder spielen, sich vergnügen können, statt entsetzliches Leid ertragen zu müssen.

Bündnis Solidarische Stadt Hamburg, 22.1.2020

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Quelle:
Bündnis Solidarische Stadt Hamburg

Internet: https://kampagnesolidarischestadthamburg.noblogs.org/news/
https://www.facebook.com/groups/859299027773893/


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2020

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