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OFFENER BRIEF/100: Geflüchtete Menschen vor Corona schützen (Flüchtlingsrat Hamburg)


Flüchtlingsrat Hamburg e.V. - 18. März 2020

Geflüchtete Menschen vor Corona schützen!

Offener Brief an Hamburgs 1. Bürgermeister und verantwortliche Senator*innen


Der Flüchtlingsrat Hamburg hat einen Offenen Brief bezüglich des Schutzes geflüchtetet Menschen vor dem Corona-Virus an den Ersten Bürgermeister der FHH, Herrn Tschentscher und die verantwortlichen Senator*innen Grote, Leonhard und Prüfer-Storcks geschickt:

An den Ersten Bürgermeister der
Freien und Hansestadt Hamburg,
Herrn Peter Tschentscher,
die Senator*innen Herrn Grote (Inneres),
Frau Leonhard (Soziales), Frau Prüfer-Storcks (Gesundheit)

Hamburg, den 18.03.2020

Offener Brief des Flüchtlingsrats Hamburg
an den Ersten Bürgermeister Herrn Peter Tschentscher und die zuständigen Senator*innen

Geflüchtete Menschen vor Corona schützen!

Flüchtlingsrat fordert weitgehende Maßnahmen zum Schutz von Geflüchteten und Personal in Unterkünften, Behörden und Gerichten: Infektionsschutz muss absoluten Vorrang haben!

Geflüchtete Menschen sind aufgrund der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften und Großlagern wie der Hamburger ZEA (Zentrale Erstaufnahme) in Rahlstedt besonders von einer Infektion mit dem Coronavirus bedroht. Ist er erst einmal in solchen Unterkünften angekommen, lässt sich ein Überspringen auf andere Bewohner*innen kaum mehr verhindern. Weder kann ein Sicherheitsabstand eingehalten werden, noch können soziale Kontakte vermieden werden. Wer sich Gemeinschaftsküchen teilt, in Mehrbettzimmern oder - wie in der ZEA - in einer großen Halle mit bis zu 12 Personen in kleinen, nach oben offenen Kompartements "wohnt", aus derselben Kantine versorgt wird und die Sanitäranlagen gemeinsam nutzt, ist immer mit anderen Menschen in Kontakt. Zudem müssen Geflüchtete zur Anhörung beim BAMF und zu Verhandlungen bei den Verwaltungsgerichten, regelmäßig haben sie Termine bei Ausländerbehörden, bei Grundsicherungsämtern oder Jobcentern. Überall treffen Geflüchtete auf eine große Zahl weiterer Geflüchteter, sowie auf Mitarbeiter*innen aus Behörden, Unterkunftsverwaltung, Sicherheitsdiensten, Richter*innen, Dolmetscher*innen, und sonstigem Personal.

Um eine ungehinderte Ausbreitung des Coronavirus? zu verhindern, fordert der Flüchtlingsrat Hamburg, die Gesundheitsversorgung, Information und Betreuung aller Geflüchteten sicherzustellen, Behördentermine abzusagen, Fristsetzungen aufzuheben, den aktuellen Verfahrensstand beizubehalten, Abschiebungen auszusetzen und alle Abschiebehäftlinge freizulassen.

"In der aktuellen Notsituation muss der Infektionsschutz für Geflüchtete und Personal in Unterkünften, Behörden und Gerichten Vorrang haben", erklärt Franz Forsmann vom Flüchtlingsrat Hamburg. "Die Corona-Krise bestätigt uns nachdrücklich in unserer Kritik an großen Sammelunterkünften für Geflüchtete, denn sie steigern das Risiko von Infektionskrankheiten massiv. Schon seit Jahren fordern wir, die großen Sammel-unterkünfte für geflüchtete Menschen zugunsten von kleinen dezentralen Unterkünften und vor allem Wohnungen aufzugeben!"

Akut hält der Flüchtlingsrat Hamburg folgende Maßnahmen für unabdingbar notwendig:

Gesundheitsversorgung
Die Gesundheitsversorgung und die freie Arztwahl müssen für alle Geflüchteten gesichert sein. Eine ärztliche Behandlung darf nicht vom Vorliegen einer Gesundheitskarte abhängig gemacht werden.

Betreuung im Infektionsfall
Sollten Infektionsfälle auftreten, muss für eine adäquate Betreuung gesorgt werden. Werden einfach nur Gebäudetrakte oder ganze Unterkünfte von Polizei und Sicherheits-diensten abgeriegelt, wirkt das nicht wie eine Schutzmaßnahme, sondern wie Strafarrest.

Umfassende Information
Die Bevölkerung in Deutschland ist höchst verunsichert ob der Gefahren einer Corona-infektion. Das gilt umso mehr für Geflüchtete, die aufgrund fehlender oder geringer Deutschkenntnisse vom Informationsfluss abgeschnitten oder mit Falschmeldungen im Internet konfrontiert sind. In Zusammenarbeit mit den Gesundheitsbehörden müssen schnell Informationsmaterialien übersetzt und in den Unterkünften in den Sprachen der dort untergebrachten Geflüchteten zur Verfügung gestellt werden. Zudem sollten Telefon-Hotlines mit Übersetzer*innen geschaltet werden für alle Geflüchteten und Migrant*innen in Hamburg, um drängende Fragen direkt beantworten zu können.

Zugang für ehrenamtliche Helfer*innen
Ehrenamtliche müssen Unterkünfte, in denen keine Quarantäne verhängt wurde, weiter betreten dürfen, um die von ihnen betreuten Menschen zu beraten und über Gefahren, Risiken und Vorbeugemaßnahmen zu informieren. Ehrenamtlichen muss insbesondere auch der Zugang zu den zentralen Erstaufnahmeeinrichtungen im Bargkoppelweg und Bargkoppelstieg gestattet werden.

Behördentermine absagen
Termine bei Behörden bergen ein unabsehbares Infektionsrisiko, weil sich hier besonders viele Geflüchtete in engen Wartebereichen über längere Zeit aufhalten müssen. Deshalb müssen alle Termine bei BAMF, Ausländerbehörden, Grundsicherungsämtern, Jobcentern, Botschaften und Verwaltungsgerichten abgesagt werden, um Infektionsgefahren zu minimieren. Einige Behörden haben damit bereits begonnen, bieten aber für dringende Fragen keine Informationen an über alternative Zugänge, z.B. per Telefon oder Internet.

Fristen aussetzen
Wenn Geflüchtete ihren BAMF-Bescheid zugestellt bekommen, haben sie in der Regel 2 Wochen Klagefrist. Zudem setzen Ausländerbehörden Fristen zur Beschaffung von Dokumenten und Ausweisen über Familienangehörige, Botschaften und Konsulate. Alle diese Fristen müssen sofort ausgesetzt werden, um zu verhindern, dass Geflüchtete trotz massiver Infektionsrisiken zu Behörden, Gerichten, Botschaften und Konsulaten fahren.

Ausweispapiere unbürokratisch verlängern
Durch einen solchen Wegfall direkter Vorsprachen bei den Ausländerbehörden können Ausweispapiere ablaufen, die verlängert werden müssen. Daher sollen Aufenthaltsgestat-tungen, Aufenthaltserlaubnisse und Duldungen vorübergehend unbürokratisch verlängert und, sofern nicht anders möglich, mit der Post zugestellt werden.

Sozialleistungsauszahlungen sicherstellen
Die Auszahlung des menschenwürdigen Existenzminimums an Sozialleistungen muss gewährleistet werden, notfalls vor Ort in den Unterkünften.

Entzerrung der Belegung in Unterkünften
In vielen Unterkünften stehen Betten leer, regelmäßig werden deshalb einzelne Zimmer und ganze Gebäudetrakte geschlossen. Die leerstehenden Zimmer müssen geöffnet werden, um die Belegung der Unterkünfte zu entzerren und die Einhaltung eines Sicherheitsabstandes zwischen den Bewohner*innen zu ermöglichen. Insbesondere müssen die Hallen zur Unterbringung von Geflüchteten in den ZEAs im Bargkoppelstieg und Bargkoppelweg sofort geschlossen und die Geflüchteten auf andere Unterkünfte verteilt werden, in denen der Schutz vor Ansteckung so weit wie möglich gewährleistet ist. Den Geflüchteten muss ermöglicht werden, dort selbst zu kochen, und dafür sind ihnen die entsprechenden Leistungen nach dem AsylBLG zu zahlen.

Abschiebungen stoppen
Abschiebungen innerhalb Europas finden nur noch eingeschränkt statt, auch der Luftverkehr ist deutlich reduziert. Dennoch kommt es immer noch zu Abschiebungen, obwohl dies die Gefahr birgt, eine Infektion mit Corona zwischen abzuschiebenden Geflüchteten, Landes- und Bundespolizeibeamt*innen und Flugpersonal zu ermöglichen. Dies kann außerdem dazu führen, dass der Coronavirus in andere Länder weitergetragen wird. Abschiebungen müssen deshalb generell ausgesetzt werden.

Abschiebehaft beenden
Wir gehen davon aus, dass sich noch immer Geflüchtete in Abschiebehaft befinden, obwohl ihre Abschiebungen nicht durchgeführt werden können. Die Abschiebehaft muss komplett geschlossen und die inhaftierten Geflüchteten müssen entlassen werden, zumal unter Haftbedingungen die Ansteckungsgefahr enorm steigt!

Hamburg, den 18. März 2020

Flüchtlingsrat Hamburg e.V.

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Quelle:
Flüchtlingsrat Hamburg e.V.
Nernstweg 32-34, 22765 Hamburg
Büroöffnungszeiten:
Mo. 10.30 - 14.30, Di. 17.00 - 19.00, Do. 15.00 - 19.00
Telefon (040) 43 15 87, Fax: (040) 430 44 90
E-Mail: info@fluechtlingsrat-hamburg.de
Internet: www.fluechtlingsrat-hamburg.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. März 2020

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