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STANDPUNKT/407: Chile - Impressionen von Unterdrückung und Widerstand (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Chile
Impressionen von Unterdrückung und Widerstand

von Juan Schilling, Leonel Yáñez Uribe und Mauricio Lorca Carrasco


Die Nacht war von einem sehr dunklen Blau, und Richtung Westen sah man noch die Venus fallen. Man wollte am liebsten ein Rechteck aus dem Himmel schneiden und sich eine Mapuche-Fahne daraus nähen.

Irgendwo tönte mit Nachdruck ein einsamer Kochtopf. Wir, der Topf und dieser geschwätzige Löffel, gingen hinaus in den Vorgarten. Uns folgten ein Holzlöffel und eine Pfanne. Aus dem Nachbarhaus kamen mehrere Töpfe und große Metallschalen, aus der kleinen Gasse gegenüber gesellten sich mehrere Kochtöpfe und Löffel zu uns, und eine Blechdose, die wie der Donner klang. Dann ein Pfeife und ein Plastikeimer mit einem Stock, die zusammen als Trommel ertönten. Eine Gruppe von Vuvuzelas, Enkelinnen von denen, die 2010 aus Südafrika gekommen waren, trötete durcheinander. Eine Trutruca [Naturtrompete der Mapuche] ergänzte das Getöse mit einer dramatischen und endgültigen Note. Ohne miteinander zu reden, begannen wir unseren Protestmarsch. Die Sperrstunde hatte zwei Stunden zuvor begonnen.

Juan Schilling, 70, Journalist, Concepción.

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Chile Despertó - Chile ist aufgewacht und bringt das neoliberale System Pinochets ins Wanken

Vor zwei Wochen begannen junge Menschen in den U-Bahnhöfen von Santiago gegen die Erhöhung der Fahrpreise zu protestieren. Die jungen Leute in Chile werden nicht müde, auf der Straße gegen die Regierung Sebastian Piñeras zu demonstrieren, der der letzte Nachfolger der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik der Pinochet-Diktatur zu sein scheint.

Der Präsidentenpalast La Moneda ist machtlos. Angesichts der Krise und des gesellschaftlichen Aufstands versucht er, sich selbst zu retten und verlegt sich auf beschwichtigende Maßnahmen und Gesetze, die kaum Auswirkungen auf die Lebenserhaltungskosten der Chilenen haben werden.

Wenn es nach den Protestierenden geht, ist die Situation noch weit entfernt davon, sich zu beruhigen. Überhaupt gibt es nur wenige Wege aus der Krise: Der erste, institutionelle Weg sieht vor, dass der Präsident ein verpflichtendes Plebiszit (das es laut der aktuellen Gesetzgebung nicht gibt) einberuft, das eine Verfassungreform begünstigt, die wiederum im Kongress bestätigt wird. Für viele würde dieser Weg die öffentliche Ordnung wiederherstellen. Auf dem zweiten möglichen Weg wäre der Protagonist das Parlament - eine Institution, die in Meinungsumfragen schlecht abschneidet. Ein verfassungsgebender Prozess würde mit dem Ziel begonnen, die Chilenen und Chileninnen ohne verpflichtende Abstimmung zu repräsentieren und eine neue Verfassung vorzuschlagen. Ein dritter Ausweg aus der Krise sieht die Kraft der Mobilisierungen als Institution, die in Bürgerversammlungen oder verfassungsgebenden Versammlungen in der Basis zusammenkommt und einen verbindlichen Vorschlag macht, wie die Macht der von Pinochet eingerichteten demokratischen Institutionen neu verteilt werden kann. Hierbei bliebe das Parlament außen vor.

Die Menschen trotzen der brutalen Repression, die vor niemandem haltmacht.

Leonel Yáñez Uribe
Journalist & Doktor der Kommunikation und Kultur

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Wir haben es einfach satt ...

Ich bin Inhaber eines kleinen Getränkevertriebs in einer der am dichtesten besiedelten Gemeinden Santiagos. Ich möchte die alltägliche Situation beschreiben, die ich von meinem Tresen aus erlebe.

An jedem Wochenende versorgen wir zwischen sechs und zehn "besondere Veranstaltungen" von Menschen oder Familien, die wegen Gesundheitsbehandlungen extrem verschuldet sind. Sie organisieren Bingos und Wohltätigkeitsveranstaltungen, um die Behandlungen bezahlen zu können, die ihre Liebsten zum Überleben brauchen. In den einfachen Gegenden ist es unser täglich Brot geworden, die Beklemmung dieser Angehörigen zu sehen, die astronomische Summen ausgeben müssen, um Krebsbehandlungen oder Herzoperationen in Anspruch nehmen zu können. Das belastet den Geldbeutel der einfachen Leute extrem.

Dies ist nur ein Beispiel, übertragbar auf alle Lebensbereiche - und ich meine wirklich: alle.

Wir sind einfach müde. Wir sind es leid, dass manche sich bereichern, wo es nur geht. Wir haben es satt, dass unsere Politiker AUS ALLEN POLITISCHEN SPEKTREN sich auf fahrlässige Art und Weise mit dem durch die Verfassung von 1980 vorgegebenen Wirtschaftsmodell arrangiert haben und heute ein Durchschnittsgehalt von 20.200 Euro monatlich beziehen.

Unsere von Naturkatastrophen durchzogene Geschichte hat uns gelehrt, Widrigkeiten zu trotzen, uns dem Sturm entgegenzustellen und schwierige Situationen zu überstehen. Stumm, fast bestialisch stehen wir nach jedem Erdbeben ein ums andere Mal wieder auf. Diese Eigenschaft, die wir über Jahrzehnte entwickelt haben, hat uns in den letzten Jahren allerdings schlecht mitgespielt: Mit stoischer Geduld haben wir auch die Konsequenzen aus freiem Markt, Machtmissbrauch und Ungerechtigkeiten getragen.

Aber nun reicht es, wir sind es leid, wir haben es satt - für immer. Wir sind nicht mehr die Schafherde, die einfach ruhig weitertrottet. Chile braucht Veränderungen und Politiker, die die Größe haben, um diese Aufgabe zu erfüllen. Das ist unsere Forderung, und wir erwarten nicht weniger als das.

Mauricio Lorca Carrasco


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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. November 2019

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