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SERIE/027: Die tödliche Kriminalisierung der Heide L. - 25. Brief - Neudeck 16


Die tödliche Kriminalisierung der Heide L. - 25. Brief

8.6.2008

Neudeck 16


Die achte Woche in Untersuchungshaft ist vorbei und zum Glück hat sich das warme und sonnige Wetter in kühlen Regen verwandelt. So ist der Knast erträglicher, ich muss nicht mehr ständig daran denken, wo ich jetzt unterwegs wäre, wenn ich nicht hier säße. Ein bisschen habe ich mich an den stets gleichen Tagesablauf gewöhnt und mache täglich ein paar Gymnastik- und Kreativitätsübungen Die Buchstaben des Alphabets in Groß- und Kleinschreibung als Grundlage benutzend, zeichne ich Bilder bzw. Skizzen, täglich drei Stück, auch aus den Zahlen von 1 bis neun und geometrischen Grundfiguren. Eigentlich kann man alle Zeichen und Linien dazu verwenden. Die Ergebnisse sehen ganz interessant aus und manchmal staune ich selber darüber, was mir alles so eingefallen ist. In der restlichen Zeit grüble ich viel, über meine verlassen daliegende Wohnung, darüber, ob der jetzige Anwalt der richtige für mich ist, über meine alte Mutter, die noch immer unter dem Schock meiner Verhaftung leidet und über die Zukunft meines Bruders, der einen Schlaganfall erlitt und jetzt depressiv ist. Alles, was sicher schien, ist weggebrochen, etwas Neues nicht in Sicht. Die Dame vom auswärtigen Sozialdienst rät mir in einem langen Gespräch, meine Bankkonten aufzulösen. Viel ist eh nicht drauf, aber in Anbetracht der riesigen Geldforderungen, die früher oder später auf mich zukommen werden, ist das sicher eine sinnvolle Idee. Um sie umzusetzen, muss ich jetzt erst einmal erforschen, wo eigentlich mein Personalausweis ist. Alles, was man "draußen" ganz einfach mit einem kurzen Telefonat oder Gang klären kann, ist von hier aus furchtbar kompliziert und dauert ewig. Immer wieder wache ich aus schrecklichen Alpträumen auf. Einmal stehe ich in einer Höhle bis zum Bauch im Wasser, auf dem eine schaumig-lehmige, offenbar giftige Schicht treibt. Überall um mich herum kommen große, tote Fische an die Oberfläche. Ich wate hindurch, gelange schließlich durch etwas Membranähnliches in eine große Röhre, gehe in ihr entlang und komme schließlich in eine Art geschlossene Krankenstation, ohne krank zu sein. Naja, an einem ähnlichen Ort bin ich ja auch in der Realität. Eine Etage unter mir befindet sich die Jugendabteilung und dort, genau unter meiner Zelle, sitzt ein junges Mädchen, das von Zeit zu Zeit Schreie aus dem Fenster herausstößt, die auch von einem Tier stammen könnten. Gefängnis und Psychatrie sind wohl wie unglückliche siamesische Zwillingspaare miteinander verbunden - eng und untrennbar. Wieder schlägt das Wetter um, es ist wie verhext. Sonne, Wärme, quälend blauer Himmel. Zu allem Überfluß habe ich jetzt auch noch gesundheitliche Probleme, die Blase. Schmerzen, ständig muss ich auf die Toilette. Ich gehe in die Krankenabteilung und trinke dann tagelang literweise Nieren- und Blasentee - ohne Erfolg. Kein Wunder, meine Lebensweise hat sich in den letzten zwei Monaten um 180 Grad gedreht. Jeden Tag war ich bei Wind und Wetter draußen, habe lange Wanderungen gemacht. Jetzt sitze ich viele Stunden am Tag herum. Wieder ist eine Woche vorbei und eins der unendlich langen Wochenenden steht vor der Tür. Ich verfasse einen Brief an meinen Anwalt, der sich sehr rar macht, führe alle klärungsbedürftigen Punkte darin auf und werde von seiner Reaktion abhängig machen, wie ich diesbezüglich weiter verfahre. Eigentlich möchte ich ihn behalten, aber ich bin mir unsicher. Auf dem täglichen "Hofgang" freue ich mich zur Zeit besonders, die Pferde- und Reitfachsimpelei mit dem weiblichen Amateurjockey (oder sagt man "Jockeuse"?) S. tut mir gut. Sie ist entsetzt über die Verhältnisse in Neudeck, hat aber immerhin das Glück, nur einige Wochen hier verbringen zu müssen. Wie schon etliche Frauen vor ihr, schwört sie Stein und Bein, Presse und Politiker zu kontaktieren und die Zustände hier öffentlich zu machen, sowie sie "draußen" ist. Ob sie es wirklich getan hat, habe ich nie erfahren. Bei der sonntäglichen Fernsehstunde gibt es eine Sensation. Zum ersten Mal, seitdem ich hier bin, wird von der Beamtin statt der üblichen SAT 1-Telenovela ein anderer Sender eingeschaltet, auf dem eine ganz interessante wissenschaftliche Sendung läuft. Ich freue mich, aber nicht lange - meine Mitgefangenen beschweren sich, sie wollen wieder "Lisa Plenske" sehen. Die Mehrheit entscheidet, ich resigniere und fühle mich im wahrsten Sinne des Wortes wie im "falschen Film". Wieder einmal bin ich der Außenseiter und Welten trennen mich von den anderen. Tausendmal habe ich mich gefragt, warum das so ist, als Kind, als Jugendliche und auch später. Verstanden habe ich es durch einen einzigen Satz während einer Reise durch Indien. Ich unterhielt mich auf einer belebten Straße kurz mit einem Einheimischen - woher, wohin, nichts Tiefschürfendes. Wir sind uns weder vorher noch nachher begegnet. Einen Moment lang trafen sich unsere Blicke und er sagte "You are not German, you are Indish". So ist es.


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Quelle: Copyright by Heide Luthardt


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2008