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BERICHT/053: Aufbruchtage - Januskopf und Bündnis ... (3) (SB)


Frag' nach beim Bundestag (3)

Transformation statt Revolution?

Podiumsveranstaltung am 3. September 2014 in Leipzig



Die Genannten am Podiumstisch sitzend - Foto: © 2014 by Schattenblick

Angelika Zahrnt, Hermann Ott, Sabine Leidig und Matthias Zimmer (v.l.n.r.)
Foto: © 2014 by Schattenblick

"Was hat die Wachstums-Enquetekommission des Bundestags gebracht und wie weiter damit?" Unter diesem Titel fand auf der Degrowth-Konferenz in Leipzig am 3. September 2014 eine Podiumsdiskussion mit den ehemaligen Kommissionsmitgliedern Hermann Ott (Wuppertal Institut, seinerzeit Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen), Sabine Leidig (Die Linke) und Matthias Zimmer (CDU) unter Moderation von Prof. Dr. Angelika Zahrnt (BUND) statt. [1] Die Kommission hatte von 2011 bis 2013 zum Thema "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft" gearbeitet. Damit wurden die drängenden Gegenwarts- und Zukunftsfragen innerhalb der kapitalistischen Verwertungsordnung als im Prinzip lösbar behandelt, was eine inhaltliche Eingrenzung darstellt, die im Widerspruch steht zu den von vielen Teilnehmenden und Akteuren der Degrowth-Konferenz formulierten antikapitalistischen Positionen.

Die Ergebnisse der Enquetekommission variierten nach Einschätzungen der Beteiligten wie Experten stark. Von kritischen Mitgliedern wurde beispielsweise moniert, daß ein Teil ihrer Kommissionskollegen nicht bereit gewesen sei, das Wachstumsparadigma zu hinterfragen, auch wenn von einem parlamentarischen Gremium, in dem selbstverständlich auch die offizielle Regierungspolitik repräsentiert wird, deshalb auch zu erwarten war, daß nicht wenige Mitglieder die Auffassung vertreten würden, die Probleme sozialer, ökologischer und klima- wie verteilungspolitischer Art seien zu bewältigen, wenn nur die der kapitalistischen Marktwirtschaft inhärente Fähigkeit, bei einem genügenden Wirtschaftswachstum die erforderlichen Lösungsoptionen freizusetzen, nicht blockiert werde.

Wie in Leipzig deutlich wurde, aber auch einschlägigen Publikationen zu entnehmen ist, zogen sich die Kontroversen zwischen Wachstumsbefürwortern und -gegnern, wenn auch mit unterschiedlich starken Beeinträchtigungen der einzelnen Projektgruppen, durch die gesamte Kommissionsarbeit. Die inhaltliche Unzufriedenheit wachstumkritischer Kommissionsmitglieder mit dem 844 Seiten starken Abschlußbericht war insofern vorprogrammiert. Die Abgeordneten der Partei Die Linke Ulla Lötzer und Sabine Leidig sowie die von der Linken benannten Sachverständigen Ulrich Brand und Norbert Reuter sahen sich veranlaßt, ein Sondervotum zu verfassen mit dem Titel "Sozial-ökologische Transformation als demokratischen, gerechten und emanzipatorischen Prozess gestalten", in dem sie die von ihnen in dem über zweijährigen Arbeits- und Diskussionsprozeß entwickelten Positionen deutlich machten. [2]


U. Brand in Großaufnahme - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ulrich Brand moderierte eine Podiumsdiskussion zum Thema "Degrowth - Ein Bündnis zwischen dem Globalen Norden und Süden?!"
Foto: © 2014 by Schattenblick


Transformation - ein Zauberwort der Kapitalismuskritik?

Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Universität Wien mit dem Arbeitsschwerpunkt Globalisierung bzw. Globalisierungskritik und selbst an der Degrowth-Konferenz beteiligt, erläuterte in einem Gespräch, inwiefern Wachstums- und Kapitalismuskritik für ihn zusammenfallen und wieso die vorherrschende Wachstumsfixierung aus seiner Sicht immer problematischer wird: [3]

Ich finde es wichtig, von kapitalistischem Wachstum zu sprechen, wenn wir von Wachstum sprechen. Wachstum ist ja nicht nur eine quantitative Größe, Wachstum ist ein soziales Verhältnis. Wachstum bzw. die Ausweitung kapitalistischer Verhältnisse reißt die Menschen in Lohnarbeit (wohin sie ja vielleicht auch wollen) und macht den Staat abhängig von Wachstum, was Steuereinnahmen angeht und anderes. Kurzum: Diese Form von kapitalistischer weltmarktorientierter Wachstumsfixierung führt nicht mehr dazu, dass Gesellschaften im globalen Norden - und auch nicht im globalen Süden sich stabilisieren können.

Auf die Frage, ob die Wachstumsfixierung, also das Streben nach Profit und Expansion, dem Kapitalismus ausgetrieben werden könne, erklärte Brand, sein politisch-strategischer Begriff für Wachstumskritik wäre die "sozial-ökologische Transformation", womit eine "Transformation des Kapitalismus über ihn hinaus" gemeint sei. Der Begriff Transformation ist, wenn es um gesellschaftliche Umbrüche und Fragen der politischen Zukunftsgestaltung und Konfliktbewältigung geht, keineswegs neu. Der österreichisch-ungarische Wirtschaftshistoriker, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi (1886-1964) hatte den Begriff Große Transformation für die tiefgreifenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen verwendet, die die westlichen Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung vollzogen hatten.

Aus heutiger Sicht könnte Polanyi als früher Kapitalismuskritiker bezeichnet werden. In seinem 1944 erschienenen Werk "Die große Transformation" hatte er geschrieben: "Es war das Dilemma, dass sich das Marktsystem sein eigenes Grab geschaufelt hat und zuletzt auch die sozialen Institutionen zerstörte, auf denen es basierte." Wie Marx hielt Polanyi die zunehmende Inwertsetzung und Kapitalisierung für einen Skandal. Das Unheil habe seinen Lauf genommen, als zum ersten Mal in der Geschichte Land, Arbeit und Geld aus ihrer sozialen Welt gerissen und wie Rohstoffe oder Güter behandelt, das heißt den Gesetzen von Angebot und Nachfrage unterworfen wurden. Polanyi zufolge, der sich als Sozialist verstand, führte das zur moralischen Zerstörung der gesellschaftlichen Lebensgrundlagen und dehumanisierte die soziale Welt.

Der Begriff "große Transformation" wird auch auf das Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht in dem ebenfalls mit tiefgreifenden sozialen Veränderungen verbundenen Übergang von der Jungsteinzeit (Neolithikum) zu Vorratshaltung und ersten festen Siedlungen bezogen, wofür der australisch-britische marxistische Archäologe und Archäologietheoretiker Vere Gordon Childe 1936 den Begriff Neolithische Revolution geprägt hatte. Was also hat es zu bedeuten, wenn heute von einer dritten, mutmaßlich bevorstehenden Großen Transformation die Rede ist?


Porträtaufnahme von Karl Marx - Foto: John Jabez Edwin Mayall [Public domain], via Wikimedia Commons

Karl Marx - wo liegen Nutzen und Grenzen seiner Analysen?
Foto: John Jabez Edwin Mayall [Public domain], via Wikimedia Commons


Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) propagiert eine "Große Transformation"

Im April 2011, während die Enquetekommission des Bundestages zu Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität noch in ihren Anfängen steckte, hatte der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) ein Gutachten zu einem inhaltlich nah verwandten Thema "Welt im Wandel - Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation" vorgelegt. [5] Wie einer für politische Verantwortungsträger gedachten Zusammenfassung zu entnehmen ist, hält dieses hochkarätig besetzte wissenschaftliche Beratergremium der Bundesregierung einen "nachhaltigen weltweiten Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft" - so sein Verständnis der "Großen Transformation" - für erforderlich.

Auf zentralen Transformationsfeldern müßten Produktion, Konsumtion und Lebenstile so verändert werden, daß "die globalen Treibhausgasemissionen im Verlauf der kommenden Dekaden auf ein absolutes Minimum sinken und klimaverträgliche Gesellschaften entstehen können". Das Ausmaß dieses nach Ansicht des WBGU bevorstehenden Übergangs sei kaum zu überschätzen und hinsichtlich der Eingriffstiefe den beiden bisherigen "fundamentalen Transformationen" der Weltgeschichte, womit hier ebenfalls die Neolithische Revolution und die Industrielle Revolution nach Polanyi gemeint sind, vergleichbar. Im Unterschied zu den historischen Vorläufern, bei denen erst in Reaktion auf Krisen und Katastrophen tiefgreifende Richtungsänderungen vorgenommen worden seien, wird in dem Gutachten für den nun propagierten Wandel erklärt, es gelte, einen "umfassenden Umbau aus Einsicht, Umsicht und Vorsicht" anzutreiben und mit einem neuen Gesellschaftsvertrag zu besiegeln. Eine solche Transformation erfordere einen "gestaltenden Staat" und, mehr noch, den Aufbau von "Strukturen für globale Politikgestaltung" (Global governance). [6]

Für die Leipziger Podiumsdiskussion zur Enquetekommission des Bundestages sind dieser Beirat und sein Gutachten erwähnenswert, um dem Mißverständnis vorzubeugen, es könnte sich bei dieser Parlamentskommission um so etwas wie ein wissenschaftliches Beratergremium handeln, wie es der WBGU für die Bundesregierung tatsächlich ist. In dessen Gutachten wurde auch empfohlen, die Zivilgesellschaft in die Bemühungen, für eine "Große Transformation" eine gesellschaftliche Akzeptanz zu schaffen, einzubinden. Für die Degrowth-Konferenz und ihre Teilnehmenden hätte sich aus solchen Gründen und Anlässen eine interessante Diskussion ableiten lassen, um in der Gretchenfrage, wie halten wir es in der Bündnispolitik mit der Regierung, für klare Positionen zu sorgen.


Dichtes Gedränge vor dem Auditorium Maximum - Foto: © 2014 by Schattenblick

Degrowth als Lösung? Großer Andrang im Foyer der Universität Leipzig zu Beginn der Konferenz
Foto: © 2014 by Schattenblick


Revolte "von unten" oder Transformation "von oben"?

Wie im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) hatte offenbar auch in der Wachstums-Enquetekommission des Bundestages der Tenor vorgeherrscht, den Schulterschluß zwischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zu propagieren und voranzutreiben. Auf der Degrowth-Konferenz hingegen war in vielen Referaten und Diskussionen von strategischen Ansätzen und praktischen Kämpfen berichtet worden, geführt von Menschen, die sich nicht länger den Vorgaben der Politik zu unterwerfen und auf die Selbstheilungskräfte des kapitalistischen Systems zu hoffen bereit sind. Basisbewegungen und dezentrale Initiativen in allen Teilen der Welt wurden thematisiert als Zeugen und Akteure einer Entwicklung, für die das Fehlen einer zentralistischen bzw. globalen Ordnungsmacht, die ihr Lösungskonzept mit einer klimakatastrophendefinierten Sachzwangslogik unterfüttert und Marschrouten vorgibt, nach denen sich alle anderen zu richten hätten, kennzeichnend ist.

Eine ergebnisoffene Diskussion der Frage, ob die Bevölkerungen der führenden demokratischen Staaten ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen sollten, wäre eine logische Konsequenz, sollte sich herausstellen, daß die repräsentativen Institutionen bedingungslos am herrschenden Verwertungsystem und damit auch den ihm inhärenten Kapitalakkumulationszwängen festhalten. Die an der Podiumsdiskussion zur Enquetekommission auf der Degrowth-Konferenz beteiligten Parlamentarier schienen sich ungeachtet ihrer partiellen bzw. parteipolitischen Differenzen in der Annahme einig gewesen zu sein, daß nur durch mehr Staat bzw. den Aufbau globaler Regierungs- oder Kooperationsstrukturen die anstehenden Probleme angegangen werden könnten - und das, wie es hieß, unter Einbeziehung der sogenannten Zivilgesellschaft.


S. Leidig in Großaufnahme - Foto: © 2014 by Schattenblick

Sabine Leidig
Foto: © 2014 by Schattenblick


Institutionalisierung - Rezeptur unter Bundestagsabgeordneten

Sabine Leidig von der Linken erklärte auf die Frage der Moderatorin Prof. Zahrnt, wie es in den Fraktionen nach der Enquetekommission mit dem Thema weitergegangen sei, daß es eine enge Zusammenarbeit ihrer Partei mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung gäbe, die aus wissenschaftlicher Sicht noch näher am Thema dran sei. Leidig wies darauf hin, daß eine kleine Oppositionspartei geringere Möglichkeiten hätte, in der parlamentarischen Arbeit eigene Schwerpunkte zu setzen, als die Regierungsparteien. Ihrer Partei käme die Rolle zu, nach Bündnispartnern Ausschau zu halten, um Einfluß auf den politischen Prozeß nehmen zu können. Sie würde sich wünschen, daß in der parlamentarischen Arbeit nicht nur allgemeine Bekenntnisse zu wachstumskritischen Impulsen abgegeben werden, sondern daß es zu einer Institutionalisierung bestimmter Debatten komme.

Hermann Ott sprach von den Schwierigkeiten, die Ergebnisse aus der Enquetekommission in die praktische Realität der parlamentarischen Arbeit zu übertragen. Dafür sei, so zeigte er sich mit Sabine Leidig einig, eine Institutionalisierung erforderlich. In der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen gäbe es bereits eine Arbeitsgruppe "Transformation". Ott plädierte dafür, sich innerhalb der Fraktionen dafür einzusetzen, daß tatsächlich eine Form der Institutionalisierung stattfände, weil da ansonsten, so seine Befürchtung, gar nichts laufen würde. Die Zivilgesellschaft sei hier gefragt, auch wenn der Abstand zur politischen Sphäre "unglaublich groß" sei. Die Menschen meinten, das sei doch alles bloß Mist, was da laufe und beschlossen werde. Zu sagen, das interessiere mich nicht, sei jedoch falsch. Es wäre unglaublich wichtig, daß der Druck auf das Parlament und die einzelnen Abgeordneten aus der Zivilgesellschaft komme, denn nur dann tue sich etwas in der Politik.


H. Ott in Großaufnahme - Foto: © 2014 by Schattenblick

Hermann Ott
Foto: © 2014 by Schattenblick


Arbeitswelt, Konsumverhalten und Lebensstile - Themen der Projektgruppe 5

In Projektgruppe 5, in der Sabine Leidig, Hermann Ott und Matthias Zimmer vertreten waren und bei der es sich, wie Ott unter dem zustimmenden Gelächter der Anwesenden erklärte, um die "Wohlfühl-Gruppe" der Enquetekommission gehandelt habe, war es um Arbeit, Konsum und Lebensstile gegangen. Themen also, die, wie die ehemalige Vorsitzende Sabine Leidig erklärte, "ganz nah an der Lebenswirklichkeit der Menschen dran sind" und zu denen es "ganz spannende" Anhörungen und Diskussionen gegeben habe. So habe Prof. Sauer [7] in einem Gutachten dargelegt, in welche Zwickmühlen Beschäftigte zunehmend gerieten, weil sie Arbeit ohne Ende abliefern müßten, die Bedingungen jedoch gar nicht selbst bestimmen könnten, wodurch ein Leiden an der Arbeit entstünde. Wie Sabine Leidig erklärte, sei die Frage nach der Qualität der Arbeit in Projektgruppe 5 parteipolitisch kontrovers besetzt gewesen. An der Frage, welcher Arbeitsbegriff überhaupt zugrunde gelegt werden sollte, hätten sich die Geister extrem geschieden.

Beim Konsum, dem zweiten großen Thema dieser Projektgruppe, habe es ebenfalls eine Kontroverse gegeben. Einige Mitglieder hätten argumentiert, es sei wichtig, die Bevölkerung umfassend zu informieren, damit sie ökologischer einkaufe. Konkret sei die Idee entwickelt worden, Waren mit Barcodes zu versehen, um die Produktinformationen per Handy einlesbar zu machen, damit die Konsumierenden vor den Regalen stehend klimaverantwortliche Kaufentscheidungen treffen könnten. Andere hätten den Standpunkt vertreten, die Politik sei dafür verantwortlich, daß bestimmte Waren gar nicht erst in den Handel kämen. Dies müsse zuvor - gegebenenfalls durch Verbote - reguliert werden, indem ein Warensortiment organisiert werde, das den einzelnen nicht mehr vor das Problem stelle, sich an der Ausbeutung von Menschen und der Zerstörung der Natur mitschuldig zu machen.

Zwischen diesen Positionen habe kein Konsens hergestellt werden können, im Abschlußbericht wurden sie nebeneinandergestellt. Offenbar waren sich die Gruppenmitglieder darin einig, unter den Bedingungen des gegenwärtigen Wirtschaftssystems von einem ökologisch richtigen gegenüber einem falschem Konsumverhalten auszugehen. Wird dabei nicht außer acht gelassen, daß, wie Kritiker des kapitalistischen Systems einwenden könnten, der Zwang zu Kapitalakkumulation und zunehmender Inwertsetzung die politischen Handlungsspielräume so weit einenge, daß Problemlösungen im Interesse der diesen Strukturen unterworfenen Menschen von vornherein ausgeschlossen werden?

Sabine Leidig hob hervor, daß bei der Frage nach Veränderungen des Lebensstils bzw. der Lebensweise der Suffizienz-Begriff als wichtige Bezugsgröße in das politische Feld gerückt wurde. Sie sei sehr froh, daß in der Enquetekommission nicht nur Effizienzfragen in dem Sinne, wie für bestimmte Werkstoffe Ersatz gefunden werden könne, thematisiert wurden, sondern daß viel über Suffizienz, verstanden als ein "selbstbestimmtes Weniger", gesprochen wurde, was der Degrowth-Perspektive entspräche. Angelika Zahrnt wies an dieser Stelle auf das von ihr und Uwe Schneidewind, dem Präsidenten des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, an dem auch Hermann Ott tätig ist, zur Suffizienzpolitik gemeinsam verfaßte Buch hin. [8] Abschließend stellte die Moderatorin die Frage, wie es nach der Enquetekommission mit dem Thema Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität weitergehe und aus welchen Bereichen nach Ansicht der Referenten in nächster Zukunft die Anstöße kommen würden. Aus den Parteien, dem Parlament, der Zivilgesellschaft, in verstärktem Maße der Forschung oder aus allen Bereichen zusammen?


A. Zahrnt am Rednerpult mit der Aufschrift 'Universität Leipzig' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Angelika Zahrnt
Foto: © 2014 by Schattenblick


Wer sind die entscheidenden Akteure?

Sabine Leidig erklärte, ihre Hoffnungen lägen klar auf den Bewegungsimpulsen, auf Konferenzen wie der hier in Leipzig, aber auch auf den Protesten, die auf den Straßen gegen konkrete Wachstumsprojekte stattfänden. Sie sei optimistisch, daß sich eine gegenhegemoniale Wissenschaftslandschaft so weit entwickeln werde, daß die Mainstream-Ökonomen das Feld nicht mehr allein besetzen könnten. Leidig formulierte den Wunsch, daß die hier versammelten Menschen sowie die an der Konferenz beteiligten Organisationen die in den Parlamenten wirkenden Akteure nicht rechts oder links oder sonstwo liegenlassen.

Zur Begründung erinnerte sie an den attac-Wachstumskongreß von 2010, den sie noch als attac-Geschäftsführerin mitorganisiert hatte. Im Spektrum von attac habe es eine große Rolle gespielt, zu den Parteien und den Parlamentariern auf Distanz zu gehen. Den Institutionen täte es jedoch gut, um wenigstens zu versuchen, den Degrowth-Gedanken zu entwickeln, wenn es mehr Interaktion gäbe und von außen Anforderungen an die Parlamentarier gestellt werden würden, sich gefälligst mit diesen Fragen zu beschäftigen und dazu Rede und Antwort zu stehen auf Veranstaltungen wie dieser. Es gäbe da eine ungeheure Borniertheit, so die Politikerin der Linkspartei, die unter dem Beifall der Anwesenden dafür warb, "diese Bornierten nicht abzuschreiben und nicht locker zu lassen".

Hermann Ott ging auf eine Entwicklung ein, die während der Enquetekommission begonnen habe und "cross over" genannt worden sei. Organisiert von der Heinrich-Böll-, der Friedrich-Ebert- und der Rosa-Luxemburg-Stiftung seien Mitglieder der Enquetekommission mit Vertretern der Zivilgesellschaft zusammengekommen, um zu diskutieren und die Frage weiterzuverfolgen, wie es nach dem Ende der Enquetekommission weitergehen könne. Seiner Überzeugung nach sei ein zivilgesellschaftliches Forum erforderlich, das auch die aus dem Degrowth-Diskurs kommenden Impulse aufnimmt und weiterträgt und in dem sich die Akteure der verschiedenen Bewegungen, Gruppen und Projekte treffen können, um die sozial-ökologische Transformation und gemeinsame Projekte bzw. Konzepte voranzutreiben.

Dabei gehe es um die Frage, wie sich die Gesellschaft weiterentwickeln könne und müsse. Wachstumskritische Debatten habe es schon in den 70er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts gegeben. Dies sei jetzt die dritte, und damit sie nicht wie ihre Vorgängerinnen völlig vergessen werde, müsse eine Institution gebildet werden, eine Agora zwischen Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft. Er werde sich dafür einsetzen, so Ott, daß in einer solchen Plattform auch "Interventionen gemacht werden können in die aktuelle Politik", ohne sich allerdings dazu zu äußern, wie es um die demokratische Legitimation eines solchen Gremiums bestellt wäre.

Bliebe da nicht zu problematisieren, ob sich eine mit Vorrangrechten gegenüber regulären Organen wie der Bundesregierung oder den Gesetzgebungsorganen versehene Institution zum Einfallstor für eine technokratisch-ökologische De-facto-Diktatur entwickeln könnte? Und wäre nicht ein Szenario vorstellbar, in dem zu dem vorgeblichen Zweck, die Menschheit vor sich selbst, d.h. dem anthropogenen Klimakollaps mit seinen unabsehbaren sozialen und ökologischen Folgen, zu retten, jede und jeder, die oder der die "sozial-ökologische Transformation" hinterfragt oder ihr eigene, vielleicht anderslautende Konzepte entgegenstellt, Gefahr liefe, nicht nur als Staatsfeind, sondern als Blockierer der Rettung der Menschheit sanktioniert zu werden?

Einen Begriff wie Transformation mit Etiketten wie "sozial" und "ökologisch" zu versehen, dürfte nicht ausreichen, um das Mißtrauen vieler Menschen gegen ein Projekt, bei dem sie sich mit der Regierung und den Unternehmen "in ein Boot" setzen sollen, zu zerstreuen. Und steht nicht auch zu befürchten, daß eine solche Transformation eine Sachzwangslogik befördert, die den so engagiert verfolgten Degrowth-Anliegen sogar entgegenwirken könnte? Was macht, anders gefragt, den Kapitalismus so erhaltenswert, daß er auf dem Transformationswege über sich hinaus getrieben werden sollte, anstatt ihn als Hemmnis eines herrschaftsfreien Zusammenleben, so die bislang uneingelöste gesellschaftliche Utopie früherer revolutionärer Bestrebungen, von Grund auf zu bekämpfen? Fragen dieser Art kritisch zu reflektieren und zuzuspitzen, könnte womöglich, wie als Fazit auch aus der Podiumsdiskussion zur Wachstums-Enquetekommission des Bundestages gezogen werden könnte, dem Degrowth-Diskurs zu anwachsender Stärke verhelfen.


Graffiti 'Destroy Capitalism!' - Foto: By LepoRello (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) or GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons

Kapitalismus - Teil des Problems oder Teil der Lösung?
Foto: By LepoRello (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) or GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons


Fußnoten:

[1] Bisherige Beiträge zur Podiumsveranstaltung "Was hat die Wachstums-Enquetekommission des Bundestages gebracht und wie weiter damit?" auf der Degrowth-Konferenz siehe
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:
BERICHT/049: Aufbruchtage - Januskopf und Bündnis ... (1) (SB)
BERICHT/050: Aufbruchtage - Januskopf und Bündnis ... (2) (SB)

[2] Das Sondervotum (und weitere Textbeiträge zum Thema) wurde von Ulrich Brand, Katharina Pühl und Stefan Thimmel in der Reihe "Manuskripte Neue Folge" der Rosa-Luxemburg-Stiftung unter dem Titel "Wohlstand - wie anders? Linke Perspektiven" 2013 als Broschüre herausgegeben.

[3] "Den Kuchen anders backen und verteilen. Wie könnte eine Gesellschaft ohne ökonomischen Wachstum aussehen?" Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Ulrich Brand. In: graswurzelrevolution, 43. Jahrgang, Nr. 393, November 2014, S. 3. Im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE:
GRASWURZELREVOLUTION/1431: Den Kuchen anders backen und verteilen - ein Gespräch mit Ulrich Brand

[4] Der entfesselte Kapitalismus. Karl Polanyi geißelt Profitgier und deregulierte Märkte. Die heutigen Kapitalismuskritiker sind seine Erben - und wissen es nicht. Von Rainer Hank. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.12.2014
http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftswissen/die-weltverbesserer/karl-polanyi-der-entfesselte-kapitalismus-13113650.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

[5] Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Hauptgutachten 2011, Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen WBGU, Berlin. In der "Vollversion" als PDF (4,9 MB / 420 Seiten) herunterzuladen unter:
http://www.wbgu.de/hauptgutachten/hg-2011-transformation/

[6] Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Hauptgutachten 2011, Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen WBGU, Berlin. Die "Zusammenfassung" (Zusammenfassung für Entscheidungsträger) kann als PDF (382 KB / 34 Seiten) heruntergeladen werden unter:
http://www.wbgu.de/hauptgutachten/hg-2011-transformation/

[7] Prof. Dr. Dieter Sauer studierte Nationalökonomie und Soziologie in München und ist seit 1969 als Sozialforscher am dortigen Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF) tätig. Er hat an vielen empirischen und theoretischen Auftragsforschungen mitgewirkt und deren Ergebnisse veröffentlicht. 2012 wurde sein für die Projektgruppe 5 der Bundestags-Enquetekommission Wachstum, Wohlstand Lebensqualität erstelltes Gutachten Organisatorische Revolution - Neue Anforderungen durch den Wandel der Arbeitswelt am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung publiziert.
http://www.isf-muenchen.de/publikationen/arbeitspapiere/id/24/lang/all

[8] Uwe Schneidewind und Angelika Zahrnt: Damit gutes Leben einfacher wird. Perspektiven einer Suffizienzpolitik. Oekom Verlag, München 2013. ISBN 978-3-86581-441-8


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

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14. Juni 2015


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