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BERICHT/074: Frauenrecht in Palästina - Schritt für Schritt zum großen Ziel ... (SB)


... im Kampf gegen koloniale und patriarchale Herrschaft

Veranstaltung mit Dr. Reham Alhelsi in Hamburg


Wird hierzulande über arabische Gesellschaften gesprochen, dann drängt sich auch außerhalb jener Kreise, deren rassistisches Urteil, das mit "rückständig" noch wohlmeinend umschrieben ist, ohnehin feststeht, vielen das Bild einer ausgesprochen traditionsbewußten und patriarchalischen Sozialkultur auf. Sich genauer zu informieren bedeutete vor allem auch, die Stimmen der Frauen in arabischen Gesellschaften einzuholen, um nicht zu bekräftigen, was auch in den europäischen Metropolengesellschaften nur dem Anspruch nach bewältigt wurde. Eine Gelegenheit dazu ergab sich anläßlich eines Besuchs von Frau Dr. Reham Alhelsi, die zum Internationalen Frauentag in mehreren Städten der Bundesrepublik Station machte, in Hamburg.

Die engagierte Frauen- und Menschenrechtlerin hat an der Universität Karlsruhe promoviert und arbeitet als Programmdirektorin in der Frauenorganisation Palestinian Working Women Society for Development (PWWSD) mit Sitz in Ramallah, die in allen Bereichen der Gesellschaft für den Kampf der palästinensischen Frauen um politische Teilhabe eintritt. Sie leitete ihren von der Regionalgruppe Hamburg des Deutsch-Palästinensischen Frauenvereins ermöglichten Vortrag über "Die Lebenswirklichkeit der Frauen in der palästinensischen Gesellschaft" mit einem Rückblick auf die Geschichte der Kämpfe palästinensischer Frauen ein. Sie stehen seit über 60 Jahren vor dem besonderen Problem, nicht nur mit der patriarchalischen Herrschaft palästinensischer Männer, sondern auch der politischen Unterdrückung durch den Staat Israel konfrontiert zu sein.


Im Vortrag - Foto: © 2016 by Schattenblick

Reham Alhelsi
Foto: © 2016 by Schattenblick

Im antikolonialen Befreiungskampf ...

Palästina ist ein Land mit einer bewegten Geschichte, das sich seit jeher gegen Fremdherrschaft, Ausplünderung und Unterjochung zur Wehr setzen mußte. Wie schon zu Zeiten des Römischen Imperiums zogen Jahrhunderte später auch die Kreuzritter und nach ihnen die Osmanen mit dem Schwert durch Palästina. Als Drehkreuz für den Handel in den Nahen und Mittleren Osten und mit Jerusalem als symbolstiftendem Zentrum dreier Weltreligionen war Palästina stets ein strategischer Zankapfel imperialer Großmächte gewesen. Selten, daß es zur Ruhe kam und sich auf seine eigenen Traditionen und Überlieferungen besinnen konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Sturz des Osmanischen Reiches fiel Palästina unter britisches Mandat und wurde damit zum Objekt eines Kolonialismus, der aus Sicht der weltweiten Judenverfolgung allemal legitim erschien, von den in Palästina lebenden Menschen allerdings als historische Ungerechtigkeit empfunden wurde.

Im Kampf um nationale Selbstbestimmung und gegen die Annexion ihrer angestammten Siedlungsräume durch jüdische Immigranten standen, was Alhelsi zufolge oft vergessen und verdrängt wird, Frauen und Männer Seite an Seite. Schon zur Zeit der Osmanen, die strikt eine jüdische Einwanderung nach Palästina verweigerten, erkannten die Palästinenser, daß das Fernziel zumindest der zionistisch motivierten Einwanderer die Bildung eines jüdischen Staates auf ihrem Territorium war. Ihre Befürchtung, daß dies mit der Unterdrückung und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung einhergehen könnte, fand in den programmatischen Schriften der Vordenker des politischen Zionismus unheilvolle Bestätigung.

Da viele in Deutschland lebende Juden das zionistische Siedlungsprojekt in Palästina aufgrund ihrer damals voranschreitenden Integration in die Gesellschaft des Kaiserreichs eher mit Ablehnung betrachteten, speiste sich die erste Einwanderungswelle zum Ende des 19. Jahrhunderts vornehmlich aus russischen und osteuropäischen Juden, die in ihren Ländern Pogromen und Verfolgung ausgesetzt waren. Schon damals stellten sich ihnen palästinensische Frauen entgegen, deren erste politische Aktion gegen den Bau einer jüdischen Siedlung 1893 stattfand.

Die in späteren Jahren kolportierte Behauptung, die jüdischen Einwanderer hätten den Fortschritt nach Palästina gebracht und den rückständigen Palästinensern damit die Tür in die moderne Welt geöffnet, entsprach dem gängigen Bild dieser Zeit von Palästina als einer von nomadischen Ziegenhirten oder Kleinbauern mit karger Subsistenz geprägten Region, ein ungebildeter Flecken Erde jenseits der großen westlichen Zivilisationsströme, dessen Einwohner in ewiger Fehde mit ihren Nachbarn standen und einer fatalistischen Feudalreligion anhingen. Daß dieses Bild allenfalls das Landleben in groben Zügen porträtiert, zeigt sich schon daran, daß in den großen Städten Palästinas nicht zuletzt unter dem Einfluß der Briten ein Leben mit allen Aspekten der Modernität pulsierte, mit Universitäten, automobiler Verkehrsinfrastruktur und einer weltoffenen Geisteshaltung, die den heutzutage ideologisch aufgebauschten Zwist der Religionen nicht kannte. So kleideten sich die Frauen aus dem aufgeklärten Bildungsbürgertum nach der Mode Europas und wären auf den Straßen von Berlin oder Paris in keinster Weise aufgefallen. Sie waren maßgeblich daran beteiligt, daß sich der Protest gegen den Zionismus und die britische Mandatspolitik auf legitime Formen des zivilen Ungehorsams fokussierte. Sie bildeten karitative Ausschüsse, um den Verletzten bei den Auseinandersetzungen mit der britischen Mandatspolizei und zionistischen Organisationen medizinisch zu helfen und Lebensmittelrationen an Bedürftige zu verteilen. Andere reisten durch die Städte Palästinas und sammelten Spenden für den Widerstand, was zu Verhaftungen durch die Mandatspolizei führte und auch tödliche Folgen haben konnte.


Folie aus dem Vortrag von Dr. Reham Alhelsi - Foto: 2016 by Schattenblick

Was Palästinenserinnen vereint ...
Foto: 2016 by Schattenblick

Bereits 1921 war die erste palästinensische Union der arabischen Frauen gegründet worden, die in den folgenden Krisenjahren wiederholt politische Demonstrationen gegen die Mißachtung der Rechte der palästinensischen Bevölkerung und die Begünstigung der zahlenmäßig deutlich geringeren jüdischen Einwanderer durch die britischen Mandatsherren gemäß der sogenannten Balfour-Deklaration organisierte. In ihr hatte der britische Außenminister Arthur James Balfour den Zionisten seines Landes 1917 die Unterstützung seiner Regierung für die Schaffung einer Heimstatt der Juden in Palästina zugesagt. Es waren vor allem palästinensische Frauen aus der gebildeten Mittelschicht mit säkularer Erziehung und Kenntnis der Weltpolitik, die der Widerstandsbewegung immer wieder eine politische Stimme gaben. So wurde 1929 auf einer Tagung in Jerusalem beschlossen, eine Delegation von 14 Frauen zum britischen Hochkommissar John Robert Chancellor zu entsenden, um ihm die Konferenzforderungen - Aufhebung der Balfour-Deklaration, Aussetzung der jüdischen Einwanderung nach Palästina und Entlassung des jüdischen Generalstaatsanwalts - zu überreichen. Im Anschluß an das Treffen nahm die Frauendelegation mit den restlichen Konferenzteilnehmerinnen an einer Fahrzeugkolonne teil, die vor ausländischen Botschaften einen Stopp einlegte, um gegen die britische Mandatspolitik zu protestieren.

Nicht immer blieb der Protest friedlich. Auf beiden Seiten wurde Blut vergossen. Ausgehend von der britischen Schaukelpolitik, die einesteils den Forderungen der Palästinenser nachkam, aber im Gegenzug Sonderkonditionen mit den Zionisten aushandelte, was ein Klima gegenseitigen Mißtrauens schuf, entluden sich entlang ethnischer Linien Gewaltausbrüche, die in dieser Art in Palästina unbekannt waren. Dann reichten schon leiseste Gerüchte oder gestreute Falschinformationen, um Blutbäder wie das Massaker von Hebron 1929 anzuzetteln, das um so tragischer war, als Dutzende alteingesessener Juden dem aufgehetzten Mob zum Opfer fielen. Daß der überwiegende Teil der lokalen jüdischen Gemeinde dennoch gerettet wurde, verdankte sich dem Mut vieler palästinensischer Familien, die Juden bei sich zu Hause versteckt hielten und damit unterstrichen, daß der arabische Nationalismus erst mit dem Bau zionistischer Wehrdörfer und der planmäßigen Verdrängung von Palästinensern aus ihren Siedlungsgebieten eine Dynamik annahm, die auch von der britischen Kolonialmacht nicht mehr zu zügeln war.

Daß die britische Kolonialmacht den schwelenden Konflikt anheizte, zeigt das Beispiel des Feldmarschalls Edmund Allenby, der als Kommandeur der alliierten Truppen auf dem Sinai und in Palästina im Dezember 1917 Jerusalem eroberte und dabei die Worte gesprochen haben soll, jetzt sei der Kreuzzug beendet. In den Augen der Palästinenser galt er als verhaßte Symbolfigur des Kolonialismus. Als Allenby im April 1933 Jerusalem besuchte, zogen Frauen aus ganz Palästina in einer Protestkundgebung zu den heiligen Stätten der Stadt. Die Muslimin Tarab Abdel Hadai hielt eine Rede vor der Grabeskirche, während die Christin Matiel Mogannem zu den anwesenden Menschen am Felsendom sprach. Dies erregte keineswegs Mißfallen, weil die Religionszugehörigkeit als arabische Muslime und Christen in dem Selbstverständnis des palästinensischen Volkes keine Rolle spielte. Beide Frauen erhoben ihre Stimme gegen den Terror zionistischer Untergrundorganisationen wie Irgun und die Stern-Truppe und warnten vor Plänen, die einheimische palästinensische Bevölkerung durch den Zuzug weiterer jüdischer Siedler zu ersetzen.

Eine weitere Etappe des politischen Widerstands palästinensischer Frauen gegen die britische Bevormundung und den illegalen Transfer arabischer Gebiete an jüdische Einwanderer war die erste arabische Frauenkonferenz zur Unterstützung Palästinas im Oktober 1938 in Kairo, zu der Delegierte aus Palästina, Syrien, Ägypten, dem Irak, Libanon und Iran kamen. Sie rief zur Unterstützung des palästinensischen Aufstands, der Freilassung von palästinensischen politischen Gefangenen und zum Boykott britischer Produkte auf. Als der Landraub und die Anschläge in den 30er Jahren Palästina in einen Bürgerkrieg trieben, traten immer mehr palästinensische Frauen in den bewaffneten Kampf. Überwiegend rekrutierten sie sich aus der ländlichen Bevölkerung, die bewaffneten Angriffen zumeist schutzlos ausgeliefert war, während die Palästinenserinnen in den großen Städten wie Jerusalem, Ramallah oder Jaffa ihren Widerstand gegen die Okkupation in politischen Kundgebungen organisierten.

Seitdem hat die Geschichte Fakten geschaffen, die nicht wegzuleugnen sind und um so schwerer wiegen, als die israelische Besatzung und Siedlungspolitik der Gründung eines eigenständigen palästinensischen Staates schier unüberwindliche Hindernisse in den Weg stellen. Vor diesem Hintergrund hat sich die Situation der Frauen in Palästina in doppelter Hinsicht erschwert. Sie sind zum einen Übergriffen durch israelische Soldaten ausgesetzt und zum anderen mit einer palästinensischen Gesellschaft konfrontiert, in der Parteien wie die Hamas und Fatah eine Politik verfolgen, die die Emanzipationsbestrebungen der palästinensischen Frauen nur unter Vorbehalt dulden. Wurde der Widerstand der Palästinenser in den 20er, 30er und 40er Jahren zu einem nicht unerheblichen Teil von Frauen mitgetragen, so erfolgte dies unter den Umständen einer noch weitgehend funktionierenden Vergesellschaftung, deren soziale und Klassenproblematik sich nicht grundlegend von denen anderer arabischer Bevölkerungen unterschied. Heute ist die palästinensische Gesellschaft von Kriegstraumata, Landraub, Besatzungsschikanen, materiellen Entbehrungen wie auch Korruption und Parteienkonkurrenz in den eigenen Reihen so schwer gezeichnet, daß die Frage der Geschlechtergerechtigkeit nur vor dem Hintergrund einer doppelten Unterdrückung patriarchalischer und kolonialistischer Art gestellt werden kann.


Folien aus dem Vortrag von Dr. Reham Alhelsi - Foto: 2016 by Schattenblick Folien aus dem Vortrag von Dr. Reham Alhelsi - Foto: 2016 by Schattenblick

Aus der Arbeit der Palestinian Working Women Society for Development (PWWSD)
Foto: 2016 by Schattenblick

... bleibt Geschlechtergerechtigkeit eine unabgegoltene Aufgabe

Hier stellen sich der Palestinian Working Women Society for Development (PWWSD), die sich 1981 gegründet hat und als eine der größten palästinensischen Frauenorganisationen gilt, höchst anspruchsvolle und schwer zu bewältigende Aufgaben. Als nationale feministische Basisbewegung setzt sie sich für eine freie und demokratische Gesellschaft, die Gleichstellung der Geschlechter, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit und gegen jegliche Diskriminierung von Frauen ein. Ihr Bestreben ist es, Frauen verstärkt in politische und gesellschaftliche Entwicklungsprozesse einzubinden und durch psychosoziale Beratung, Kooperationen, Kampagnen und Aufklärungsarbeit Voraussetzungen für ihre wirtschaftliche Selbständigkeit und rechtliche Autonomie zu schaffen. Die PWWSD sorgt dafür, daß der Mindestlohn eingehalten wird und berufstätige Frauen in formellen und informellen Sektoren, aber auch Entscheidungsträgerinnen in politischen Parteien und Gemeinderäten zu souveränen Mitgliedern der palästinensischen Gesellschaft werden. Ein weiteres Augenmerk ist dabei auf jene Frauen gerichtet, die ihre Kinder nur notdürftig versorgen können, weil ihre Männer in israelischen Gefängnissen sitzen oder bei Kriegshandlungen getötet wurden. Gemeindezentren der PWWSD in Nablus, Tulkarim, Bethlehem, Yatta und Gaza dienen palästinensischen Frauen als sichere Orte, wo sie sich treffen und diskutieren können und Unterstützung und kostenlose juristische Hilfe erhalten.

In dem Vortrag stellte die Referentin die umfangreichen Programme und Bildungsaktivitäten der PWWSD, die im Unterschied zu vielen anderen NGOs sowohl in der Westbank als auch im Gazastreifen tätig ist, detailliert vor. Ihre Organisation setzt sich aus 54 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusammen, vier Männer - ein Sprachtherapeut und drei Angestellte in der Finanzabteilung - und 50 Frauen. Sie werden unterstützt von mehreren hundert Volontären beiderlei Geschlechts.

Frau Alhelsi war in ihrer Präsentation sichtlich darum bemüht, für ein überwiegend deutsches Publikum eine Sprache zu finden, die Sachlichkeit und Betroffenheit miteinander in Einklang bringt. Es blieb den Zuhörerinnen und Zuhörern überlassen sich vorzustellen, was es noch alles bedeutet, wenn Frauen befähigt werden sollen, ihre staatsbürgerlichen Rechte besser zu verteidigen oder wenn vom Aufbau von Frauenführungsfähigkeiten in den Gemeinderäten und im öffentlichen Sektor gesprochen wird. So besteht kein Zweifel, daß die PWWSD keine herkömmliche Frauenberatungsstelle ist und Emanzipation vor allem im politischen Raum verwirklicht werden muß. Dazu gehört, Frauen in der Gesamtheit ihrer Persönlichkeit und Interessen mitzunehmen und, wie Frau Alhelsi deutlich machte, notfalls auch Hausbesuche zu machen oder Rechtshilfe bei Scheidungsprozessen zu leisten.


Reham Alhelsi und Moderatorin auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Bei der Diskussion mit Moderatorin Brigitte
Foto: © 2016 by Schattenblick

So hat die PWWSD 2012 bei den letzten lokalen Wahlen in der Westbank mit 170 Frauen zusammengearbeitet und sie dazu ermutigt, nicht nur zu wählen, sondern sich auch für die Wahl als Gemeinderatsmitglieder aufstellen zu lassen. Fast 80 Prozent dieser Frauen wurden später gewählt und üben jetzt ein politisches Amt aus. Auf Druck von Frauenorganisationen und nach einer zweijährigen Kampagne der PWWSD wurde festgelegt, daß 20 Prozent aller Sitze in den Gemeinderäten durch Frauen zu besetzen sind. Im letzten Jahr gab die Palästinensische Autonomiebehörde die Empfehlung heraus, diese Quote auf 30 Prozent zu erhöhen. Mit der Umsetzung hapert es allerdings der Referentin zufolge, nicht zuletzt, weil die palästinensische Gesellschaft noch nicht ausreichend für Fragen der Gleichberechtigung und den feministischen Diskurs sensibilisiert sei.

Das äußert sich auch darin, daß immer wieder versucht werde, Frauen, die in Gemeinderäte gewählt wurden, von der politischen Arbeit auszuschließen, indem ihnen beispielsweise die Gelegenheit genommen wird, sich an den Entscheidungsprozessen der Räte zu beteiligen. Um diese Mißstände zu überwinden, hat die PWWSD die Bildung sogenannter Schattenräte angeregt, die ausschließlich aus Frauen bestehen und nur von Frauen gewählt werden. Sie haben die Aufgabe, Unterstützungsstrukturen für die Gemeinderätinnen zu schaffen. Mittlerweile wurden 62 Schattenräte zumeist in Gemeinden gegründet, in denen viele Menschenrechtsverletzungen von seiten der israelischen Armee und der Siedler vorkommen.

Nach anfangs schwierigen Gesprächen mit den Vorsitzenden der Gemeinderäte können die Frauen aus den Schattenräten inzwischen an den Sitzungen der Räte in 22 Gemeinden teilnehmen und Fragen stellen, haben aber kein Abstimmungsrecht. Dennoch ist der Referentin zufolge vieles erreicht worden, von der Stärkung der Frauen im Widerstand bis zu Maßnahmen wie den Nachtschutzkomitees gegen Siedlerüberfälle, der Erhaltung von Landstraßen, dem Anbringen von Straßenbeleuchtungen, dem Bau neuer Wasserleitungen und Schulen und vieles mehr. Für Frau Alhelsi stellt sich dies als Erfolgsgeschichte dar, weil die Schattenräte einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Teilhabe von Frauen am gesellschaftlichen Prozeß markieren. Auf diese Weise könnten Frauen wertvolle Erfahrungen für eine künftige Kandidatur auf der Ebene der Kommunal- und Parlamentswahlen sammeln und so den Stimmen der Frauen mehr Gewicht verleihen. Für die nächsten Kommunalwahlen 2017 arbeitet die PWWSD intensiv in Form von Workshops und Trainings mit den Frauen aus den Schattenräten zusammen.

Frau Alhelsi sprach auch über jene Palästinenser, die im Westjordanland nach wie vor eine halbnomadisierende Lebensweise praktizieren, aber durch den Mauerbau in ihren Bewegungsmöglichkeiten beschnitten und die vordringenden israelischen Siedlungen massiv von Vertreibung bedroht werden. Immer wieder kommt es vor, daß Siedler nachts Zelte anzünden oder auf die Herden schießen. Das hätte dazu geführt, daß die Kinder Angst vor dem Einschlafen haben. Überhaupt seien Kinder, ob in der Westbank oder im Gazastreifen, durch die wiederkehrenden israelischen Militärangriffe in hohem Maße traumatisiert. Die Zahl der Kinder mit Sprechstörungen wachse kontinuierlich. Um dagegen zu intervenieren, bietet die PWWSD seit 2010 eine kostenlose Sprechtherapie in Gaza an, die um so wichtiger ist, als mehr als 90 Prozent der Eltern sich ansonsten die hohen Behandlungskosten nicht leisten könnten. Diese Einrichtung wurde durch den Einsatz der PWWSD-Partnerin FrauenWegeNahost, die in die Frauenfriedenskooperative Nordrhein-Westfalen integriert ist, und ihr Projekt 'Hoffnungsvögel' ermöglicht. Laut einer Fachumfrage benötigen in Gaza jährlich rund 4000 Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren eine Sprechtherapie. Da die Geldmittel jedoch nur für die Einstellung eines einzigen professionellen Sprechtherapeuten reichen, können pro Tag nur sieben Kinder behandelt werden. Dennoch kommen täglich im Schnitt 20 betroffene Kinder nach Gaza, weil die PWWSD als einzige Organisation diese Therapieform kostenlos zur Verfügung stellt.

Eine Befreiung Palästinas ist für Frau Alhelsi ohne eine Befreiung der Frauen nicht denkbar. Neben der gesellschaftlichen Emanzipation müsse auch daran gearbeitet werden, die ökonomische Situation der Frauen zu verbessern. Hier engagiert sich die PWWSD auf den Feldern Produktionsentwicklung und Marketing und hat trotz der erschwerten Bedingungen in den besetzten Gebieten einige Frauengenossenschaften mitaufgebaut. In speziellen Ausschüssen wird darüber hinaus Lobbyarbeit geleistet und die Umsetzung des Mindestlohngesetzes überwacht. Höchste Priorität aber genießt für die NGO der Kontakt zur Basis und die Arbeit vor Ort, weil eine maßgebliche Veränderung der Gesellschaft nur von unten beginnen kann und von dort auch ihre Kraft bezieht.

Im Diskussionsteil der Veranstaltung machte Frau Alhelsi nochmals deutlich, daß die PWWSD praktisch in jedem Dorf und in jeder Gemeinde Kontaktpersonen besitzt, mit denen sich ihre Kolleginnen ständig austauschen. Die einzige Ausnahme bildet Jericho, wo es 2013 zu einem Zwischenfall gekommen war, als Mitarbeiterinnen dort über Frauenrechte referieren wollten. Einige Männer aus der Moschee empörten sich darüber unter dem Vorwurf, diese Art von westlicher Propaganda ließe sich nicht mit der palästinensischen Tradition vereinbaren. Jedenfalls wurden die Kolleginnen unsanft aus der Stadt hinauskomplimentiert. Das war nicht nur eine Attacke gegen die PWWSD und andere Frauenorganisationen, die dort von seiten der Fundamentalisten dasselbe erlebt hatten, sondern auch ein Angriff auf alle palästinensischen Menschenrechtsorganisationen.

Der Anteil palästinensischer Frauen in den Widerstandsbewegungen ist trotz der Islamisierungswelle nicht geringer geworden. Es gibt eine Partei mit einer Generalsekretärin, die Stadträtin von Ramallah ist eine Frau, und auch die Regierungsparteien Hamas und Fatah sind durch Ministerinnen und Parlamentarierinnen vertreten. Viele Entwicklungshemmnisse rühren jedoch von der israelischen Besatzung her. So verbietet Israel jedweden Warenverkehr zwischen dem Gazastreifen und der Westbank, was die Wirtschaft in Gaza weitgehend lahmlege. Daß alle Herausforderungen der Zukunft dennoch zu meistern sind, ist für Frau Alhelsi unstrittig, denn die palästinensische Frau habe in der wechselvollen Geschichte ihres Landes gelernt, sich nicht unterkriegen zu lassen.


Reham Alhelsi - Foto: © 2016 by Schattenblick

Unentbehrlicher Beitrag zum Internationalen Frauentag
Foto: © 2016 by Schattenblick

Wenn die Männer einer seit Jahrzehnten kolonialistisch beherrschten Gesellschaft, die zu großen Teilen von externer Hilfe abhängig ist, in ihrer traditionellen Machtposition geschwächt sind und immer wieder Demütigungen und Inhaftierungen über sich ergehen lassen müssen, laufen Frauen Gefahr, auch noch zur Zielscheibe der daraus erwachsenden Aggressionen zu werden. Dennoch haben sie die Möglichkeit, im antikolonialen Kampf über sich hinauszuwachsen und dabei zugleich die patriarchale Ordnung zu erschüttern. Die Schmerzen, die sie verspüren, wenn ihre Kinder durch die Bombardements und ohrenbetäubenden Tiefflüge israelischer Kampfjets wie auch durch die materiellen Entbehrungen, die die Besatzungspolitik zumindest in Gaza erzeugt, jede Lebensfreude verlieren, wenn die Jugendlichen bei vergeblichen Versuchen, in ihrer Hoffnungslosigkeit gegen die Besatzungsmacht aufzubegehren, eingeknastet, verstümmelt oder umgebracht werden, sind die Folgen einer militärischen Gewalt, die seit jeher die Handschrift maskuliner Eroberung und Selbstherrlichkeit trägt. Wenn heute Frauen wie die US-amerikanische Politikerin Hillary Clinton, um nur ein allerdings sehr prominentes Beispiel zu nennen, Kriege im Namen der Frauenbefreiung gutheißen, deren imperialistischer Zweck unbestreitbar ist und denen Frauen und Kinder in großer Zahl zum Opfer fallen, dann handelt es sich nicht um Vorbilder gelingender Emanzipation, sondern um Beispiele für die erfolgreiche Adaption patriarchalischer Herrschaft.


Veranstaltungsplakat am Curio-Haus - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: 2016 by Schattenblick


30. März 2016


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