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BERICHT/107: Naturbegriffe - die immer gleichen Absichten ... (SB)


Die Eroberung des Landes durch einen europäischen Staat oder auch nur die Ansiedlung einiger europäischer Handelskolonien in diesen Ländern hat sehr bald zur Folge eine gewaltsame Abschaffung des Gemeineigentums an Grund und Boden, die Zerteilung und Zerstückelung des Grundeigentums in Privateigentum, die Wegnahme der Viehherden, die Umkrempelung sämtlicher hergebrachter Verhältnisse der Gesellschaft, nur daß das Resultat dabei meistens nicht, wie wir angenommen haben, die Verwandlung der kommunistischen Gemeinde in eine Gesellschaft freier Privatproduzenten mit Warenaustausch ist. Denn das aufgelöste Gemeineigentum wird nicht zum Privateigentum der Eingeborenen, sondern zum gestohlenen und geraubten Gut der europäischen Eindringlinge gemacht, und die Eingeborenen selbst, die ihrer alten Existenzformen und Existenzmittel beraubt sind, werden entweder zu Lohnsklaven oder einfach zu Sklaven der europäischen Kaufleute gemacht oder aber, wo beides nicht angängig - direkt ausgerottet.
Rosa Luxemburg - Einführung in die Nationalökonomie, 1916 [1]


Auch hundert Jahre nach der Hochzeit des europäischen Kolonialismus ist das Verhältnis zwischen den Kernstaaten der kapitalistischen Welt und der Peripherie des Globalen Südens von Gewaltverhältnissen bestimmt, die alle Merkmale einer brutalen Ausbeutungs- und Aneignungsökonomie aufweisen. Kolonialismus und Imperialismus haben zwar ein freundlicheres Gesicht aufgesetzt, das die blutigen Folgen des globalen sozialen Krieges als unbeabsichtigte, leider notgedrungen in Kauf zu nehmende Folgewirkungen seiner Akkumulationsdynamik darstellt. Doch am unteren Ende, wo den anwachsenden Unwerten schuldengetriebener Verfügungsgewalt das nie zureichende Minimum materieller Wertproduktion zugrundegelegt werden soll, werden Mensch und Natur auf eine Weise zu bloßen Objekten geldvermittelter Tauschprozesse gemacht, die nichts vom Schrecken kolonialistische Raubzüge verloren haben.

Erstreckte sich die Ausweitung kapitalistischer Eigentums- und Produktionsverhältnisse damals über die klassengesellschaftliche Formation hinaus auf ein territorial für diese Aneigungsformen noch nicht erschlossenes Außen, wie Rosa Luxemburg im Anschluß an Karl Marx beschrieb, so unterwirft die von ihr als permanent diagnostizierte ursprüngliche Akkumulation heute fast alle Gesellschaften dem Diktat alter wie neuer Eigentumstitel, Privatisierungsprozesse und Verwertungstechniken. Während die Aneignung nichtkapitalistischer Produktionsmittel in der Theorie der Neuen Landnahme bislang nicht in Lohnarbeit verwandelte und zumeist von Frauen verrichtete Tätigkeiten in Haus und Familie betrifft, richten sich die Strategien extraktivistischer Rohstoffproduktion oder agroindustrieller Landnahme gegen sozial unterprivilegierte Minderheiten, bei denen es sich häufig um ohnehin ausgegrenzte indigene Bevölkerungen handelt.

Die Vertreibung indigener Bevölkerungen vom Boden ihres Lebenserhaltes und die Verwandlung ihrer Arbeitskraft in eine frei verfügbare Ware findet heute allerdings in einer Verwertungskrise statt, aufgrund derer sich der Kapitalismus nicht mehr durch die Ausbeutung von Arbeit reproduzieren, also auch keine neuen Arbeitskräfte zu einem Lohn, der die Erfüllung aller elementaren Bedürfnisse garantierte, aufnehmen kann. Wie Ureinwohner in aller Welt zugunsten nationalökonomisch bedeutender Rohstofferträge entrechtet und mit höchst destruktiven Umweltschäden konfrontiert werden, stand im Mittelpunkt der Anklagen, die auf dem International Rights of Nature Tribunal am 7. und 8. November in Bonn erhoben wurden.


Projektion 'Stand together against the pipeline!' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick


Der Kampf der WasserschützerInnen in Standing Rock

Dabei spielt die gewaltsame Durchsetzung des herrschenden Eigentumsrechts eine zentrale Rolle, wie der Kampf der Standing Rock Sioux gegen den Bau einer unterirdischen Ölpipeline zeigt, die die Trinkbarkeit ihres Wassers und die spirituelle Integrität ihres Landes bedroht. Neben zwei weiteren Fällen, die nordeuropäische Sami und eine indigene Gemeinschaft in der Russischen Föderation betrafen, ging es im Komplex "VerteidigerInnen von Mutter Erde" um die Verletzung indigener Rechte und der Rechte der Natur beim Bau der Dakota Access Pipeline (DAPL). Dieser Streit wurde im Februar 2017 durch ein Dekret des amtierenden US-Präsidenten Donald Trump allen Einwänden rechtlicher und ökologischer Art zum Trotz zugunsten des Pipelinebetreibers Energy Transfer Partners (ETP) entschieden.

Für die dagegen vorgehenden indigenen AktivistInnen wie ihre UnterstützerInnen ist der Kampf auch deshalb nicht beendet, weil sie nun mit Strafprozessen überzogen werden, die ihren Widerstand auch noch im Nachhinein delegitimieren sollen. Dabei wurde der Bau der Pipeline mit derart massiver Gewalt staatlicher Exekutivorgane und privater Sicherheitsfirmen durchgesetzt, daß die Bekämpfung eines Teils der US-Bevölkerung durch die eigene Regierung alle Anzeichen eines inneren Kolonialismus aufwies. Von nichts anderem gehen Native Americans allerdings auch in der alltäglichen Benachteiligung aus, blicken sie doch auf eine Geschichte der Enteignung und Unterwerfung zurück, die den Anspruch auf Gerechtigkeit schon dadurch konterkariert, daß von den 400 Verträgen, die zwischen ihnen und den Vereinigten Staaten abgeschlossen wurden, nicht einer gehalten wurde.


Dallas Goldtooth am Rednerpult auf dem Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Bericht aus Standing Rock an das Rights of Nature Tribunal
Foto: © 2017 by Schattenblick

Wurde den Anwesenden im LVR LandesMuseum mit der Schilderung der schwerwiegenden Schäden, die das Öl aus Fracking- und Tar Sands-Produktion und Bau wie Betrieb der zu seinem Transport errichteten Pipelines anrichten, eindringlich vor Augen geführt, welche Zerstörungskraft der fossilen Rohstoffproduktion von vornherein innewohnt, so illustriert das Ausmaß der gegen den friedlichen Protest in Standing Rock gerichteten Gewalt die Unversöhnlichkeit einer Gesellschaft, die den beliebigen Verbrauch natürlicher Ressourcen und die Externalisierung der dabei anfallenden sozialökologischen Kosten als eine Art exklusives Privileg der Dazugehörigen zu verstehen scheint.

Nicht zu den selbsterklärten Nutznießern der Renten- und Ressourcenökonomie US-amerikanischer Prägung gehören Menschen wie Dallas Goldtooth, der ausführlich über den destruktiven Charakter der DAPL berichtete, und Kandi Mossett, die eine hochemotionale Rede über die gegen sie gerichtete Repression hielt. Beide AktivistInnen sind im Indigenous Environmental Network (IEN) organisiert, das mit einer Delegation bei dem Rights of Nature Tribunal sowie verschiedenen Treffen und Veranstaltungen während des COP 23 in Bonn vertreten war.

Die über vier Bundesstaaten unterirdisch verlaufende, fast 1900 Kilometer lange Dakota Access Pipeline hat eine Transportkapazität von fast 600.000 Barrel täglich. Die davon ausgehende Gefahr für Mensch und Natur ist durch die Leckagen, die bislang alle Pipelines hatten, gut belegt. Wenn eine solche Pipeline kurz vor Eintreffen des Missouri an der Standing Rock Reservation unter dem Flußbett hindurchgeleitet werden soll, sind die Bedenken der betroffenen Sioux nicht nur angesichts ihrer besonderen spirituellen Verbindung zu Wasser und Land mehr als nachvollziehbar.

Eine solche Pipeline zu bauen bedarf in den USA, sofern keine internationale Grenze überschritten wird, keiner Genehmigung durch die Bundesregierung. Die jeweilige Erlaubnis der Gliedstaaten wie in diesem Fall North Dakota einzuholen ist für die großen Akteure im Öl- und Gasgeschäft ein geringes Problem, zudem bei solchen Bauvorhaben keine öffentlichen Erörterungen vorgeschrieben sind. Zwar wurde in den letzten Monaten der Amtszeit Präsident Obamas aufgrund der Proteste die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung (Environmental Impact Assessment - EIA) eingeleitet, doch das damit beauftragte Army Corps of Engineers verzichtete darauf, nachdem es von seinem Nachfolger Trump dazu ermächtigt wurde. Überprüfungen dieser Art werden schon bei kleinen Bauvorhaben geltend gemacht, aber für ein Megaprojekt der fossilen Industrie könnten die regulatorischen Hürden kaum niedriger sein.

Monatelang ununterbrochen unter Beobachtung der Polizei, die permanente Präsenz ihrer Hubschrauber am Himmel, Angriffe mit Hunden, Wasserwerfern bei Minustemperaturen, mit Pfefferspray, Blendgranaten und Hartgummigeschossen - in der Sprache der Behörden "less than lethal" (noch nicht tödlich) - lautete die unmißverständliche Antwort des Staates auf den Protest friedlicher Menschen, die Land und Wasser, Kultur und Tradition verteidigen wollten. Einige von ihnen verloren Gliedmaße durch explodierende Schockgranaten oder Augen durch gezielt ins Gesicht geschossene Hartgummimunition.


Auf dem Podium mit Banner 'Water Is Life' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Wasserschützer Dallas Goldtooth
Foto: © 2017 by Schattenblick

Während der Proteste, so Dallas Goldtooth, wurde im Bett der geplanten Pipeline eine alte Grabstätte entdeckt. Der darüber informierte Staat North Dakota sollte den Ort untersuchen, um die Erkenntnisse der Archäologen und Stammeshistoriker zu bestätigen. Weil dessen Emissäre aber erst nach zwei Tagen an den Ort kamen, hatte Dakota Access LLC, das mit dem Bau beauftragte Subunternehmen des Pipelinebetreibers ETP, den Ort bereits mit Bulldozern so sehr zerstört, daß es nichts mehr zu untersuchen gab.

Der Staat North Dakota war ohnehin auf der Seite der Ölindustrie positioniert. So wurde die wichtigste Straße in die Standing Rock Reservation sechs Monate lang blockiert. Dadurch war die wichtigste Einkommensquelle des Stammes, das Casino, so schwer zu erreichen, daß kaum noch Kunden kamen. Aus seinen Einkünften werden die Sozialleistungen der Mitglieder des Stammes entnommen, daher ist der Verdacht, mit der Blockade sollte Druck auf die Bevölkerung der Reservation ausgeübt werden, nicht von der Hand zu weisen. Zudem wurden alle medizinischen Notfalldienste durch die Maßnahme behindert, dauerte die zuvor 20minütige Fahrt zum Krankenhaus nun doch anderthalb bis zwei Stunden.

Fast 800 WasserschützerInnen wurden verhaftet. Dabei war die ihnen auch aus Kreisen der weißen Mehrheitsgesellschaft gewährte Unterstützung so groß, daß das Protestcamp Oceti Sakowin bisweilen zur zehntgrößten Stadt North Dakotas anwuchs. In Standing Rock fand die größte Solidarisierung unter und mit Indigenen statt, an die sich die meisten Menschen überhaupt erinnern können. Stammesdelegationen aus Nord- und Lateinamerika wie Afrika als auch der nordeuropäischen Sami reisten in die Reservation und tauschten sich untereinander aus, denn der indigene Kampf ums Wasser findet an vielen Orten der Welt statt.


Am Rednerpult vor Projektion - Foto: © 2017 by Schattenblick

Kandi Mossett vor dem Symbol der Mandan-Hidatsa-Arikara Nations
Foto: © 2017 by Schattenblick


Kein Ende der Demütigung indigener Menschen in Sicht

Kandi Mossett, mit indigenem Namen "Adlerfrau", stellte sich als Mitglied der Mandan-Hidatsa-Arikara Nations vor. Diese Stämme leben in der Extraktionszone, in der das Öl, das durch die Pipeline fließt, per Fracking gefördert wird. Sie erinnerte daran, daß das Leben in den fünf Reservationen North Dakotas auch vor dem Bau der DAPL durch staatliche Eingriffe in die Natur stark beeinträchtigt wurde. So wurde der Missouri 1944 im Rahmen des Flood Control Acts, auch bekannt als das Pick-Sloan Missouri Basin Program, mit fünf großen Dämmen aufgestaut. Diese befanden sich jeweils unterhalb einer Reservation und überfluteten deren Gelände. Damit wurde den bereits weitreichend enteigneten Stämmen nicht nur noch mehr ihres ursprünglich vertraglich zugesicherten Bodens genommen, sondern auch ihre ökonomische Grundlage, der für den Anbau von Feldfrüchten genutzte Ackerboden, zerstört.

Die Reservation Fort Berthold, aus der Kandi Mossett stammt, war ursprünglich 49.000 Quadratkilometer groß und wurde durch diverse Maßnahmen auf weniger als 4000 Quadratkilometer reduziert. Die Stämme der Mandan, Hidatsa und Arikara, die seit vielen Jahrhunderten in der Region leben, waren bereits 1860 gegen ihren Willen umgesiedelt worden. Der dagegen geleistete Widerstand wurde blutig niedergeschlagen, ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, und dort, wo sie einst standen, befinden sich nurmehr die Grabstätten der dabei umgebrachten Menschen. Das alles fand statt, bevor die Pipeline gebaut und Wasser, Boden und Luft durch das Fracking im Bakken-Ölfeld in North Dakota vergiftet wurde.

Gefrackt wird seit 2006. Anfangs wurde das dabei geförderte Gas abgefackelt, anstatt es zu nutzen, was die Kinder der dort lebenden Stämme mit der Zerstörung ihrer Gesundheit bezahlten. Das Fracking verursachte zudem erhebliche Quecksilberkontaminationen in den Flüssen und Seen North Dakotas. Hinzu kam die Belastung durch den Transport des Öls über Land per Zug und LKW, was immer wieder zu Unfällen mit der Folge umfassender Ölkontamination führte. Doch die Ölindustrie zerstörte die indigenen Gemeinschaften nicht nur auf ökologische, sondern auch soziale Art und Weise, so Kandi Mossett. Massiv anwachsende Prostitution und Gewaltverbrechen, viele Vergewaltigungen zum Teil minderjähriger Frauen, Drogendelikte und Alkoholismus waren die Symptome einer sozialen Malaise, die schon ein Jahrzehnt vor dem Bau der Pipeline um sich griff.


Kandi Mossett vor Kartenprojektion - Foto: © 2017 by Schattenblick

Auseinandersetzungen im Missouri River Basin
Foto: © 2017 by Schattenblick

Seit 2014 haben die Standing Rock Sioux vergeblich Einwände gegen den Bau der DAPL geltend gemacht. 2016 schließlich wurde des Nachts mit dem Bau begonnen, nachdem die Route in ihrem ursprünglich geplanten Verlauf von der Hauptstadt Bismarck, zu 93 Prozent von Weißen bewohnt, weg in Richtung Reservat verlegt worden war. Dort wollte man die Pipeline nicht, weil befürchtet wurde, daß sie das Grundwasser der Stadt durch die zu erwartenden Leckagen vergiften könnte. Erst danach wurde sie in unmittelbare Nähe der Standing Rock Reservation verlegt, was der ehemalige Mitstreiter Martin Luther Kings, Jesse Jackson, bei einem Besuch dort als eklatanten Fall von "ökologischem Rassismus" bezeichnete.

Es seien die Frauen gewesen, die im Sommer 2016 als erste die Zäune niederrissen und über die Felder liefen, um die Maschinen der Pipelinebauer zu besetzen, erzählt Kandi Mossett und stößt einen traditionellen Kriegsruf aus. Innerhalb von zwei Tagen kamen 200 UnterstützerInnen in die entlegene Region. In dem von riesigen Komplexen der agroindustriellen Landwirtschaft und Rinderzucht bestimmten Mittleren Westen der USA kommen sich die 750.000 Einwohner eines Staates wie North Dakota, dessen Fläche halb so groß ist wie die Bundesrepublik, normalerweise kaum in die Quere. Von daher haben einige hundert Menschen, die sich einer administrativen Maßnahme in den Weg stellen, ein ganz anderes Gewicht als in einem urbanen Zentrum. Viel Aufsehen erregte daher auch der Protest der Sioux in Bismarck, wo sie mit Bannerdrops von Brücken und einer Kanuaktion mit Kindern gegen die Vergewaltigung ihres Landes demonstrierten.

Im Oktober 2016 wurde das erste Widerstandscamp gewaltsam geräumt, und alle Versuche, den bewaffneten, paramilitärischen Kräften der Nationalgarden und Polizeikräfte aus sieben Bundesstaaten mit friedlichen Mitteln entgegenzutreten, konnten den fortschreitenden Bau der Pipeline nicht aufhalten. Auch Kandi Mossett berichtet über die schweren Verletzungen, die durch den Beschuß mit Hartgummigeschossen in den Bauch, ins Gesicht und in den Rücken entstanden. Der Staat setzte sein ganze Arsenal aus gepanzerten Fahrzeugen, Räumungsgerät, Hubschraubern, Überwachungssystemen, angeblich "nichttödlichen" wie scharfen Waffen ein, um die WasserschützerInnen daran zu hindern, Heilungszeremonien durchzuführen oder andere Formen des zivilen Widerstands auszuüben. Um die Dokumentierung der Polizeigewalt durch Drohnen zu verhindern, wurde eine No-Fly-Zone eingerichtet, die natürlich nicht für Polizei und Sicherheitsunternehmen galt.

Freizügigkeit für die Exekutive und Kriminalisierung des Protestes sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Gewaltenteilung findet nurmehr zwischen Regierung und Bevölkerung statt. Während erstere über fast unbegrenzte Handlungsvollmachten und die sie legitimierende Definitionshoheit gebietet, bleibt den KritikerInnen ihres Gewaltmonopols nur die Freiheit, nichts zu tun und damit ihrer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen.


Kandi Mossett am Rednerpult - Foto: © 2017 by Schattenblick

Bericht aus dem Innern der Widerstandsbewegung
Foto: © 2017 by Schattenblick

Ihre Leute werden fortwährend vergewaltigt von einem System, das uns als Indigene sowieso niemals wollte, klagt Kandi Mossett die Vereinigten Staaten an. Schon deren Gründung basiere auf der Vergewaltigung und Ausplünderung ihrer Ureinwohner, und Standing Rock zeige, daß das immer noch geschieht. Wir kämpfen für die, die keine Stimme haben, denn meine kleine Tochter kann die Frage, ob sie in 50 Jahren noch Wasser haben wird, noch gar nicht aussprechen, so die junge Mutter. Sie erklärt, daß Frauen insbesondere deshalb angegriffen werden, weil sie in indigenen Kulturen die Aufgabe der Wasserschützerin innehaben. Man müsse etwas tun, um dem geradezu körperlichen Schmerz, den sie angesichts der angerichteten Zerstörung verspüren, Einhalt zu gebieten. Doch wer etwas tut, läuft Gefahr, auf übelste Weise mißhandelt zu werden. So berichtet Mossett von einer jungen Frau, die sich in der Polizeistation vollständig entkleiden mußte, um sich unter Anwesenheit auch männlicher Polizisten vornüberzubeugen und zu husten. Angeblich sollte sichergestellt werden, daß sie nichts im Anus versteckt hat. Daraufhin mußte sie die ganze Nacht nackt in der Zelle verbringen.


Dallas Goldtooth von hinten vor Projektion - Foto: © 2017 by Schattenblick

Verteidiger indigener Rechte
Foto: © 2017 by Schattenblick


Die Militarisierung der fossilen Energieproduktion

Von weit über die Entwicklung in den USA hinausreichendem Interesse waren die Ausführungen der Aktivistin zur Militarisierung der Polizei wie des Einsatzes eines privaten Militärunternehmens, das aus ehemaligen Soldaten besteht und von der US-Regierung für den Globalen Krieg gegen den Terror angeheuert wurde. Dank eines Leaks zahlreicher geheimer Dokumente, die bei den Einsätzen des Unternehmens TigerSwan gegen die Protestierer in Standing Rock angefertigt wurden, zeigte sich das ganze Ausmaß der Repression. Diese Söldner verrichteten ihre Aufgabe mit geheimdienstlichen Mitteln der Unterwanderung und Ausforschung der Protestler, die systematisch als potentielle Terroristen diskriminiert wurden. Das vom Pipelinebetreiber ETP angeheuerte Privatunternehmen TigerSwan wurde, von wenigen Ausnahmen abgesehen, durch die zuständigen Behörden und Exekutivorgane fast uneingeschränkt unterstützt.

Internal TigerSwan communications describe the movement as "an ideologically driven insurgency with a strong religious component" and compare the anti-pipeline water protectors to jihadist fighters. One report, dated February 27, 2017, states that since the movement "generally followed the jihadist insurgency model while active, we can expect the individuals who fought for and supported it to follow a post-insurgency model after its collapse." Drawing comparisons with post-Soviet Afghanistan, the report warns, "While we can expect to see the continued spread of the anti-DAPL diaspora ... aggressive intelligence preparation of the battlefield and active coordination between intelligence and security elements are now a proven method of defeating pipeline insurgencies." [2]

Ein detaillierter Bericht des Einsatzes von TigerSwan und der Kollaboration des Staates mit einer Firma, die im Terrorkrieg im Irak und in Afghanistan aktiv war und die dort gemachten Erkenntnisse nun gegen Indigene in den USA einsetzt, wird auf der Webseite The Intercept des Investigativjournalisten Glenn Greenwald im Rahmen einer bislang zehnteiligen Artikelserie unter dem Obertitel "Oil and Water" [3] angeboten. Schon die dort präsentierten Auszüge aus den Dokumenten des Unternehmens belegen, daß sozialökologische Kämpfe mit der Sprache der militärischen Terrorismusbekämpfung, die sich durch die biologistische Abwertung des Gegners zu einem zu isolierenden und vernichtenden Krankheitserreger auszeichnet, in Frontverläufe des sozialen Krieges verwandelt werden. Da die Militarisierung der Polizei auch in der Bundesrepublik Einzug hält, wie zuletzt anhand der massiven Bekämpfung des demokratischen Protestes gegen den G20-Gipfel in Hamburg zu beobachten, ist die Lektüre des Berichtes, auf den Kandi Mossett verwies, jedem Menschen zu empfehlen, der nicht eines Tages erstaunt feststellen will, daß ziviler Protest nurmehr unter kriegsähnlichen Bedingungen stattfinden kann.


Tribunal mit Projektion 'Defend the Sacred' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Richterin Osprey Orielle Lake fragt nach
Foto: © 2017 by Schattenblick

90 Infiltratoren, die als WasserschützerInnen posierten, wurden während des Protestes gezählt. Ein junger Mann, der seit 2012 in der Bewegung aktiv war, wurde durch eine zufällig mit dem Mobiltelefon aufgenommene Szene als Spitzel enttarnt. Kandi Mossett stand vor einer Polizeikette mit einer Feder in der Hand, als der angebliche Aktivist hinter ihr auftauchte und mit dem Finger auf ihren Kopf wies. Sie habe sehen können, wie die vor ihr postierten Polizeibeamten bestätigend nicken, konnte den Mann hinter ihr jedoch nicht sehen. Als er ausholte, um sie in die Polizeilinie hineinzustoßen, sei sie aus irgendeinem Grund zur Seite getreten, so daß er selbst nach vorne stürzte und hinfiel. Sie sei nicht verhaftet worden, denn sie hatte "Medizin" bei sich, so Kandi Mossett zur vernehmlichen Erheiterung des Publikums. Auf dem Video könne man noch hören, wie der Spitzel den Beamten zuruft: Holt mich wieder hoch!

Wir haben uns entschieden, Position zu beziehen und dem Rest der Welt zu zeigen, worum es beim "UnitedStates-Industrial-Complex" geht, so die Aktivistin zum Schluß ihrer Rede. Der Rest der Welt sollte sich wirklich Sorgen machen und dieses Interessenkartell zurückweisen, mahnt sie. Wenn man sehe, wie dieser Komplex aus Staat und Industrie mit der eigenen Bevölkerung umgehe, könne man ahnen, was er erst allen anderen Menschen antun könne, die noch weniger Möglichkeiten des Widerstandes haben. Mithin gehe es in ihrem Kampf nicht nur darum, sich selbst, sondern die ganze Welt zu schützen, so die abschließenden Worte der indigenen Aktivistin.

Im Kampf gegen die DAPL in Standing Rock trat die Militarisierung staatlicher Repression auf eine Weise hervor, die den komplementären Zusammenhang zwischen der äußeren Expansion auf das Land seiner UreinwohnerInnen in der Gründungsepoche der Vereinigten Staaten und der inneren Unterdrückung aller Menschen, die seinen Funktions- und Kapitaleliten als nicht mehr produktiv zu verwertende Bevölkerung im Weg stehen, auf eindrückliche Weise dokumentiert. Auch wenn der Kampf gegen diese Pipeline, die seit Betriebsbeginn im Juni 2017 bereits fünf Leckagen produzierte [4], nicht zu gewinnen war, birgt er wichtige Erkenntnisse zur gesellschaftlichen Bedeutung fossiler Ressourcen. Sie liegt weniger in ihren kalorischen, durch Erneuerbare Energien zu ersetzenden Brennwerten, sondern vor allem im spezifischen Charakter ihrer industriepolitischen und sozialstrategischen Einbindung in bestehende Herrschaftsstrukturen. Ob man mit Rosa Luxemburgs 1913 angestellter ökonomischen Analyse "der verschärften Weltkonkurrenz des Kapitals um seine Akkumulationsbedingungen" [5] konform geht oder nicht, das von ihr vor Beginn des Ersten Weltkrieges herausgearbeitete Zusammenwirken von Kapitalismus und Krieg ist heute nicht weniger gültig als damals. Ohne Waffengewalt läßt sich keine privatwirtschaftliche Eigentumsordnung durchsetzen, ohne Bomben und Granaten keine geldbasierte Kaufkraft garantieren, ohne polizeiliche Aufstandsbekämpfung kein Frieden inmitten klassengesellschaftlicher und sozialökologischer Widersprüche herstellen.


Tribunal mit Symbol des Indigenous Environmental Network (IEN) - Foto: © 2017 by Schattenblick

Rechtsprechung in Abwesenheit der Angeklagten
Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] aus Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. "Einführung in die Nationalökonomie", S. 716-726
http://www.mlwerke.de/lu/lu05/lu05_716.htm

[2] https://theintercept.com/2017/05/27/leaked-documents-reveal-security-firms-counterterrorism-tactics-at-standing-rock-to-defeat-pipeline-insurgencies/
Zitierter Textauszug in eigener Übersetzung:

Die interne TigerSwan-Kommunikation beschreibt die Bewegung als "eine ideologisch angetriebene Erhebung mit stark religiöser Komponente" und vergleicht die Anti-Pipeline-Wasserschützer mit jihadistischen Kämpfern. In einem Bericht vom 27. Februar 2017 wird festgestellt, daß, weil die Bewegung "in ihren Aktivitäten allgemein dem jihadistischen Aufstandsmodell folgt, ist bei den Individuen, die für sie kämpften und sie unterstützten, zu erwarten, daß sie nach ihrem Zusammenbruch einem Post-Aufstands-Modell folgen". In dem Bericht werden Vergleiche mit Afghanistan nach der sowjetischen Besetzung gezogen und es wird gewarnt: "Wir können erwarten, die fortwährende Ausbreitung der Anti-DAPL-Diaspora zu erleben ... die aggressive geheimdienstliche Bearbeitung des Schlachtfelds und aktive Koordination zwischen Geheimdienst- und Sicherheitselementen sind heute eine bewährte Methode, um Pipeline-Aufstände niederzuschlagen".

[3] https://theintercept.com/series/oil-and-water/

[4] https://theintercept.com/2018/01/09/dakota-access-pipeline-leak-energy-transfer-partners/

[5] aus Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. "Die Akkumulation des Kapitals", S. 398-411

Zum Kampf um indigene Rechte siehe auch im SB:
INTERVIEW/161: Klimagegengipfel - schöpfen mit Bedacht ...     Tom Goldtooth im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0161.html


14. Januar 2018


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