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BERICHT/118: Protestmarsch für die Obdachlosen - geteilte Ungemütlichkeit ... (SB)


Die Privatisierung großer Wohnungsbestände in öffentlicher Hand wurde politisch vorangetrieben, um Kapitalinvestoren aller Art anzulocken. So entwickelte sich die neoliberale Stadt zu einer Investitionssphäre, die die Verwertbarkeit des eingesetzten Kapitals zum zentralen Kriterium für menschliche Belange essentieller Art machte. Wohnen gehört wie die Ernährung oder die medizinische Versorgung zu den Primärerfordernissen menschlicher Versorgung, so daß es aus kapitalistischer Sicht allemal Sinn macht, die Verknappung verfügbarer Güter und Dienstleistungen gerade dort zum Programm zu erheben.
Kapitalismus final - Goldrausch urban [1]


Es war nicht wirklich kalt an diesem Sonnabend in Hamburg, aber doch so ungemütlich, daß die Vorstellung eines Aufenthaltes in der Wärme eines geheizten Raumes nach mehreren Stunden im Freien durchaus Verführungskraft besaß. Die Menschen, die zur ersten Demo für die Obdachlosen am 9. Februar 2019 in Hamburg auf den Spielbudenplatz an der Reeperbahn gekommen waren, konnten so wenigstens die vage Vorstellung von den Widrigkeiten entwickeln, mit denen Wohnungs- und Obdachlose jeden Tag konfrontiert sind.

Zur Aktion Wintermove - Hamburg gegen die Kälte hatte ein Aktionsbündnis aufgerufen, in dem rund 15 AktivistInnen und HelferInnen auf Initiative des ehemaligen Obdachlosen Max Bryan zusammengekommen waren, um den Protest gegen die Politik der Stadt, soziale Verelendung weniger zu bekämpfen denn zu fördern, auf die Straße zu tragen. Im Mittelpunkt stand die Forderung, die Räumlichkeiten des Winternotprogramms auch tagsüber zu öffnen, anstatt die dort vor der Kälte Schutz suchenden Menschen morgens auf die Straße zu treiben. Was angeblich nicht anders gehe, weil die Unterkünfte gereinigt und das notwendige Sicherheitspersonal zu teuer wäre, wird auf der Demo immer wieder als Schande für eine so reiche Stadt wie Hamburg und als Versagen der Sozialsenatorin der rotgrünen Regierung gebrandmarkt. Deren RepräsentantInnen glänzten auf der Demo denn auch durch Abwesenheit.


Installation zur Obdachlosigkeit auf Ladefläche - Fotos: © 2019 by Schattenblick Installation zur Obdachlosigkeit auf Ladefläche - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Greifbar gemacht und doch unbegreiflich
Fotos: © 2019 by Schattenblick

Zudem wird die Finanzierung eines Kältebusses durch die Stadt verlangt. Spätestens seit dem Tod von vier Menschen, die zwischen Ende Oktober und Ende November letzten Jahres in Hamburg bei Temperaturen nahe Null auf der Straße starben und mindestens in einem Fall erwiesenermaßen erfroren, wird diese Forderung mit immer größerer Lautstärke geltend gemacht. Eine solche Maßnahme ist in dem Milliardenhaushalt Hamburgs kaum einer Fußnote wert und wird dennoch nicht vollzogen. Daher hat die Sozialeinrichtung Alimaus einen Kältebus auf die Straße gebracht. Die im Rahmen des katholischen Hilfsvereins St. Ansgar e.V. firmierende Einrichtung bietet Obdachlosen auch tagsüber warmes Essen, Kleidung, einen Aufenthaltsraum und psychosoziale Betreuung an.

Die ehrenamtlich tätige Besatzung des Kältebusses kann täglich von 19.00 bis 24.00 Uhr angerufen werden, um notleidende Menschen in Einrichtungen zu bringen oder auf der Straße mit dem Notwendigsten zu versorgen. Mindestens bis zur Schließung des Winternotprogramms soll der Kältebus noch auf Hamburgs Straßen unterwegs sein. Wie die Helferin Andrea erklärt, ist er nicht in erster Linie als Versorgerbus gedacht, sondern soll auch die BürgerInnen dazu bewegen, den Mißstand der Wohnungs- und Obdachlosigkeit wahrzunehmen, wie als Ansprechpartner für die davon Betroffenen fungieren.

Angesichts dessen, daß für Repräsentativbauten wie die Elbphilharmonie, den neuen Elbtower oder den geplanten Sports-Dome in der HafenCity stets Geld da ist, kann die knappe Kasse bei Bedürftigen kaum anders verstanden werden als Ergebnis einer systematisch auf Sozialabbau gerichteten Politik nach Maßgabe der neoliberalen Markt- und Gesellschaftsdoktrin. Der "aktivierende Sozialstaat" praktiziert unter der Formel "Fördern und Fordern" eine Austeritätspolitik, die sich einer nicht anders als sozialchauvinistisch zu bezeichnenden Pädagogik materiellen Zwanges bedient. Anstatt Notleidenden schlicht zu helfen, wie es das Gebot der vielbeschworenen Menschlichkeit wäre, werden bedingungslos verfügbare Sozialleistungen so knapp wie möglich gehalten, angeblich um den Betroffenen Anreize dafür zu geben, sich selbst zu helfen, indem sie auf Arbeitssuche gehen, sich beraten lassen und eigenverantwortlich fortbilden.


Demo an Stationen in St. Pauli - Fotos: © 2019 by Schattenblick Demo an Stationen in St. Pauli - Fotos: © 2019 by Schattenblick Demo an Stationen in St. Pauli - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Für die Obdachlosen durch Hamburgs Rotlichtbezirk
Fotos: © 2019 by Schattenblick

Die Doktrin des "aktivierenden Sozialstaates" wurde von einer rotgrünen Bundesregierung in Form der Agenda 2010 durchgesetzt und wird vom rotgrünen Senat der Kaufmannstadt Hamburg offenkundig weiter zur Leitlinie ihrer Sozialpolitik erhoben. So wird die Schließung der Notunterkunft tagsüber seitens der Stadt auch damit begründet, wie Initiator Max Bryan auf einer Zwischenkundgebung berichtet, daß die Leute in Bewegung bleiben sollen, daß sie sich einen Job suchen und Beratung annehmen sollen. Er kritisiert diese Bedingung nicht nur als menschenverachtend, weil sich niemand acht Stunden lang beraten lassen kann, zumal es am Wochenende keine Beratung gibt, sondern weil damit auch gerechtfertigt wird, daß Menschen im Rentenalter, die nicht einmal mehr richtig laufen können, mit dieser Begründung der Kälte und den daraus resultierenden Gesundheitsgefahren ausgesetzt werden. Dementsprechend wäre eine Öffnung des Winternotprogramms wenigstens für ältere und behinderte Menschen schon ein Fortschritt, so Bryan, der die Demo leitete und die Redebeiträge moderierte.

Politische Analysen und gesellschaftskritische Ansagen waren in den Aussagen der meisten AktivistInnen und RednerInnen eher nicht enthalten. Zwar wurde das Menschrecht auf Wohnen betont und seine Aufnahme ins Grundgesetz verlangt, doch Fragen nach den gesellschaftlichen Ursachen für hohe Mieten und niedrige Löhne wurden kaum aufgeworfen. Im Mittelpunkt der Kundgebungen stand der Ruf nach ganztägiger Öffnung des Winternotprogramms. Wie Anneke Sorger vom Vorbereitungskreis gegenüber dem Schattenblick erklärte, gehe es ihnen zuerst einmal darum, den Fokus auf diese vordringliche und leicht nachvollziehbare Forderung zu legen. Es sei jedoch durchaus ein Ziel, auch andere Probleme wie die Bekämpfung der Armut anzupacken, sich für den Bau bezahlbarer Wohnungen und die Gewährleistung bedingungsloser Unterstützung einzusetzen, damit obdachlos gewordene Menschen wieder den Weg von der Straße weg schaffen oder am besten gar nicht erst in die Obdachlosigkeit hineinrutschen.


Zwischenkundgebung an den Landungsbrücken mit elektronischer Anzeigentafel - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Schöner wohnen in den Warenwelten des gehobenen Geschmacks
Fotos: © 2019 by Schattenblick


Aktiv werden gegen physische wie soziale Kälte

So blieb es vor allem der Partei die Linke überlassen zu erklären, warum konkrete Verbesserungen auf sich warten lassen und was der Senat der Hansestadt damit zu tun hat. Die Fraktionsvorsitzende der Linken in der Bürgerschaft, Cansu Özdemir, berichtete auf der Auftaktkundgebung, daß sie seit 2011 Anfragen zu Situation der Obdachlosen einreiche und Anträge zur Verbesserung ihrer Unterbringung stelle. Der Senat teile Obdachlose allerdings in Leistungsberechtigte und Nichtleistungsberechtigte ein. Letztere laufen Gefahr, auf der Straße zu sterben, weil sie vom Winternotprogramm abgewiesen werden. Dem widerspricht zwar die Sozialbehörde der Stadt, doch auf der Demo wurde auch von anderer Seite her berichtet, daß nicht leistungsberechtigte Menschen häufig in Wärmestuben abgeschoben werden, in denen es keine Betten, sondern nur Stühle gibt.


Auf dem Demowagen mit Mikrofon - Foto: © 2019 by Schattenblick

Cansu Özdemir
Foto: © 2019 by Schattenblick

Grundsätzlich beklagte Özdemir, daß die Mehrheit der Menschen in Hamburg nicht an dem Reichtum, der in dieser nach wie vor prosperierenden Stadt unübersehbar ist, teilhabe. So habe der Senat 2012 ein Gesamtkonzept mit Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Wohnungs- und Obdachlosen verabschiedet, doch sei dies nur zum Teil umgesetzt worden, weil nicht genügend Investitionen in diesen Bereich geflossen wären. Dem Senat fehle schlich der politische Wille, sich für die Belange notleidender Menschen zu engagieren, denn, wie etwa die gescheiterte Olympia-Bewerbung gezeigt habe, könnten stets genügend Finanzmittel freigesetzt werden, wenn das erforderliche Interesse daran besteht. Ihr gehe es nicht nur um die Gewährleistung von Erfrierungschutz, sondern auch die Möglichkeit, daß die Betroffenen tagsüber Unterkünfte aufsuchen können, um sich aufzuwärmen und auszuruhen, anstatt aktivierenden Maßnahmen ausgesetzt zu werden. Cansu Özdemir lobte das Beispiel der CDU-Fraktion in der Bezirksversammlung Altona, die die Forderung nach ganztägiger Öffnung des Winternotprogramms unterstütze. Das solle auch die CDU in der Bürgerschaft tun, wo die Anträge der Linken von der rotgrünen Regierung regelmäßig abgelehnt würden.


Auf dem Demowagen - Foto: © 2019 by Schattenblick

Andreas Grutzeck und Max Bryan
Foto: © 2019 by Schattenblick

Auf der ersten Zwischenkundgebung an den Landungsbrücken meldete sich mit Andreas Grutzeck der Stellvertretende Vorsitzende der Bezirksversammlung Altona zu Wort. Die dort einstimmig getroffene Entscheidung für die Antragstellung der ganztägigen Öffnung des Winternotprogramms wurde von seiner Fraktion mitgetragen, und der CDU-Politiker verlieh denn auch seiner Hoffnung Ausdruck, daß seine Partei in der Bürgerschaft künftig an der Seite der Linken stehe, wenn diese einen die Verbesserung der Lage der Obdachlosen betreffenden Antrag stelle. Die CDU Altona sei jedenfalls mit von der Partie, so Grutzeck, der die ZuhörerInnen aufforderte, mit ihren Abgeordneten zu sprechen, denn viele würden die Probleme auf der Straße nicht kennen.


Mit Berufskleidung auf Demotruck - Foto: © 2019 by Schattenblick

Ein Schornsteinfeger aus Bremen ruft auf ...
Foto: © 2019 by Schattenblick


Menschenmenge auf dem Vorplatz der Landungsbrücken - Foto: © 2019 by Schattenblick

... zur Schweigeminute für die Obdachlosen, die in diesem und den vergangenen Wintern gestorben sind
Foto: © 2019 by Schattenblick

Als die Demo von den Landungsbrücken aufbrach und unter der Kersten Miles Brücke an den unter ihr lagernden Menschen vorbeizog, versuchte Max Bryan, sie in ein Gespräch einzubeziehen. Dies wäre wünschenswert gewesen, denn auch wenn die Aktion als Demo für die Obdachlosen angekündigt war, hätte eine Beteiligung von direkt betroffenen Menschen sicherlich dazu beigetragen, das Bewußtsein für ihre Probleme zu schärfen. Da die angesprochenen Betroffenen jedoch nicht auf die Situation vorbereitet waren, plötzlich im Mittelpunkt des Interesses auch der zu diesem Zeitpunkt noch zahlreichen MedienvertreterInnen zu stehen, wurde in den Reihen der Demonstration Kritik am Verlauf dieses Versuches, die Betroffenen direkt einzubeziehen, laut. Im Ergebnis dessen verließ der Kältebus die Demo. Unmittelbar darauf wie in einer schriftlichen Stellungnahme einige Tage später erklärte Bryan, wie die unglücklich verlaufene Situation zustandekam, und entschuldigte sich dafür.

Unter den DemonstrantInnen herrschte, wie der Schattenblick auf Nachfrage erfuhr, die Meinung vor, daß die sicherlich gutgemeinte Ansprache der Betroffenen erfordert hätte, sie im Vorwege zu fragen, ob sie überhaupt dazu bereit wären. Daß es sich dabei um einen empfindlichen Punkt handelt, versteht sich angesichts der verbreiteten Neigung, sich weniger mit notleidenden Menschen auf Augenhöhe solidarisch zu erklären als die Perspektive distanzierter oder gar abwertender Beobachtung einzunehmen, von selbst. Dem hauptsächlichen Initiator der Demo war dies jedoch nicht anzulasten, versuchte er doch immer wieder, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen und die Menschen am Rande der Demo zu bewegen, das Ihrige zur Verbesserung der Lage der Wohnungs- und Obdachlosen zu tun.


Demonstrationszug von Brücke und auf Straße - Foto: © 2019 by Schattenblick Demonstrationszug von Brücke und auf Straße - Foto: © 2019 by Schattenblick

Von den Landungsbrücken die Helgoländer Allee hoch zum Millerntorplatz
Fotos: © 2019 by Schattenblick


Ausnahmslos solidarisch

Mitten auf der ansonsten vielbefahrenen Ludwig Erhard Straße wurde ein weiteres Mal Halt gemacht, um AktivistInnen zu Wort kommen zu lassen, die sich für wohnungs- und obdachlos gewordene Menschen engagieren. Wer in Hamburg mit dem Auto über die Kennedybrücke fährt, kann die Zelte, in denen einige Betroffene notdürftig Schutz vor Kälte, Wind und Wetter suchen, gut sehen. Warum einige Betroffene keine Notunterkünfte aufsuchen, erklärt Tobias vom Werkhaus Münzviertel damit, daß sich manche Menschen in den Winternotprogrammen und anderen Unterkünften nicht wohlfühlen, unter anderem deshalb, weil sie Angst haben, dort beraubt zu werden. Daher fungiere das von ihm vertretene Stadtteilprojekt Werkhaus Münzviertel auch als Anlaufstelle für junge Erwachsene in Wohnungs- und Obdachlosigkeit.


Mit Mikro und Schild 'Dach statt Zelte' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Tobias vom Werkhaus Münzviertel
Foto: © 2019 by Schattenblick

Ihm sei besonders wichtig darauf hinzuweisen, daß es in vielen Städten Menschen gibt, die ihr Recht auf Versorgung und Unterbringung nicht in Anspruch nehmen können, weil sie sich innerhalb Deutschlands auf der Flucht befinden. Als Beispiel führte er die Situation eines Syrers an, der vor dem Krieg in die Bundesrepublik geflohen war und in Plauen Asyl beantragt hat. Dort wurde er aus vermutlich rassistischen Gründen auf der Straße mit einem Messer attackiert, was ihn veranlaßte, nach der Genesung nach Hamburg zu kommen, um dort Arbeit und Wohnung zu finden. Dieser Versuch, sich hier etwas aufzubauen, wurde jedoch durch die Behörden sehr erschwert, da Menschen im Asylverfahren keinen Anspruch auf Unterbringung und Versorgung haben außer im Ort der Antragstellung. Um sich vor weiteren körperlichen Attacken zu schützen, mußte der junge Syrer praktisch in die Mittel- und Obdachlosigkeit fliehen. Im Namen des Werkhauses erklärte Tobias, wie beklagenswert und beschämend der Umgang dieser Gesellschaft mit Menschen sei, die vor existenziellen Problemen stehen. Daher forderten sie auf jeden Fall Dach statt Zelte sowie bedingungslose Versorgung und Unterbringung aller Menschen, welchen Status sie auch immer haben und welcher Herkunft sie auch immer sein mögen.

Max Bryan bekräftigte, wie wichtig es sei, keine Unterschiede bei den Menschen zu machen, die sich im Winternotprogramm melden. Immer wieder höre man, daß Hilfesuchende aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft abgewiesen werden, da man vermute, daß sie irgendwo in Polen oder Rumänien noch einen Wohnsitz hätten. Dabei habe theoretisch jeder Anspruch auf Hilfe, nur müsse dieser auch durchgesetzt werden.


Demonstrationszug vor dem Gebäude von KPMG International - Foto: © 2019 by Schattenblick

Vor den Agenturen des transnationalen Kapitals die Hauslosigkeit der Stadt
Foto: © 2019 by Schattenblick


Obdachlose Frauen stehen vor größeren Problemen

Nicht an erster Stelle bedacht, aber zumindest erwähnt wurde auch die besonderes problematische Situation von Frauen in Obdachlosigkeit. So meldete sich die Demonstrantin Mara beim Zwischenstopp am Jungfernstieg spontan zu Wort und forderte, daß die Notunterkünfte nicht nur Schutz vor dem Erfrieren bieten sollten. Das sei lediglich eine Minimalforderung. Daß für diese Forderung überhaupt gekämpft werden müsse, sei ein Armutszeugnis für die Stadt. Schutzräume an jedem Tag das ganze Jahr über müsse es insbesondere für Frauen geben, die auf der Straße sehr häufig von sexualisierter Gewalt betroffen seien.

Gegenüber dem Schattenblick erklärte Mara, daß sie schon häufiger von Frauen um Hilfe gebeten worden sei. Ihre Frage, was denn mit den zur Verfügung stehenden Hilfsangeboten sei, wäre mehrmals damit beantwortet worden, daß sie sich dort nicht sicher fühlten. Die Massenunterkünfte würden mehrheitlich von Männern frequentiert, und wenn eine Frau vor häuslicher Gewalt geflohen oder aus anderen Gründen in die Obdachlosigkeit geraten sei, dann würde sie dort nicht hingehen. Frauenhäuser böten sich ebenfalls nicht an, sie seien massiv überlastet und unterfinanziert. Zudem würden Frauen häufig als Drogenabhängige und psychisch Kranke stigmatisiert oder gar nicht erst in ihrer bedrängten Situation wahrgenommen. Daher sollte insbesondere ihre Situation zum Politikum gemacht werden, so Mara.


Demonstrationszug an der Stadthausbrücke - Fotos: © 2019 by Schattenblick Demonstrationszug an der Stadthausbrücke - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Parallelgesellschaft hinter den Spiegeln
Fotos: © 2019 by Schattenblick


Wer ist vor dem jähen Absturz ins Bodenlose geschützt?

Warum verlieren Menschen ihre Wohnung und werden obdachlos? Angesichts des sozialen Netzes, auf das sich die sogenannte soziale Marktwirtschaft beruft, um der Kritik an wachsender sozialer Ungleichheit entgegenzutreten, dürfte es gar nicht dazu kommen, daß Menschen auf der Straße stehen und nicht wissen, wo sie Unterkunft finden können. Tatsächlich jedoch gibt es angesichts der wachsenden Zahl von Wohnungs- und Obdachlosen auch in Hamburg immer mehr Beispiele dafür, daß sich dieses Netz vor allem durch die vielen Zwischenräume auszeichnet, durch die die Menschen gerade dann fallen, wenn sie auf seine Tragfähigkeit angewiesen wären.


Demo mit Transparenten in den Große Bleichen - Fotos: © 2019 by Schattenblick Demo mit Transparenten in den Große Bleichen - Fotos: © 2019 by Schattenblick

Laut werden zwischen stummen Mauern ...
Fotos: © 2019 by Schattenblick

Ein wesentlicher Grund sind die in den Metropolen immer weiter steigenden Mieten und die demgegenüber viel zu geringen Angebote an erschwinglichen Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus. Preissteigerungen im Immobiliensektor sind jedoch nicht nur Folge einer Verknappung des Angebotes. Die Kapitalanlage in Bauland und Häuser, die im Endeffekt Grundrente, also arbeitslos erzeugtes Einkommen generiert, ist zugleich ein Merkmal des Kapitalismus in der Phase krisenhafter Eskalation. Wenn Wirtschaft und Industrie an Überproduktionskrisen kranken, während die materielle Armut immer mehr Menschen vor die Wahl stellt, sich angemessen zu ernähren und zu kleiden oder die Rechnungen für Miete und Strom zu bezahlen, tritt der warenproduzierende Kapitalismus in seiner ganzen systematisch angelegten Widersprüchlichkeit hervor. Solange es dem Kapital gleichgültig ist, wie es sich verwertet, wenn am Ende nur aus Geld mehr Geld wird, solange werden die Kosten für essentielle Überlebensfaktoren, gerade weil sie nicht zu vermeiden sind, anwachsen. Sie sind nicht nur Quelle der Kapitalakkumulation, sondern soziale Ungleichheit fungiert als Peitsche einer Arbeitsgesellschaft, die von ihrer industriellen und landwirtschaftlichen Produktivität her längst in der Lage sein könnte, alle Menschen mit den notwendigen Dingen des Lebens zu versorgen.


Demotruck biegt auf Jungfernstieg ein, Demo vor Apple Flag Store - Foto: © 2019 by Schattenblick Demotruck biegt auf Jungfernstieg ein, Demo vor Apple Flag Store - Foto: © 2019 by Schattenblick

Vor dem Flag Store Flagge zeigen ...
Foto: © 2019 by Schattenblick

So folgen die westeuropäischen Metropolengesellschaften dem US-amerikanischen Beispiel, wo Einkommensarmut und Mangel an Nahrungsmitteln, Wohnraum und medizinischer Versorgung trotz des großen Reichtums im Lande ein Massenphänomen sind. Droht der Absturz ins soziale Nichts dort vielen schon bei unerwarteten Ausgaben etwa im Falle einer schweren Erkrankung, so kann dies auch hierzulande schneller erfolgen, als die meisten Menschen glauben mögen. So wurde dem Schattenblick im November 2017 von einem Betroffenen berichtet, wie er aus einer gutbezahlten Erwerbstätigkeit völlig unvorhergesehen in die Obdachlosigkeit fiel [2]. Insbesondere im Alter stehen Menschen etwa nach dem Tod des Partners mitunter vor dem Problem, die gemeinsame Wohnung nicht mehr bezahlen zu können.


Demo vor Hamburger Rathaus - Foto: © 2019 by Schattenblick

Nach dem Regen Aufbruch am Rathausmarkt
Foto: © 2019 by Schattenblick

Bei der Zwischenkundgebung auf der Mönckebergstraße berichtete die Demonstrantin Claudia, wie schnell man von Obdachlosigkeit bedroht ist, wenn man etwa ein bestimmtes Dokument bei der Sozialbehörde nicht einreichen kann oder Zahlungen wegen Umständen ausbleiben, auf die man keinen Einfluß hat. So sei ein Bekannter ganz unvermittelt obdachlos geworden. Obwohl er sich wieder aus seiner prekären Lage herauskämpfen konnte, gelang es ihm nicht mehr, ein normales Leben zu führen. Er wurde erneut obdachlos und sei fast erfroren. Knapp dem Tod entronnen konnte er seine Beine nicht mehr spüren und mußte das Laufen erst wieder erlernen.

Ob die die Vermutung der meisten Menschen, daß man nicht in Obdachlosigkeit fallen könnte, nicht sehr vermessen sei? Claudia bejahte die Frage des Schattenblicks und und führte als Beispiel die Situation psychisch Kranker an, die die Voraussetzungen und Forderungen zur Inanspruchnahme einer Leistung einfach nicht erfüllen könnten. Man sei schon am Ende seiner Energie und müsse dennoch dafür kämpfen, überhaupt minimale Unterstützung zu bekommen. In dem Moment, in dem es an einer Stelle hakt, breche das ganze System zusammen. Erst sei die Wohnung, dann die Arbeit und schließlich der Bekanntenkreis weg. Wenn erst einmal der erste Dominostein gefallen sei, könne das eine Kettenreaktion an ungewollten Entwicklungen zur Folge haben, so Claudia. Eine Politisierung der Betroffenen könne kaum erfolgen, solange diese intensiv mit dem täglichen Überleben beschäftigt seien, so ihre Antwort auf die Frage des Schattenblicks. Tag für Tag eine Mahlzeit zu bekommen, die wenigen Dinge, die geblieben sind, irgendwie in Sicherheit zu bringen und ein Minimum an Würde zu wahren nehme den ganzen Menschen in Anspruch.


Bei der Abschlußkundgebung - Foto: © 2019 by Schattenblick

Max Bryan und Zaklin Nastic
Foto: © 2019 by Schattenblick


Linkspartei für Wohnungs- und Obdachlose

Einen abschließenden politischen Akzent zu setzen blieb der Menschenrechtspolitischen Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Zaklin Nastic, überlassen. Die bis 2017 auf kommunaler Ebene in Eimsbüttel aktive Politikerin kennt sich in Hamburg gut aus. Die Freude über die Entscheidung der Bezirksversammlung Altona dämpfte sie mit den Worten, daß derartige Entwicklungen auf Bezirksebene im Stadtstaat Hamburg noch lange keine Gewähr dafür bieten, daß dies auch den Senat interessiert. In Hamburg habe sich die Zahl der Obdachlosen verdoppelt, und bundesweit gebe es nicht einmal eine Statistik, in der erfaßt wird, wie viele Menschen in Wirklichkeit ohne ein Dach über dem Kopf leben müssen. Nicht nur dem Hamburger Senat fehle der politische Wille, daran etwas zu ändern, das gelte auch für die Bundesregierung.

Auch Nastic betonte, daß es am Geld nicht liegen kann. Wenn der Senat 15 Milliarden Euro zur Rettung der HSH Nordbank aufbringen könne, wolle sie sich weder menschlich noch politisch damit abfinden, daß für frierende Menschen nicht genug Geld vorhanden sein soll. Die Linke streite im Bundestag dafür, daß endlich das Menschenrecht auf Wohnen umgesetzt und ins Grundgesetz aufgenommen wird. Fast eine Million Menschen seien inzwischen wohnungslos, weil es kaum noch bezahlbaren Wohnraum gebe, das treffe selbst auf Menschen zu, die gut verdienen. Für Alleinerziehende oder Patchwork-Familien, Seniorinnen und Senioren sei es noch schwieriger, bezahlbaren Wohnraum zu bekommen, deshalb müsse der Soziale Wohnungsbau dringend ausgeweitet werden. Wenn nun auch noch der Wehretat drastisch erhöht wird, es also für das Sterben im Krieg, nicht jedoch für das Leben der Menschen genug Geld gebe, gelte es um so mehr, dagegen die Stimme zu erheben. Insbesondere für Betroffene sei es wichtig, aus der Anonymität heraus und für die eigenen Interessen einzutreten.


Transparent 'Wohnen ist ein Menschenrecht' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Rechtsanspruch vs. Verwertungsinteresse
Foto: © 2019 by Schattenblick


Aufbruch in Kaltland

Nastics kämpferische Rede stand am Ende einer Demonstration, die, nicht zuletzt wegen des zwischenzeitlich einsetzenden Regens, nunmehr nur noch einige Dutzend TeilnehmerInnen zählte. Zumindest die unmittelbar erforderliche Maßnahme der ganztägigen Öffnung des Winternotprogramms war auf dem langen Weg von der Reeperbahn bis zum Hauptbahnhof vielen Menschen am Straßenrand vor Augen geführt worden. Zweifellos wünschenswert gewesen wäre, wenn sie sich in größerer Zahl angeschlossen und den Wintermove in eine Bewegung verwandelt hätten, der sich die zuständigen PolitikerInnen nicht entziehen könnten.

Doch hat die neoliberale Konkurrenzgesellschaft gerade zu ihrer sozialstrategischen Kernfunktion erhoben, die Menschen gegeneinder auszuspielen und beim Rennen um die immer kleiner werdenden Überlebensrationen dem Kommando von Staat und Kapital zu unterwerfen. Daß dieses Prinzip auch auf dem harten Pflaster der Obdachlosigkeit Wirkung zeigt, wenn Betroffene mit deutscher Staatsbürgerschaft und obdachlose MigrantInnen und Flüchtende aneinandergeraten, setzt der Ohnmacht der Menschen die Krone ihrer nicht nur materiellen, sondern auch psychischen Verelendung auf. Zu begreifen, daß es sich dabei um systematisch erzeugte Effekte der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft handelt, die die Menschen ihrer administrativen und materiellen Verfügungsgewalt unterwirft, um das Aufbegehren gegen soziale Ungleichheit und die Überwindung der Klassenspaltung zu verhindern, eröffnete den Zutritt zu einer Streitposition, die mit bloßen Almosen nicht zu befrieden wäre.

Die in die Stahl- und Glasfassaden der Büropaläste gegossene Kälte und die abweisende Fremdheit des Warencharakters aller am Rande des Weges gemachten Konsumangebote wurden bei diesem Gang durch die Stadt überdeutlich. Allein das für die Mehrheit der DemonstrantInnen, die sich auf eine warme Mahlzeit zu Hause freuen konnten, zu einem Erfahrungswert gemacht zu haben, ist ein Erfolg dieser Initiative für die Obdachlosen. Politische Auswirkungen stellen sich zwingend ein, wenn immer mehr Menschen merken, wie dünn die Haut ihres Überlebenskokons geworden ist und daß eherne Klassengrenzen nicht durch das Treten nach unten, sondern nach oben überwunden werden.


Gruppenfoto mit InitiatorInnen - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0132.html

[2] INTERVIEW/138: Mahlzeit kalt - unter Obdachlosen allein ...    Udo im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0138.html


21. Februar 2019


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