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BERICHT/124: Frauenstreik - rückwärts in Brasilien ... (SB)


Die Werkstatt der Zukunft bedarf vieler Hände und heißen Atems. Eine Welt weiblichen Jammers wartet auf Erlösung. Da stöhnt das Weib des Kleinbauern, das unter der Last des Lebens schier zusammenbricht. Dort in Deutsch-Afrika in der Kalahariwüste bleichen die Knochen wehrloser Hereroweiber, die von der deutschen Soldateska in den grausen Tod von Hunger und Durst gehetzt worden sind. Jenseits des Ozeans, in den hohen Felsen des Putumayo, verhallen, von der Welt ungehört, Todesschreie gemarterter Indianerweiber in den Gummiplantagen internationaler Kapitalisten.
Rosa Luxemburg in Sozialdemokratische Korrespondenz, Nr. 27 vom 5. März 1914 [1]


"Marielle presente!" Immer wieder ertönt dieser Ruf fast wie ein Aufschrei aus den Mündern einer kleinen Gruppe von AktivistInnen am Rande des Hamburger Rathausmarktes und auf der von dort aus startenden Demonstration zum Internationalen Frauenkampftag [2]. Die aus Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern stammenden Frauen haben die Namen diverser bekannter AktivistInnen auf ihre Schilder gemalt, die ermordet wurden, weil sie für den Erhalt der Natur, die sozialen Rechte von KleinbäuerInnen oder den Schutz indigener Minderheiten eintraten. Der im südlichen und mittleren Teil der Americas ausgebrochene Kampf um pflanzliche und mineralische Rohstoffe, um die von agroindustriellen Monopolisten und Bergbaukonzernen betriebene Landnahme und die bei der Bewirtschaftung der gigantischen Anbauflächen und Rinderweiden unter sklavenartigen Bedingungen verrichtete Arbeit hat längst den Charakter eines permanenten Krieges gegen die Interessen der dort lebenden Menschen angenommen.


Transparent mit Foto 'Marielle vive' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Kein Vergeben, kein Vergessen!
Foto: © 2019 by Schattenblick

Nirgendwo werden mehr VerteidigerInnen der Natur, des Landes und des Wassers ermordet als in dieser seit Jahrzehnten von Sozialkämpfen erschütterten Region. Die Spuren der in den 1960er und 1970er Jahren erfolgten Interventionen imperialistischer Staaten und die daraus resultierende Etablierung brutaler Militärregimes sind bis heute sichtbar, etwa anhand der Existenz von US-Beratern ausgebildeter und in den Feinheiten grausamer Folterpraktiken unterwiesener Militär- und Polizeieinheiten, die in Brasilien bei der Ermordung von Straßenkindern oder beim Eindringen in die Favelas bis heute wie Todesschwadrone vorgehen. Die wirtschaftlichen Motive, aufgrund derer die BRD mit den lateinamerikanischen Militärdiktaturen kooperierte, sind in Zeiten anwachsenden Ressourcenmangels womöglich noch plausibler begründet für Staaten aus der EU, die ansonsten Gefahr liefen, in der globalen Konkurrenz abgehängt zu werden. Dabei hat der neokolonialistische Rohstoffextraktivismus durch die Rodung der verbliebenen amazonischen Regenwälder und den an ihre Stelle tretenden Anbau von Monokulturen wie Soja für die Tiermast, die Methanemissionen der intensiven Rinderhaltung, die Vergiftung ganzer Flüsse und Ökosysteme durch die Leckagen und Dammbrüche der Rückhaltebecken des Eisenerzabbaus als auch den Bau gigantischer Staudämme zur Stromproduktion eine das Leben auf dem ganzen Planeten bedrohende Dimension erreicht.

Dies erfolgt bis heute in einem kapitalistischen Weltsystem, das von einem steilen Produktivitätsgefälle zwischen den Metropolengesellschaften Nordamerikas, Westeuropas und Ostasiens und dem Globalen Süden bestimmt ist. Rohstoffreiche Länder wie Brasilien waren schon immer Ziel der Aneignungsstrategien US-amerikanischer wie westeuropäischer Regierungen und Konzerne, wie die weitreichende Unterstützung lateinamerikanischer Militärdiktaturen durch Regierungen und Unternehmen der BRD belegt. Es ist mithin nicht erstaunlich und dokumentiert historische Kontinuität, daß der Amtsantritt des rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro Anfang des Jahres von deutschen wie US-amerikanischen Konzernen und Investoren ausdrücklich begrüßt wurde. Der Mann weiß Ordnung zu halten, tritt für christlich-fundamentalistische Werte ein und ist aller sozialistischen Ambitionen unverdächtig, was bei VorgängerInnen wie Lula und Dilma Rousseff nicht ausgeschlossen werden konnte.

Dementsprechend sind die in langwierigen Kämpfen errungenen Minderheitenrechte insbesondere indigener und geschlechtlicher Art durch seine Regierung akut bedroht. Wie bereits sein Vorgänger Temer ist Bolsonaro aufs engste mit den Akteuren der mächtigen Agro- und Fleischindustrie verbunden, so dem weltgrößten Fleischproduzenten JBS, dessen Inhaber ganze brasilianische Regierungen in der Hand gehabt haben sollen. Akteure wie diese sind allein daran interessiert, ihr Geschäft mit der Welternährung weiter auf Kosten von Menschen auszudehnen, die in Brasilien kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft betreiben. Da die Bundesrepublik einen Großteil der Futtermittel für eine expansive Tierproduktion, für deren Aufrechterhaltung aus eigenen Kräften die hiesigen Ackerflächen dreimal so groß sein müßten wie sie sind, aus Brasilien einführt, sind die Interessen ihrer politischen und agrarindustriellen Akteure klar auf der Seite Bolsonaros postiert.


Frauen mit lila Perücken und Transparenten - Foto: © 2019 by Schattenblick

La Huelga Feminista 8M - Frauenstreik lateinamerikanisch Foto: © 2019 by Schattenblick

Gegen die mithin auch von Deutschland ausgehende Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen, die für die betroffenen BäuerInnen nichts weniger als die akute Gefahr des Hungerns bedeuten, wehren sich in Brasilien große soziale Bewegungen wie das für eine gerechte Umverteilung des Agrarlandes kämpfende Movimento dos Trabalhadores Sem Terra (MST). Bolsonaro hat die für Landreformen zuständigen Behörden mit zahlreichen ehemaligen und aktiven Militärs besetzt, die die MST-AktivistInnen im Schulterschluß mit den GroßgrundbesitzerInnen massiv bedrohen und kriminalisieren [3]. Nicht nur, daß angekündigt wurde, den 350.000 Familien das Land, das ihnen mit Hilfe des MST zugeteilt wurde, wieder wegzunehmen, vielmehr soll auch die Ermordung von AktivistInnen der Landlosenbewegung, die allein 2018 in den sozialen Kämpfen in ländlichen Gebieten 108 Todesopfer zu beklagen hatten, weitgehend straflos bleiben.

Die Bewegungen der Landlosen und Indigenen werden zu einem Gutteil von Frauen und Feministinnen getragen. Sie sind häufig in mehrfacher Weise von patriarchaler Unterdrückung betroffen, zu der auch die monopolistische Ausbeutung natürlicher Ressourcen zu rechnen ist [4]. Zu dem Problem, in einer ausgesprochenen Machogesellschaft zu leben und auf reproduktive Arbeit festgelegt zu werden, ohne die Mittel dazu zu haben, kommt für viele erschwerend hinzu, daß sie nicht weiß sind oder zu Minderheiten wie der LGTB-Bewegung gehören.

Für diese setzte sich auch die Stadträtin Marielle Franco ein. Die 38jährige lesbisch lebende Schwarze, die in der Favela Maré in Rio de Janeiro aufwuchs und lebte, gehörte der Partido Socialismo e Liberdade (PSOL) an. Sie kämpfte gegen die Akzeptanz von Femiziden, setzte sich für soziale und reproduktive Rechte ein und versuchte, Ermittlungen gegen Polizeibeamte einzuleiten, die für ihr brutales Vorgehen bekannt sind. Marielle Franco wurde am 14. März 2018 in ihrem Auto zusammen mit ihrem Fahrer Anderson Gomes mit den aus einer Schußwaffe des Fabrikates Heckler & Koch abgefeuerten Kugeln regelrecht hingerichtet. Das bis heute unaufgeklärte Attentat gilt als politischer Mord an einer Frau, die den Herrschenden so unbequem geworden war, daß sie beseitigt werden mußte. Anhand von Indizien wird auch eine Verbindung zu Bolsonaro gezogen.


Aktivistin mit 'Lula frei'-T-Shirt hält Rede - Foto: © 2019 by Schattenblick

Auch Hamburg braucht den Widerspruch der brasilianischen Opposition
Foto: © 2019 by Schattenblick


Antifeminismus, Trans- und Homophobie ... mörderisches Gebräu aus toxischer Männlichkeit

Unter den Ländern mit den höchsten Raten von Männern an Frauen begangener häuslicher Gewalt nimmt Brasilien weltweit den fünften Platz nach El Salvador, Kolumbien, Guatemala und Rußland ein. 10 bis 15 Morde sowie Hunderte Vergewaltigungen und andere Gewalttaten müssen die Frauen des Landes täglich erdulden. Dennoch gibt es in diesem 200 Millionen Menschen großen Staat nur 74 Orte wie Frauenhäuser, an denen sich Frauen in Sicherheit bringen können, wenn sie vor häuslicher oder anderer Gewalt fliehen. Schwarze Frauen, die indigenen Gruppen oder der LGBT Community angehören, als auch Politikerinnen und Menschenrechtsaktivistinnen tragen das höchste Risiko, ermordet zu werden.

2006 unterschrieb Präsident Lula ein Gesetz gegen häusliche Gewalt, das als Lei Maria da Penha bekannt wurde. Sie sollte von ihrem Ehemann erschossen werden, doch als sie dabei nicht starb, setzte er ihr mit Stromschlägen zu. Maria de Penha überlebte und initiierte mit ihrem Kampf gegen die Akzeptanz derartiger Gewalttaten durch die Regierung das erste Gesetz gegen häusliche Gewalt in Brasilien überhaupt. Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff unterschrieb 2015 ein Gesetz gegen den Femizid, also die Ermordung von Frauen allein aus dem Grund, daß sie Frauen sind.

Nicht zuletzt der starke Zuwachs an AnhängerInnen, den die aus den USA importierten evangelikalen Kirchen seit einigen Jahren verzeichnen, trägt zur Ausbreitung von Homophobie, Transphobie und Antifeminisums [5] in epidemischem Maße bei. Die Dominanz patriarchaler Moralvorstellungen sorgt auch dafür, daß das restriktive Abtreibungsgesetz des Landes nicht gelockert wird. Schwangerschaftsabbrüche sind in Brasilien nur nach Vergewaltigung oder einem für die Frau lebensbedrohlichen Verlauf der Schwangerschaft legal. Obwohl die Durchführung eines illegalen Schwangerschaftsabbruches mit bis zu 4 Jahren Haft bestraft wird, haben 2015 geschätzte 416.000 Brasilianerinnen abgetrieben. Von diesen Eingriffen wurden lediglich 1667 legal vollzogen, was bedeutet, daß alle anderen Frauen erheblichen medizinischen Risiken ausgesetzt waren, den Abbruch privat bezahlen und dabei als Bittstellerinnen auftreten mußten.


Transparent 'Ohne Trans nicht ganz!' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Unterdrückung sichtbar machen
Foto: © 2019 by Schattenblick

In der von verlogener machistischer Sexualmoral vergifteten Gesellschaft Brasiliens sind Trans-Personen besonders gefährdet. Rund die Hälfte aller weltweit an dieser höchst verletzlichen Gruppe begangenen Morde finden in einem Land statt, über das in der Berichterstattung über den Karneval von Rio der falsche Eindruck einer großen Libertinage in allen Geschlechterfragen erzeugt wird. Die rund 300 im Jahr ermordeten Trans-Menschen fallen fast immer sogenannten Haßverbrechen zum Opfer, die allein aus der Aggression gegen ihre Geschlechterorientierung resultieren. Häufig von den eigenen Familien verstoßen und gleichermaßen so sehr von der Polizei bedroht, daß von dort keine Hilfe zu erwarten ist, sind sie regelrechtes Freiwild von Männern, die ihre Lust am Erniedrigen, Foltern und Zerstümmeln als "abnorm" verunglimpfter Menschen an ihnen ausleben. Einige Taten fanden in aller Öffentlichkeit statt, ohne daß den Opfern jemand zur Hilfe kam, und wurden gefilmt, so daß auch noch ihre FreundInnen und Angehörigen die grausamen Details ihres Endes anschauen können. Auch bei dieser Gruppe von Betroffenen handelt es sich überwiegend um nichtweiße Menschen, was ihre straflos bleibende Angreifbarkeit weiter erhöht.

Gefragt nach der Situation der Frauen unter Bolsonaro antwortete eine brasilianische, in Deutschland lebende Aktivistin, daß diese drohe, sich extrem zu verschlechtern. Die Gewalt gegen Frauen, Schwarze und Minderheiten wie die LGBT-Bewegung nehme weiter zu, zudem würden soziale Garantien etwa im Gesundheitsbereich durch diese Regierung abgebaut, was Frauen ebenfalls schade. Der deutschen Industrie attestierte sie großes Wohlwollen gegenüber Bolsonaro, was die Lage der von seiner Regierung unterdrückten Menschen weiter verschlechtere. Sie erwähnte auch den Staudammbruch in Brumadinho Anfang des Jahres, den eines der drei größten Bergbauunternehmen der Welt, Vale, zu verantworten hat. Es ist nicht die erste Katastrophe, die beim Abbau von Eisenerz durch ein Unternehmen geschah, dessen Profiteure an den Börsen Europas herzlich egal ist, wenn wieder einmal Hunderte Menschen sterben und das knappe Süßwasser ganzer Flüsse vergiftet wird. Ihre Kritik richtet sich an die Bundesregierung, die dem negativen Einfluß deutscher Konzerne zu wenig entgegentrete, wie die transnationalen Unternehmen, die mit ihren zerstörerischen Praktiken fortfahren und nicht einmal die verlangte Entschädigung der Opfer geleistet haben.


Transparent 'Nos Queremos Vivas!' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Feminismus und Antikapitalismus sind eins
Foto: © 2019 by Schattenblick

Der Frauenkampftag ist international, dem wird durch den Blick auf die Lage von Frauen und LGTBIQ-Menschen in den Ländern des Globalen Südens durchaus entsprochen. Für die politischen und ökonomischen Bedingungen ihrer Unterdrückung zeichnet auch das Bürgertum der Bundesrepublik verantwortlich. Dies stärker herauszustellen und zu fragen, was noch alles getan werden kann, um die sozialen Kämpfe in Ländern wie Brasilien oder Argentinien, wo es ebenfalls einen traurigen Rekord an Femiziden zu verzeichnen gibt, mit dem Widerstand gegen antifeministische und transphobe Aggressionen zu verknüpfen trüge zur weiteren Politisierung und einer den wachsenden Herausforderungen des Patriarchats angemessenen Radikalisierung der Frauenbewegung hierzulande zweifellos bei.


Transparente 'Ni Una Menos' und 'Marielle vive'- Foto: © 2019 by Schattenblick

"Nicht eine weniger!" - Kampf dem Femizid
Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Nach Rosa Luxemburg Gesammelte Werke, Band 3, Berlin 1973, S. 410-413
https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/luxemburg/luxemburg-1914/rosa-luxemburg-die-proletarierin

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0119.html

[3] https://www.kooperation-brasilien.org/de/themen/landkonflikte-umwelt/neuer-staatssekretaer-bricht-dialog-mit-mst

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0267.html

[5] http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0078.html


4. April 2019


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