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INTERVIEW/001: Dr. Uwe Denker - "Praxis ohne Grenzen" öffnet in Bad Segeberg (SB)



Ehrenamtliches Engagement angesichts inakzeptabler Verhältnisse

Noch residiert die 'Praxis ohne Grenzen' in den Räumen der Arbeiterwohlfahrt

Noch residiert die "Praxis ohne Grenzen" in den Räumen der Arbeiterwohlfahrt

Wenn heute der Gesundheitsbegriff der WHO, nach dem Gesundheit der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Freiseins von Krankheiten und Gebrechen ist, wie eine unerreichbare Utopie oder schlimmer noch als abwegige Verirrung in irrationale Sphären anmutet, unterstreicht das nur, daß eine umfassende Gesundheitsversorgung endgültig der Ratio einer Verwertbarkeit des Einzelnen weichen soll. Die Gesunderhaltung menschlicher Existenz ist nicht länger von einem allgemeingültigen Anspruch gedeckt, sondern der Erwägung überantwortet, inwieweit die Investition in ihren Fortbestand für nutzbringend erachtet wird. Damit erweist sich die Gesellschaft nicht länger als Hoffnung menschlicher Entwicklung, sondern als deren Katastrophe, indem sie das Überleben zu Lasten der eigenen Art auf die utilitaristische Spitze treibt.

Obgleich der erreichte Produktivitätsstand und Lebensstandard eine gesamtgesellschaftliche Leistung ist, leiden immer mehr Menschen in Deutschland darunter, daß ihre materielle Reproduktion nicht länger gewährleistet ist. Rationalisierungsprozesse, unternehmerische Entscheidungen und politische Weichenstellungen, die sich ihrem Einfluß entziehen, bringen sie in die entwürdigende Situation, mangelnden Einsatzes bezichtigt zu werden, indem Sozialrassismus Armut zum selbstverschuldeten Makel erklärt, den die Gesellschaft weder zu verantworten hat, noch unterstützen darf.

Wer den Spruch der Verfassungsrichter vom 10.02.2010 - nach dem der Satz für Hartz-IV-Empfänger bis zum Ende des Jahres so angepaßt werden muß, daß "allen Beziehern ein menschenwürdiges Dasein" ermöglicht wird -, wie das globalisierungskritische Netzwerk Attac auf seiner Website als einen Etappensieg "beim Kampf gegen die zunehmende Umverteilung von unten nach oben" begreift, wird womöglich spätestens zum Jahresende eine herbe Enttäuschung erleben. Verfassungswidrig sei nämlich, so das Gericht, nicht die Höhe der Zuwendungen, sondern lediglich die Art und Weise der Ermittlung des Bedarfs, weil weder "nachvollziehbar" noch "transparent", besonders für Kinder.

Keinesfalls bedeutet der Richterspruch also zwangsläufig eine Erhöhung der sogenannten Transferleistungen. Schließlich, so war aus dem Munde vieler, die es nicht wissen müssen, weil sie nicht betroffen sind, schon vorher zu hören, ließe sich beispielsweise auch von 132 Euro im Monat leben (Prof. Friedrich Thießen in einer Studie der TU Chemnitz 2008), und eine ausgewogene Ernährung für einen Alleinstehenden sei auch mit 4 Euro am Tag zu bewerkstelligen (Berlins ehemaliger Finanzsenator Thilo Sarrazin). Bereits am Tag der Urteilsverkündung trat Arbeitsministerin von der Leyen, wie am Morgen des 10.02.2010 bei NDR Info zu hören war, dafür ein, Leistungen müßten nicht mehr Geld bedeuten, sondern könnten sich auch im Dienst von Mensch zu Mensch manifestieren, etwa durch Nachhilfeunterricht.

Die jüngsten Äußerungen des Vizekanzlers und FDP-Bundesvorsitzenden Guido Westerwelle und die von ihm geforderte neue Debatte um "soziale Gerechtigkeit in Deutschland" lassen erahnen, wohin die Reise geht. In einem Gastbeitrag für die Welt vom 11.02.2010 bescheinigte der amtierende Außenminister der

Diskussion nach der Karlsruher Hartz-IV-Entscheidung ... sozialistische Züge. Empfänger sind in aller Munde, doch die, die alles bezahlen, finden kaum Beachtung. Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.

Nicht die Bedürftigen müssen mehr Solidarität der Nichtbedürftigen erfahren, nein, umgekehrt sollten die, die nichts haben, Verständnis dafür aufbringen, daß denen, die haben und (deshalb) geben (können), nicht noch mehr zugemutet werden könne, so FDP-Generalsekretär Christian Lindner in Unterstützung seines Parteichefs:

In Deutschland wird Solidarität zu oft nur als Einbahnstraße gesehen, als Solidarität nämlich der Starken mit den Bedürftigen. Diese Form der Solidarität brauchen wir. Aber wir brauchen eben auch eine andere Solidarität, nämlich die Solidarität der Bedürftigen mit den Starken, die nicht überlastet werden dürfen.
(NDR Info am 12.02.2010)

Was das praktisch heißt, läßt sich leicht ausmalen: Noch mehr Verzicht derer, die schon jetzt nicht genug haben, um nur den täglichen Bedarf zu decken, geschweige denn am "sozialen, politischen und kulturellen Leben teilzuhaben".

Der Sozialstaat als befristet notwendiger Leim, der die gesellschaftlichen Widersprüche verkleistert und den tiefgreifenden Bruch notdürftig kittet, hat scheinbar ausgedient. Die postulierte Wohlfahrt aller erweist sich als Fiktion, die nicht nur von den realen Verhältnissen unterlaufen, sondern längst als Sozialdoktrin verworfen worden ist. Wurden in der Vergangenheit Anpassungs- und Leistungsbereitschaft als Voraussetzungen zu Aufstieg und Teilhabe eines Wohlstands angemahnt, der über den Sockel einer allgemein zugestandenen Grundversorgung der meisten hinauswiese, so werden sie heute zwingend eingefordert, wo es ums bloße Überleben geht, ohne daß dieses damit garantiert wäre.

Die an ihre Grenzen stoßende kapitalistische Verwertung treibt ein Regime des Mangels voran, dessen Instrumentarium autoritärer Bevölkerungskontrolle sich in zunehmendem Maße eines Systems von Zuteilung und Vorenthalt lebensnotwendiger Mittel bedient. Die bestmögliche Gesundheitsversorgung wird zum Privileg einer elitären Minderheit, der weitgehende oder vollständige Ausschluß von entsprechenden Leistungen die lebensbedrohende Realität immer weiterer Kreise der Bevölkerung. Der Abstieg aus einer vermeintlich gesicherten Existenz in der Mittelschicht gleicht heute eher einem rasanten Absturz in die Bodenlosigkeit des Elends, weshalb die Unterstützung seitens der Wohlfahrtsorganisationen weit über deren klassische Klientel hinaus längst von Menschen höchst unterschiedlicher sozialer Herkunft in Anspruch genommen wird.

Bereits heute versorgen 800 Tafeln mit ehrenamtlichen Helfern über eine Million Menschen in Deutschland, die sich nicht oder nicht ausreichend ernähren können. Wie viele Menschen mittlerweile ohne Krankenversicherungsschutz leben, ist ungewiß. Offiziellen Angaben zufolge betrifft dies bundesweit Zehntausende, doch liegt die tatsächliche Zahl nach Einschätzung von Experten sehr viel höher. Man kann davon ausgehen, daß vermutlich mehr als 100.000 Obdachlose keine Versicherung haben und zwischen 500.000 und einer Million Immigranten ebenfalls davon betroffen sind. Hinzu kommen Selbständige, die aus ihrer privaten Krankenkasse geworfen wurden, weil sie die Beiträge nicht mehr bezahlen konnten.

In Großstädten bemühen sich bereits überwiegend ehrenamtlich tätige Ärzte und Mediziner um eine gesundheitliche Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherung. Das Personal derartiger Behandlungsstätten arbeitet teils unentgeltlich, teils stellen Einrichtungen oder Einzelpersonen die Sachmittel bereit, wobei personelle Kosten und sonstiger Bedarf auch über Spenden abgedeckt werden. In manchen Städten gibt es seit einigen Jahren ortsfeste Anlaufstellen für nicht Krankenversicherte, an denen auch anonym behandelt wird und keine Überprüfung, Erfassung, Meldung oder Anzeige des legalen oder nicht legalen Aufenthaltsstatus stattfindet. In Berlin wäre beispielsweise das Gesundheitszentrum für Obdachlose in der Pflugstraße zu nennen. In Hamburg können sich in der Zentralen Beratungsstelle der Gesundheitsbehörde Menschen ohne Papiere anonym und kostenlos auf sexuell übertragbare Krankheiten testen und beraten lassen.

Ebenfalls in der Hansestadt gibt es seit 1994 mit dem Medibüro die erste bundesweite Vermittlungs- und Beratungsstelle für Flüchtlinge, wobei diesem Netzwerk 100 Allgemein- und Fachärzte angehören. Die Malteser Migranten Medizin wurde 2008 als allgemeinmedizinische Anlaufstelle eröffnet. Zudem werden in der Wohlfahrtshilfe mobile Arztpraxen eingesetzt, die zu den Obdachlosen fahren, um dort kostenfrei ärztliche Hilfe anzubieten. In Hamburg betreibt die Caritas Fahrzeuge mit der Aufschrift "Mobile Hilfe - medizinische Versorgung für Obdachlose". Seit dem 3. März 2008 gibt es dort auch eine mobile Zahnarztpraxis der Caritas, die Wohnungslosen und Minderbemittelten Behandlung anbietet.

Die AWO Bad Segeberg in der Lübeckerstr. 14

Die AWO Bad Segeberg in der Lübeckerstr. 14

Am 20. Januar 2010 eröffnete der 71 Jahre alte Allgemeinmediziner und Kinderarzt Dr. Uwe Denker in Bad Segeberg seine "Praxis ohne Grenzen", die Bedürftige kostenlos behandelt. Wer kommt, muß nicht versichert sein, kann anonym bleiben und bekommt keine Rechnung. Sein ehrenamtliches Engagement im Ruhestand begründet Denker mit seinen Erfahrungen als praktizierender Arzt, die ihm zeigten, daß Arztbesuche nicht selten und zunehmend wegen fehlender finanzieller Mittel vermieden werden, weil häufig schon die 10 Euro Praxisgebühr oder die Zuzahlungen für Medikamente unüberwindliche Hürden darstellen.

Die "Praxis ohne Grenzen" ist der Segeberger Tafel angeschlossen, der größten bundesweit mit 700 passiven und etwa 100 aktiven Helfern, die wöchentlich 250 Menschen versorgen. Sponsoren der Tafel sind die Städte Bad Segeberg und Wahlstedt, Banken und Sparkassen, namhafte Autohäuser und andere mittelständische Unternehmen, Versicherungen sowie der Lions Club.

Da Dr. Denkers Ehefrau im Vorstand der Segeberger Tafel tätig ist, lag die Zusammenarbeit nahe. Viele Menschen, die sich dort ihr Essen abholen, sind nicht krankenversichert. Ihnen werden nun Heilbehandlungen ebenso kostenlos angeboten wie Lebensmittel. Nach vierjähriger Planung konnte die Praxis eröffnet werden, die jeden Mittwoch von 15 bis 17 Uhr Sprechstunde hält. Medikamente und Material wurden gespendet, wobei sogar eine komplette Praxiseinrichtung, die neu rund 200.000 Euro gekostet hätte, bereitsteht. Der Kreis der ehrenamtlichen Helfer ist inzwischen auf 22 Ärzte und Helferinnen angewachsen. Die Patienten werden vorerst noch im Haus der Arbeiterwohlfahrt behandelt, doch soll noch in diesem Jahr ein Container, der früher Klassenraum einer Schule war, auf dem zukünftigen Gelände der Segeberger Tafel in der Efeustraße aufgestellt werden. Den Praxiscontainer bezahlt die Stadt Segeberg, die auch für die Miete aufkommt. So erklärt sich die Realisierung des Vorhabens aus dem beharrlichen Engagement seines Gründers wie auch seiner Möglichkeit, das vorhandene soziale Gefüge Bad Segebergs zu begehen und einzubinden. Die erste "Praxis ohne Grenzen" im Norden könnte in absehbarer Zeit Schule machen, zumal Denker von mehreren Ärzten aus der Region weiß, die nachziehen wollen. Aus einer umfassenderen Perspektive betrachtet, korrespondiert diese Initiative mit der seit einigen Jahren auch auf Ebene der Bundespolitik beförderten Kampagne für eine Würdigung und Ausweitung des Ehrenamts. Während Sozialleistungen massiv zusammengestrichen werden und die Administration des Elends auf immer niedrigerem finanziellen Niveau für die Empfänger staatlicher Unterstützung vollzogen wird, appelliert die Sozialpolitik an die Bürger, sich in Eigenregie um ihre Angehörigen zu kümmern und überdies karitativ tätig zu werden.

Der absehbaren Gefahr, als Lückenbüßer die Ausfälle des staatlichen Versorgungsauftrags zu kompensieren und gleichermaßen zu kaschieren, versuchte das Hamburger Medibüro mit folgender Formulierung seines Selbstverständnisses Rechnung zu tragen:

Der Staat ist in der Pflicht, die gesundheitliche Versorgung von allen Menschen gleichberechtigt zu gewährleisten. Es ist nicht hinzunehmen und zu leisten, daß zivilgesellschaftliche Initiativen und Ärztinnen und Ärzte mit Hilfe von Spenden diese medizinische Versorgung tragen. Unsere praktische Arbeit ist keine Lösung, sondern ein notwendiges Provisorium in einer inakzeptablen Situation.

In diesem Spannungsfeld unterlassener Hilfeleistung durch den Staat und privat initiierter Hilfe, die oftmals in dem Ruch steht, gesellschaftliche Aufgaben abzuwälzen und das Gewissen der Wohlhabenden im Sinne einer Almosenvergabe, die schon das Mittelalter kannte, zu beruhigen, mithin also gesellschaftliche Ungleichheit zu befestigen statt zu beheben, steht auch das Projekt von Dr. Uwe Denker.

Der Schattenblick hatte die Gelegenheit, Dr. Denker in seinem Haus in Bad Segeberg zu seinem Projekt, zu aktuellen Problemen der Gesundheitspolitik und zu seinem Bild vom Arztberuf zu befragen.

Helfen ist Christenpflicht

Helfen ist Christenpflicht

Zu Beginn des Gespräches geht gerade ein Spendenanruf ein, angeboten werden Medikamente. Dr. Denker ist an allem interessiert.

Dr. Uwe Denker: Ja, ich nehme alles was ich kriegen kann - erstmal jedenfalls.

Schattenblick: Also die Resonanz ist doch erheblich...

Dr. U.D.: ... unglaublich, unglaublich.

SB: Haben Sie damit gerechnet?

Dr. U.D.: Nein, überhaupt nicht, gar nicht. Wir hatten ja keine Vorstellung, was sich daraus ergibt, aus dieser Idee, die wir mal hatten. Genauso wenig, wie ich geahnt habe, daß wir plötzlich 22 Leute in unserem Team sind, die jetzt dahinter stehen.

SB: In so kurzer Zeit.

Dr. U.D.: Ja - ja, innerhalb von vier Wochen - Peng!

SB: Das ist wirklich unglaublich.

Dr. U.D.: 10 oder 11 Ärzte und der Rest Arzthelferinnen, MTAs, Pflegekräfte, Sozialarbeiter.

SB: Und aus welchem Umkreis?

Dr. U.D.: Unser Augenarzt zum Beispiel kommt aus Eckernförde, die meisten aus der näheren Umgebung, also die reisen dann schon mal an, ja. Das Gros kommt aber aus der Region. Aber der Laborarzt, der uns alle Laboruntersuchungen umsonst macht, hat sein Zentrallabor in Lübeck, der kommt natürlich nicht. Dem schicken wir nur kostenlos unsere Blutproben hin. Der Diabetologe ist auch aus Eckernförde, der kommt nur zu bestimmten Beratungen. Die Sozialarbeiterin, die kommt aus Schönkirchen, glaube ich, die macht Sozialberatungen.

SB: Und sind es pensionierte Kollegen wie Sie?

Dr. U.D.: Zum Teil.

SB: Nun sind Sie ja durch Ihr "Gesundheitsforum Segeberg" auch schon bekannt im Umfeld, man kennt Sie und Ihre Arbeit seit fast 10 Jahren.

Dr. U.D.: Ja, und ich bin ja auch 30 Jahre Hausarzt hier in Segeberg gewesen. Das Gesundheitsforum haben wir vor 9 Jahren ins Leben gerufen und unser Ziel ist auch jetzt wieder Vernetzung der verschiedenen sogenannten medizinischen Primärversorger, das heißt, die, die die Basisarbeit machen.

SB: Und wie erklären Sie sich die große Resonanz?

Dr. U.D. (lacht): Ich weiß das auch nicht. Doch, zum Teil weiß ich das von Kollegen, die jetzt mitmachen, die vor Jahren zu mir gesagt haben: Ich bin nie wieder Arzt. Dieser Bürokratismus, der macht mich fertig. Das sind, glaube ich, sechshundert Formulare, die wir ausfüllen müssen, inzwischen ja nun eben ohne Papier. Die Dokumentation steht ganz im Vordergrund und nicht mehr die ärztliche Tätigkeit, für die man mal angetreten ist. Der Diabetologe, bei dem ich vor einiger Zeit gewesen bin, sagte: "Guck' dir mal meine Hände an, guck' die mal an." Ja, die waren ein bißchen rauh. "Also, ab morgen bin ich Tischler. Ich hör auf, mir stinkt dieser Beruf." Und der hat jetzt wieder gesagt: "Ich mach' hier mit."

SB: Ist es nur die Bürokratie, die die Kollegen frustriert?

Dr. U.D.: Ja, die Bürokratie - aber auch die Honorierung - das ist ja grotesk, was die da tun. Also, wenn man damit wirklich Geld verdienen muß...

SB: Ist es mit diesen Fallpauschalen so, daß man sich überlegen muß, wen behandele ich noch? Und wo ist die Grenze? Und was geht nicht mehr?

Dr. U.D.: Das tut der Hausarzt nicht. Der überschreitet die Grenzen und ist dann immer im Regreß in irgendeiner Form. Und dauernd muß man sich irgendwo rechtfertigen und muß jede Pille zählen. Die Krankenkassen machen so eine Statistik und gucken, ob man auch nicht zu früh verordnet hat und was man an Pillen verbraucht. Das ist unglaublich. Man kann nicht mehr wie früher ein Rezept unterschreiben, sondern man muß wirklich zählen...

SB: Wie viele habe ich schon? Ist das Quartal voll?

Dr. U.D.: Ja. Und da mache ich die Praxis lieber mal zu und geh' weg, denn sonst kostet mich das Geld. Also das kann, das kann es doch nicht sein.

SB: Wo soll das enden?

Dr. U.D.: Das kann nur - das muß jetzt auf Null zurückgeführt werden, so, wie wir es früher mal gemacht haben. Diese Reform muß mal eine richtige Reform sein.

SB: Und was hieße auf Null zurück?

Dr. U.D.: So wie ich mal angefangen hab. Ich hab angefangen mit einer Praxisvertretung. Und da hatte ich ein kleines Papier, natürlich, wo ein Name draufstand. Die Krankengeschichte stand gar nicht drauf; die hatte der alte Praktiker, den ich vertrat, sowieso im Kopf von allen seinen Patienten. Und der machte für die Beratung einen Strich und für den Besuch machte er ein Kreuz und das reichte er ein am Ende des Quartals. Damit hatte sich das.

SB: Haben Sie Hoffnung, daß es da wieder hingeht?

Dr. U.D. (lacht): Nee. Ich hab nur Hoffnung, daß wir das jetzt so machen können. Aber ich bin gespannt, wie uns die Bürokratie da die Knüppel zwischen die Beine werfen wird, das weiß ich nicht. Aber wir wollen natürlich auch in Teilen politisch was verändern.

SB: Ihre "Praxis ohne Grenzen" in Bad Segeberg ist ja die erste ihrer Art in Deutschland. Was sind Ihre ersten Erfahrungen seit der Öffnung am 20. Januar? Wer kommt, mit welchen Problemen?

Dr. U.D.: Es sind genau die Leute, von denen ich erwartet habe, daß sie kommen. Genau die Gruppen sind gekommen.

SB: Und das sind?

Dr. U.D.: Das sind die ehemals freiwillig Versicherten in der gesetzlichen Krankenkasse bzw. die privat Versicherten - also der Kaufmann, der sein kleines Geschäft hatte, privat versichert war, die Prämie nicht zahlen konnte, sie auch nicht gezahlt hat und dann keine Krankenkasse hat und krank wird. Oder der gesetzlich Versicherte, der auch freiwillig versichert war, auch die Prämie nicht gezahlt hat, rausgeflogen ist, jetzt nach Gesetz wieder aufgenommen werden muß in die Krankenkasse, aber keinen Leistungsanspruch hat. Der ist zwar dann beispielsweise AOK-Mitglied, aber er hat keinen Leistungsanspruch, d.h., er muß weiterhin die 10 Euro bezahlen, er muß eine Prämie bezahlen, über 150,00 Euro im Monat, aber er wird ärztlich nur im Notfall versorgt, also nicht im Regelfall. Erst wenn er die Schulden abbezahlt hat, rückwirkend zum April 2007, und die fortlaufende Prämie natürlich, dann hat er den vollen Leistungsanspruch.

SB: Aber im Notfall hätte er ja sowieso Anspruch auf medizinische Hilfe, oder?

Dr. U.D.: Das ist dann ein bißchen anders. Wenn er jetzt im Notfall, also z.B. wegen eines Blinddarmdurchbruchs ins Krankenhaus kommt, operiert wird, dann stellt das Krankenhaus an die Krankenkasse - nehmen wir nochmal die AOK, die muß es ja nicht sein, es kann eine andere Kasse sein - die Rechnung und die AOK gibt diese Rechnung weiter an diesen armen Menschen, der nun den Blinddarmdurchbruch hatte...

SB: ... und der muß es selbst bezahlen?

Dr. U.D.: ... der muß es eigentlich bezahlen. Der kann es nun nicht und wird dann juristisch belangt und wenn er nachweist, daß er nichts hat, wird das Verfahren niedergeschlagen. Also hat er auch noch die Juristen am Hals.

SB: Und dann übernimmt das Sozialamt die Kosten?

Dr. U.D.: Wer auch immer, das weiß ich nicht.

SB: Und der Rechtsanwalt und der ganze Mahnlauf muß dann auch noch mitbezahlt werden.

Dr. U.D.: Zum Beispiel.

SB: Das ist ja sehr kostengünstig, um es einmal etwas sarkastisch auszudrücken.

Dr. U.D.: Und dann kommen auch junge Leute, die einfach sagen: "Ich bin in keiner Krankenkasse, mir fehlt ja nichts", und es kommen die Illegalen, die sowieso nicht versichert sind. Diese Klientel ist es eben auch. Es sind nicht unbedingt die Hartz-IV-Empfänger.

SB: Fragen Sie denn nach, wer wer ist?

Dr. U.D.: Vorsichtig. Wenn jemand es nicht sagen will, ist es okay. Und wenn er sagt, er hat kein Geld, dann ist es eben so. Du bist in einem finanziellen Engpaß, im Moment, oder bist überschuldet, das gibt's ja auch.

SB: Wer kommt, kann anonym bleiben. Er oder sie muß sich weder ausweisen noch rechtfertigen noch muß man überprüfbar belegen, daß man tatsächlich nichts hat. Das hat Ihnen ja auch manche Kritiker eingebracht, die gesagt haben, das kann mißbraucht werden von Leuten, die es nicht nötig haben, oder vielleicht auch von Leuten, die illegale Sachen machen. Wie wichtig ist Ihnen diese Anonymität? Hat das mit Ihrem Bild von Menschenwürde was zu tun?

Dr. U.D.: Ja, natürlich, ja ja. Es braucht sich keiner bis aufs Hemd auszuziehen und die Taschen auszuleeren. Wenn jemand sagt, er braucht Hilfe, dann braucht er sie eben. Das ist ja immer so gewesen, das ist ja das Bild des Arztes überhaupt, daß, wenn jemand kommt, dann wird er behandelt, egal, welcher Konfession er angehört oder welcher Hautfarbe oder welcher politischen Partei und es wird auch der Gegner behandelt.

SB: Man hat Sie auch mal den Albert Schweitzer von Bad Segeberg genannt.

Dr. U.D.: Ja, nee, nee, danke.

SB: Trifft das zu?

Dr. U.D.: Nein. Überhaupt nicht (lacht) - das ist das normale Arztbild. Nicht nur ich, sondern viele sind angetreten unter diesem Aspekt. Wir - auch die jetzt mitmachen - kommen aus einer Generation, sind noch Kriegsgeneration. Die sind das noch gewohnt, daß einer auf den anderen angewiesen ist und man sich untereinander hilft. Und irgendwann zahlt es sich auch wieder aus. Das hält bis heute.

SB: Das ist prägend.

Dr. U.D.: Denk' ich mal, denn wir konnten uns den Beruf ja wählen. Damals, als ich Abitur gemacht habe, wußte ich, was ich werden wollte. Alle meine Schulkameraden wußten, was sie werden wollten. Die Kinder heute wissen es ja gar nicht mehr. Und wir konnten es uns auch aussuchen. Ich konnte Arzt werden, dafür brauchte ich nicht 'ne Eins-komma-so-und-so-viel haben im Abitur, das spielte ja gar keine Rolle.

HL: Hat eine jüngere Generation von Kollegen inzwischen eine andere Mentalität?

Dr. U.D.: Ja, eine ganz andere Mentalität.

SB: Und wie sieht die aus?

Dr. U.D.: Das kollegiale Verhältnis z.B. ist ganz anders inzwischen. Ich sehe es, weil unsere älteste Tochter Ärztin geworden ist. Der Konkurrenzkampf ist größer, das Nicht-aufstecken-wollen und Sich-beweisen-wollen. Dieses Team, das eigene Team, das man eigentlich braucht zum arzten, gibt es in dieser Form nur noch selten. Ich hab in meiner Ausbildung in hohem Maße erlebt, wie wichtig dieses Team ist, daß man nicht nur alleine entscheiden muß, sondern eben auch den Spezialisten befragen kann.

SB: Und ist Ihrer Erfahrung nach die Motivation, heute Arzt zu werden, auch schon eine andere? Oder ist es eher der Praxisschock, der dann die Konkurrenz befördert?

Dr. U.D.: In der Klinik ist das Konkurrenzdenken schon groß. Meine Tochter war in einer Uniklinik - da war der Weg nach oben schon heftig.

SB: Sie haben vorhin schon einmal die Vernetzung angesprochen. Es gibt ja vergleichbare Einrichtungen in Deutschland, die sich auf spezielle Bevölkerungsgruppen spezialisiert haben, auf Migranten, auf Flüchtlinge, es gibt Arztmobile für Obdachlose. Gibt es Unterschiede zu Ihrem Ansatz, gibt es Gemeinsamkeiten, gibt es eine Zusammenarbeit, eine Vernetzung und ist eine solche von Ihrer Seite gewünscht?

Dr. U.D.: Ja, die wäre gewünscht. Ich wußte von diesen Dingen eigentlich gar nicht so sehr viel, als wir uns das so ausgedacht haben, es zusammen mit der Tafel zu machen. Die "Praxis ohne Grenzen" ist es eine Unterabteilung der Tafel. Und ich bin Tafelmitglied. Und wir haben uns ganz bewußt mit der Tafel zusammen getan, denn die Tafel hat das Klientel. Unser Motto ist: Die Tafel vergibt Lebensmittel und wir vergeben Mittel zum Leben. Also, wir wollen Medikamente verteilen, die sonst vernichtet würden. Und dieser Ansatz, der existiert sonst nicht. Das ist gewissermaßen unser Alleinstellungsmerkmal.

SB: Sie haben selbst einmal gesagt, Sie hätten vier Jahre Vorbereitungszeit gebraucht für dieses Projekt?

Dr. U.D.: Das war keine Vorbereitungszeit, ich war bereit, nur, ich hatte keinen Raum. Ich hätte sofort loslegen können. Ich hatte meine Arzttasche immer gepackt.

SB: Gab es denn juristische oder bürokratische Hürden, die Sie zu überwinden hatten?

Dr. U.D.: Ich hab die noch nicht kennengelernt. Es mag wohl welche geben mit den Medikamentenverteilungen, da gibt es offenbar Schwierigkeiten, aber ich hab die noch nicht so richtig kennengelernt. Die Ärztekammer hier in Schleswig-Holstein hat gesagt: Okay, mach es. Und der Jurist der Ärztekammer hatte auch keine Bedenken. Meine Kollegen haben mich gefragt: "Darfst Du das überhaupt?" Die Medikamentenausgabe ist schwierig, weil ich Medikamente eigentlich nicht regelmäßig ausgeben darf. Das Dispensierrecht spricht dagegen, aber so, wie es scheint, kriegen wir das hin, weil wir in unserer Gruppierung auch einen Apotheker haben, der das übernimmt. Insofern ist das kein Problem. Und die Medikamentenausgabe darf auch meine Frau machen, die ist PTA, pharmazeutisch-technische Assistentin. Also für mich gibt es keine Schwierigkeiten im Moment. Ich sehe keine.

SB: Und die Medikamente bekommen Sie woher?

Dr. U.D.: Bisher sind es alles Spenden.

SB: Und wer spendet?

Dr. U.D.: Es fing an mit den Altersheimen, die Medikamente übrig hatten, die noch nicht angebrochen und noch benutzbar waren. Die fallen in die Erbmasse und die Altenheime dürfen sie dann abgeben, wenn die Erben zustimmen. Dann haben Apotheken für uns gesammelt und jetzt haben wir den Verein "Medikamentenhilfe für Menschen in Notgebieten" aus Aumühle kennengelernt, der Ärztemuster in großem Stil sammelt. Die haben das bisher nach Bulgarien geschickt oder Rumänien und jetzt schicken sie es nach Bad Segeberg.

SB: Hatte die pharmazeutische Industrie noch keine Einwände?

Dr. U.D.: Nee, im Gegenteil, die möchten mir gerne was schenken. Wir haben eine Firma, Q-Pharm AG, die gehört der Ärztegenossenschaft Schleswig-Holstein und sitzt in Flensburg. Die produzieren eine ganze Menge sehr guter Medikamente und haben von diesen Medikamenten Rückläufe, die zum Teil dadurch zustande kommen, daß Medikamente, die noch nicht verfallen sind, zurückgegeben werden an diese Firma, weil sie von den Apotheken aufgrund bestimmter Verträge mit den Krankenkassen nicht mehr abgegeben werden dürfen. Die Firma muß diese Medikamente dann vernichten und so entstehen Vernichtungskosten zwischen 150.000 bis 185.000 Euro im Jahr. An diese Firma möchten wir 'ran und die möchten uns auch das schenken, aber schenken dürfen sie das nicht.

Spenden warten auf ihren Einsatz

Spenden warten auf ihren Einsatz

SB: Und woran liegt das?

Dr. U.D.: ... irgendeine gesetzliche Hürde, die ich nicht kenne, aber die will die Firma ausräumen. Das brauche ich nicht zu tun. Sie dürfen uns die Medikamente auch nicht spenden. Ich habe gesagt: "Schick' mir die doch, dann gebe ich dir eine Spendebescheinigung über den Wert!", das darf ich nämlich, ich bin ja gemeinnützig in der Tafel, aber sie dürfen nicht. Der Geschäftsführer dort ist selber praktischer Arzt, und der wird versuchen, diese Hürde abzubauen.

SB: Gibt es auch Konkurrenzbefürchtungen von Kollegen, kritische Stimmen aus dem Kollegenkreis?

Dr. U.D.: Ich hab keine gehört. Wir nehmen den Kollegen ja auch gar nichts weg. Im Gegenteil, wir möchten die Patienten, die wir haben, gerne weitervermitteln, wir können sie ja nicht als Dauerpatienten behandeln, das geht ja bei gewissen Sachen, wenn wir nur einmal in der Woche da sind, auch gar nicht. Die möchten wir gerne zurück in die Praxen bringen, auf irgendeine Weise. Das geht aber ja nicht. Das geht nur dann, wenn die Kollegen auf diese 10 Euro, die die armen Leute nicht bezahlen können, verzichten. Das geht aber im Grunde genommen auch wieder nicht. Ich habe gerade mit meiner Tochter gesprochen, die meine frühere Praxis übernommen hat. Im letzten Quartal hat die Praxis 700 Euro ausgegeben, um diese Leute zu unterstützen. Die Praxis muß ja die 10 Euro abführen, wenn sie einen Patientenkontakt hat. Und wenn die nicht bezahlen, dann zahlt es die Praxis. Und 700 Euro sind eben zu viel. Das kann die Praxis nicht leisten, das ist einfach unzumutbar.

SB: Sind wir am Ende des Sozialstaates angelangt?

Dr. U.D.: Nee, das glaube ich nicht. Da ist nur eine Lücke. Und diese Lücke müssen wir schließen.

SB: Und kann man sie auf Dauer durch ehrenamtliche Tätigkeit schließen?

Dr. U.D.: Nein. Eigentlich ist das eine staatliche Aufgabe, eigentlich wäre das eine Aufgabe des Gesundheitsamtes oder irgendeiner staatlichen Einrichtung, dafür zu sorgen, nur die können es im Moment nicht. D.h., wir springen nur ein in einem Fall, der jetzt hier bei uns Notfall ist.

SB: Sie haben im letzten Jahr in der Segeberger Zeitung geäußert, daß Sie auch gesundheitspolitische Impulse setzen wollen. Was meinen Sie damit?

Dr. U.D.: Wir möchten die Gesundheitspolitik unterstützen, die dafür eintritt, daß die Mehrwertsteuer auf Medikamente halbiert wird, jedenfalls auf die rezeptpflichtigen Medikamente, auf den Satz, den die Hotels jetzt auch kriegen oder wie bei Hundefutter zum Beispiel. Wir zahlen ja jetzt die volle Mehrwertsteuer auf Medikamente. Wir möchten auf jeden Fall, daß die 10 Euro Praxisgebühr abgeschafft werden. Wir möchten auf gar keinen Fall - ich finde das ja ganz schlimm -, daß Krankenkassen noch eine zusätzliche Kopfpauschale von 8 Euro jeden Monat erheben.

SB: Was vermutlich erst der Anfang ist.

Dr. U.D.: Das ist erst der Anfang vom Ende, ja. Und da muß gebremst werden. Aber ich hab' noch keine Partei gefunden, die da voll in die Bresche springt.

SB: Gesundheitsminister Rösler hat ja vorgeschlagen, überhaupt eine Kopfpauschale einzuführen, und auf die Frage, wer das denn bezahlen soll bzw. was denn die Menschen machen sollen, die es nicht bezahlen können, geantwortet, es sollten Steuermittel dafür zur Verfügung stehen. Es wird ja auch immer wieder argumentiert, daß, wer die Praxisgebühr nicht zahlen und die Zuzahlungen nicht leisten könne, zu seiner Krankenkasse gehen und sich auf Antrag alles, was 1% bis 2% seines Jahreseinkommens übersteigt, auf Antrag wiederholen könne.

Dr. U.D.: Diese 1% bis 2% kann man sich nicht wiederholen, denn die sind ja weg. Und die haben nun manche Leute nicht. 1% hieße für Hartz-IV-Empfänger 40 bis 45 Euro Anfang des Jahres, die haben die nie, die haben sie nie über. Es sind auch schon junge Leute in der Sprechstunde gewesen, die haben gesagt: "Ich hab jetzt noch 2,20 in meinem Portemonnaie. Mehr hab' ich nicht, das Geld ist weg." Ich hab nicht gefragt, wo es geblieben ist, das kann ich natürlich nicht, ich bin kein Schuldnerberater oder so. Ich bin davon überzeugt, daß sie mit Geld nicht umgehen können, aber das können eben viele nicht.

SB: Inzwischen wurde verschiedentlich vorgeschlagen, den Hartz-IV-Satz herunterzuschrauben, man könne auch mit weniger auskommen. Und dann gibt es ja Leute, die probieren das aus für vier Wochen, mit 'nem vollen Kühlschrank im Rücken, und sagen dann: "Kommt man ganz prima mit klar." Spüren Sie diesen wachsenden Zynismus Menschen gegenüber, die zum Teil ja auch von 'Jetzt auf Gleich' in die Armut abstürzen?

Dr. U.D.: Ja. Ich habe es auch in der Praxis schon erlebt, daß ein Handwerker pleite gegangen ist, nicht aus seiner Schuld, sondern weil er eben einen großen Auftrag angenommen hat, darein investiert hat und plötzlich hat der Auftraggeber gesagt: "Tut mir leid, pleite" oder hat die Firma aufgelöst, und da sitzt der Handwerker mit seinen Investitionen und muß seine Firma schließen. Honorige Leute, die haben sich nichts zu Schulden kommen lassen. Peng. Aus.

SB: Könnte darin auch eine Chance liegen, weil es immer mehr Menschen betrifft, daß daraus eine Gegenbewegung entsteht. Haben Sie da eine Hoffnung?

Dr. U.D.: Nein, das sehe ich nicht. Die Armut hat doch so zugenommen, die Zahl der Sozialempfänger in Hamburg liegt, glaube ich, bei 190.000. Die Zahl ist so riesengroß, das wird irgendwann ein soziales Problem und ich weiß nicht, wie das endet.

SB: Bekommen die Menschen, die zu Ihnen kommen, darüber eigentlich auch Kontakt miteinander?

Dr. U.D.: Mag sein, die sitzen ja im Wartezimmer zusammen. Wie mitteilsam die untereinander sind, das weiß ich nicht, das kann man jetzt, nach drei Malen, auch nicht sagen, das können Sie mich vielleicht nach einem Jahr fragen.

SB: Wie viele Menschen waren da in den ersten Sprechstunden?

Dr. U.D.: Sehr unterschiedlich. Beim ersten Mal überhaupt keiner. Null.

SB: Darüber hat das Hamburger Abendblatt berichtet.

Dr. U.D. (lacht): Ja. Das sagt ja nichts. Ich kann Ihnen noch keine Statistik sagen oder: 'Ich rechne mit so und so viel', weil es so etwas ja noch gar nicht gibt, besonders im Flächenland und in ländlichen Gebieten. In Großstädten wäre ich voll. Sofort. Aber hier - da kennen sich die Leute untereinander, da wollen sie sich nicht outen und wollen hier nicht von vorn, sondern würden lieber von hinten 'reingehen. Dann hören sie noch, daß das Fernsehen kommt mit drei Teams - da würde ich auch nicht hingehen.

SB: Können Sie die mediale Aufdringlichkeit abwehren? Gab es Reporter, die paparazzi-mäßig vor dem Gebäude standen, um noch eine Story abzugreifen?

Dr. U.D.: Nein, bisher nicht. Ich könnte das gar nicht verhindern, aber das ist, Gott sei Dank, nicht passiert. Natürlich werde ich immer wieder bedrängt, du hast doch dann und dann Sprechstunde, da können wir doch Mal kommen mit dem Aufnahmeteam?

SB: Was wollen die aus Ihrer Sicht eigentlich wissen, die Medienleute?

Dr. U.D.: Keine Ahnung (lacht), ich weiß es nicht. Ich glaube, sie wollen von mir wissen und dokumentiert haben, ob es diese Armut tatsächlich gibt und was das für Leute sind, die da so kommen. Also die einzelnen Schicksale interessieren wohl doch. Ich bin überrascht über das Medienecho, muß ich sagen. Das läuft ja seit Wochen in breitestem Stil und ist noch nicht abgeebbt. Das ist mir einerseits recht, weil wir auch gerne möchten, daß diese Idee weiter um sich greift, daß sich also mehr Praxen ohne Grenzen bilden, mit Tafeln zusammen. Ich find' das gut, daß das so zusammengehört, und das scheint auch so zu sein. Inzwischen habe ich mehrere Anfragen aus Schleswig-Holstein um Beratung. Mach ich natürlich dann gerne, denn ich selber will ja nur den Impuls setzen. Ich ziehe mich nach zwei bis drei Jahren zurück - muß ich aus biologischen Gründen, aber das soll ja auch erstmal nur ein Anstoß sein.

SB: Wenn man eine Vision entwerfen wollte: Wenn Sie viele Nachfolger bekommen, was zu wünschen ist, ab wann gibt es so etwas wie eine kritische Masse, einen Zeitpunkt, ab wo die Politik und die Krankenkassen gezwungen wären, Veränderungen vorzunehmen?

Dr. U.D.: Ich habe im Moment eine ganz gute Position, finde ich, der Politik gegenüber. Das haben die anscheinend auch erkannt. Ich bin jetzt jedenfalls zu den verschiedenen Landesausschüssen 'Gesundheitspolitik' eingeladen, denen das nochmal auseinanderzusetzen. Ich hab das früher schon mal gemacht, und habe auch schon mit Ulla Schmidt zusammengesessen. Demnächst werde ich das der SPD vortragen, dann hat die FDP nachgefragt und die CDU kommt auch bald dran. Also, ich werd denen dieses Thema nochmal gezielt vortragen und hab ja jetzt die Presse als Drohung hinter mir. Also, wenn ihr nicht wollt, die fragen jede Woche nach. Jede Woche fragt die BILD-Zeitung bei mir an, wie denn die Lage so ist? Und wenn ich mich da kritisch äußere, dann würden die das sofort schreiben.

SB: Das heißt, Sie haben schon Rückenstärkung durch die Medien?

Dr. U.D.: Hab ich den Eindruck.

SB: Ist denn unter der Prämisse von Kostensenkung, Wirtschaftlichkeit und Gewinnmaximierung eine andere Gesundheitsfürsorge in der Bundesrepublik überhaupt denkbar?

Dr. U.D.: Das ist die große Frage. Das ist ja nun die große Frage an Herrn Rösler, ob ihm das gelingt, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen.

SB: Was ist die Alternative?

Dr. U.D.: Es gab eine Alternative, die für uns als Freiberufler aber keine ist. Das war die Staatsmedizin, die Ulla Schmidt ja nun mit Gewalt durchsetzen wollte. Das wäre für mich keine Lösung. Das hätte den freien Berufsstand zunichte gemacht. Meinen Beruf hab ich ja gewählt, weil ich freiberuflich tätig sein wollte. Die Freiberuflichkeit würde damit vernichtet.

Ich meine allerdings, daß noch mehr Geld in die sozialen Systeme rein muß, obwohl da schon Milliardenbeträge drin sind, die aber zum Teil fehlgesteuert sind.

SB: Wo liegen die krassesten Fehlsteuerungen?

Dr. U.D.: Bei der Pharmaindustrie. Die Pharmaindustrie macht nach wie vor zweistellige Gewinne im Jahr. Wenn man mal die Nachbarländer ansieht, sind die Arzneimittelkosten hier bei uns auf jeden Fall zu hoch. Die Industrie muß sich darauf einlassen, ein bißchen runterzuschrauben.

SB: An welche Nachbarländer denken Sie? Gibt es irgendwo andere gesundheitspolitische Grundsätze, nach denen verfahren wird?

Dr. U.D.: Es gibt kein Idealsystem, leider nicht, ob man Schweden nimmt oder Dänemark..

SB: In Schweden gibt es ja auch Zuzahlungen...

Dr. U.D.: ... in erheblichem Maße. Gerade habe ich von einem Kollegen gehört, daß die Patienten wegen dieser hohen Zuzahlungen da noch seltener zum Arzt gehen. Das medizinische Idealsystem gibt es anscheinend nicht. Aber wir arzten auf sehr hohem Niveau, muß man ja wirklich sagen.

SB: Aber ja auch irgendwie verkehrt. Sie haben selber moniert, daß zu wenig in die Vorsorge gesteckt wird, daß Menschen, die es eigentlich bräuchten und denen man frühzeitig helfen könnte, wegen mangelnder Mittel, die sie selber eben nicht aufbringen können, nicht geholfen wird und hinterher eine Lawine kommt, weil man nicht frühzeitig einschreiten konnte.

Dr. U.D.: Ich glaube, da hat schon ein Umdenken stattgefunden, die Prävention bekommt doch anscheinend immer mehr Gewicht. Die Politik dachte ja immer, das wäre umsonst zu haben, aber Vorsorge kostet eben auch Geld. Aber daß sich das später amortisiert, ist da vielleicht nicht mit einkalkuliert. Ich finde, die besten Voraussagen, was die Zukunft betrifft, macht der Professor Beske vom Institut für Gesundheitssystemforschung in Kiel, der das Gesundheitswesen eigentlich am besten übersieht - deswegen gebe ich sehr viel auf seine Voraussagen und seinen Rat. Er ist inzwischen weit über 80, aber immer noch topfit und hat ganz gute Ansätze.

SB: Und was schlägt er vor?

Dr. U.D.: Die aktuellen Geschichten weiß ich von ihm nicht mehr, aber er ist vom Ansatz her CDU-geprägt gewesen und war, glaube ich, mal Staatsekretär. Als Jungmediziner habe ich ihn immer belächelt, weil er alles so schwarz gemalt hat, aber es ist doch vieles eingetreten.

SB: Heute hat die Wirklichkeit jeden Pessimismus überholt.

Dr. U.D.: Ja, genau. So ist das anscheinend.

SB: Läuft eine Initiative wie die Ihre Gefahr, den Staat von seinen Pflichten zu entbinden und eine Klassenmedizin - Schutz für die 'Leistungsträger' versus Almosen für die Ausgegrenzten - zu befördern?

Dr. U.D.: Ich bin nicht dafür, alles dem Staat zu überlassen. Ich finde, die Eigeninitiative oder die Selbsthilfe oder die Nachbarschaftshilfe sind auch hoch anzusetzen. Also, ich würde das nicht so sagen.

SB: Nun hat der Staat ja die Aufgaben, die er hat, nicht unbedingt auf eine Weise wahrgenommen, die wünschenswert wäre.

Dr. U.D.: Wenn man z.B. die Krankenhäuser sieht, die in kommunaler Verwaltung waren und die jetzt privatisiert sind, da läuft es für den Patienten zum Teil jetzt besser. Ob auch für die Angestellten, wäre wieder eine andere Sache, das ist eine zweischneidige Angelegenheit.

SB: In der Sozialarbeit kommt man oft an eine Grenze, wo man sich fragt: Mensch, was mache ich eigentlich hier? Ich bin überzeugt von dem, was ich tue, aber bin ich denn nicht einfach nur ein Lückenbüßer?

Dr. U.D.: Das sehe ich als Arzt etwas anders. Ich kann ja wirklich gezielt helfen - hoffe ich jedenfalls - oder Rat geben oder wie auch immer, und erwarte dafür eigentlich kein Geld oder so etwas. In der Lüneburger Heide gab es einmal einen Schäfer, den Schäfer Ast. Mein erster internistischer Chef und Lehrer hat sich immer auf diesen Schäfer Ast berufen, der Naturheilkundler war und einen wahnsinnigen Zulauf hatte, an manchen Tagen 800 bis angeblich 1000 Patienten. Der hat seine Diagnose, seine Beratung gemacht und kein Geld dafür genommen. Die Leute haben ihm das aber auf den Tisch gelegt, er hat denn nur die Schublade aufgemacht und das Geld reingeharkt und Schublade wieder zu.

SB: Er hat quasi von Spenden gelebt...

Dr. U.D.: ... aber gut gelebt...

SB: ... was immer jemand geben konnte.

Dr. U.D.: Was man geben konnte. Und er hat dann jedem einen Rat gegeben und damit waren viele Leute zufrieden. Also ich erwarte nicht unbedingt jetzt für meinen Rat irgendein Geld. Wenn jemand sich bedanken will, kann er das auch in Naturalien tun.

SB: Hat dieser Schäfer damals Probleme gekriegt, oder hatten Sie Probleme mit der Kollegenschaft, so daß jemand gesagt hätte: "Moment, so kann man doch nicht arbeiten."

Dr. U.D.: Nee. Einige Kollegen sind ja auch in ihrem Urlaub ins Ausland gefahren und haben da Hilfe umsonst geleistet. Im Kreis der Kollegen hier in Segeberg sind viele gewesen, die nach Peru gefahren sind, und ihren Urlaub hingegeben haben, nur um dort zu helfen; nicht unbedingt für Geld.

SB: Das entspräche möglicherweise dem, wie man sich den Arztberuf, vielleicht naiverweise, ursprünglich einmal vorgestellt hat.

Dr. U.D.: So ist es, ja, und das ist ja eigentlich nur eine Christenpflicht, wenn man so will. Und so wird es ja auch gesehen. Ich habe mit Geld, auch mit Abrechnungen eigentlich nie was zu tun haben wollen, das hab ich immer meine Frau machen lassen. Ich bin nicht so, wenn jemand durch die Tür kommt, daß mir einfällt, der bringt so und so viel, das ist ja eine abartige Denke. Oder der bringt mir so viel Punkte, man kriegt ja kein Geld, man kriegt ja Punkte dafür. Das hab ich so, Gott sei Dank, nicht gelernt.

SB-Redakteur im Gespräch mit Dr. Uwe Denker

SB-Redakteur im Gespräch mit Dr. Uwe Denker

SB: Die Entwicklung geht ja auch dahin, daß das Solidarprinzip immer mehr abgebaut wird, daß es immer öfter heißt: "Du bist für Deine Krankheit selber verantwortlich. Du hast falsch gelebt, Du hast Dich falsch ernährt...

Dr. U.D.: Nicht in dieser kleinstädtischen Atmosphäre. Das ist ja wirklich der große Vorteil dieser Kleinstadt, daß man sich untereinander über Jahre kennt und sich berät, auch auf anderem Gebiet. Als ich hier neu war, war meine erste und beste Beratungsstelle der Männerchor. Das war eine Solidargemeinschaft, die es denn so gab, oder den Schützenverein. Man hilft sich untereinander und das ist eben das Nette hier. Und das ist auch so geblieben.

SB: Wofür man keine Institution braucht.

Dr. U.D.: Wofür man auch kein Geld kriegt. Vielleicht mal ein ausgegebenes Bier, und das ist auch okay.

SB: Sie sagten, daß Sie das Projekt vielleicht noch zwei, drei Jahre weitermachen, das sei jetzt erstmal die Prognose...

Dr. U.D.: Naja, ich bin Arzt und kann so ungefähr abschätzen, was man so noch machen kann. Ich bin 71 und hoffe, daß ich das noch so vier, fünf Jahre fortsetzen kann. Ich werde nicht so alt werden wie meine Mutter, ich werd keine 99 werden. Aber solange ich das kann und mich in der Lage fühle, das zu machen, mach ich es natürlich, das ist klar.

SB: Welche Grenzen hat Ihre "Praxis ohne Grenzen"? Könnte man aus Ihrer Sicht noch mehr tun?

Dr. U.D.: Ja, das ist schwierig zu sagen. Wenn wir das erreichen, was wir wollen, daß wir die Patienten ausreichend betreuen können, dann wäre ja schon viel geholfen. Das können wir aber nicht und werden es nie können, weil wir ja keine volle Sprechstunde haben. Wir haben nur ein Mal in der Woche zwei Stunden, natürlich werden wir das erweitern, wenn wir erst feste Räume haben, aber wir können nie die Aufgaben einer Hausarztpraxis übernehmen. Die läuft ja ganz anders. Wir haben in einer Hausarztpraxis ungefähr 100 bis 120 Kontakte am Tag, d.h., wir haben, für unsere Region hochgerechnet, alle die, die für uns im Forum oder an der Basis tätig sind, 20 km um die Kreisstadt herum, etwa 10.000 Kontakte am Tag, das können wir ja gar nicht. Das sind Zahlen, die sind ja gar nicht zu erreichen.

SB: Und scheitert das im Moment eher an den Räumen oder ...

Dr. U.D.: Auch an unseren Möglichkeiten.

SB: Das heißt, wenn noch mehr Leute mitarbeiten würden, könnte es mehr werden?

Dr. U.D.: Ja, aber das wird dann eine Organisation, die ist dann nicht mehr handhabbar. Ich habe ein Ein-Raum-Büro und das wäre dann für mich nicht mehr steuerbar.

SB: Da treten dann wieder Effekte auf, die man eigentlich gar nicht haben will.

Dr. U.D.: Wie bei der Tafel. Die Tafel ist ja auch riesengroß, das ist dann fast wie ein Großhandel.

SB: Sie legen, wie schon gesagt, großen Wert auf die Möglichkeit, daß, wer zu Ihnen kommt, anonym bleiben kann. Wenn Sie jetzt feststellen, jemand hat Krebs oder braucht eine dringende Operation, könnten Sie den überweisen und seine Anonymität trotzdem wahren?

Dr. U.D.: Das ist dann die Grenze, das kann ich nicht.

SB: Was passiert mit so jemandem?

Dr. U.D.: Den schicke ich einfach ins Krankenhaus, dann werden die sehen. Die werden es auch machen. Die werden ihn nicht wegschicken. Das heißt, ich weiß es nicht. Als ich vor einigen Wochen hier anfing und das in der Presse war, kriegte ich die erste E-mail aus Berlin von einer Unternehmerin, die als junge Frau nicht krankenversichert war, weil sie ein kleines Geschäft hatte, kein hohes Einkommen, sie hatte ihre Prämie nicht bezahlt und es stellte sich heraus, daß sie schwarzen Hautkrebs hatte, ein Melanom. Sie ist dann damit in die Charité gegangen und die haben gesagt: "Sie sind nicht versichert, tut uns leid. Dann können wir Sie eigentlich nicht behandeln."

SB: Und haben sie weggeschickt?

Dr. U.D.: Ja.

SB: Man hat sie nicht behandelt?

Dr. U.D.: Nein. Aber sie hat dann nachher zwei Ärzte gefunden, die haben sie behandelt.

SB: Ist das denn überhaupt zulässig, daß ein Krankenhaus so eine Behandlung verweigert?

Dr. U.D.: Das weiß ich nicht, das ist nicht bis ins letzte geprüft worden. Es war ja kein lebensbedrohlicher Zustand, in dem Moment wenigstens, es war ja die Erstdiagnose. Und das ist ja ein ganz, ganz schrecklicher Fall. Ich hab' das aber zu den Akten gelegt. Die Frau hatte geschrieben, wenn du irgendwelche Auskünfte haben willst, wie es mir da vor vier, fünf, Jahren ergangen ist, dann kannst du mich gerne fragen.

SB: Gibt es eigentlich einen Austausch im Kollegenkreis in solchen Fällen?

Dr. U.D.: Ja. Wir sind ja ein Netzwerk, als "Gesundheitsforum Segeberg", um das auch nochmal zu sagen, wir sind ein Netzwerk von Primärversorgern. Wir haben unsere regelmäßigen Zusammenkünfte und tauschen diese Probleme aus. Und das Gesundheitsforum gehört einem Begegnungs- und Beratungszentrum hier in Segeberg an. Das ist eine Einrichtung mit 16 verschiedenen Institutionen, von der Schuldner- und Suchtberatung bis hin zu Behördenlotsen. Wir haben regelmäßig einmal im Monat Konferenzen und da werden die Probleme dann auch besprochen. Das ist ein ziemlich gutes Netzwerk. Auch einen psychosozialen Arbeitskreis, alles mögliche gibt es da. Da kennt man sich. Es gibt Pflegekonferenzen für den Kreis, überall sind wir drin, überall mischen wir mit und deswegen ist auch keine Zeit für irgendwelche Sprechstundenausdehnung. Dafür hätte ich - trotz Ruhestand - keine Zeit, weil ich noch in diesen Vernetzungen drin bin, außerdem noch in einer Vernetzung der Europäischen Union, über die Ostsee-Anrainerstaaten.

SB: Gibt es etwas Vergleichbares zu Ihrer "Praxis ohne Grenzen" auch in anderen Ländern?

Dr. U.D.: Das weiß ich nicht, ich habe meine Kollegen noch nicht befragt, aber das werde ich demnächst tun. Wir starten jetzt gerade wieder ein neues Projekt in den Ostsee-Anrainerstaaten und wir haben dann regelmäßig Zusammenkünfte. Da muß ich mich mal erkundigen.

SB: Ist Ihre Grundstimmung eher resignativ pessimistisch oder eher hoffend positiv?

Dr. U.D. (lacht): Nie pessimistisch gewesen, nee. Manche Kollegen sagen: "Du erreichst ja doch nichts, was willst du denn?"

SB: Und was erreichen Sie, aus Ihrer Sicht?

Dr. U.D.: Daß wir die Praxis einrichten können, daß uns die Stadt jetzt ein Gebäude hinstellt, wo wir kostenlos tätig sein können, daß uns ein Energielieferant kostenlos die Energie liefert und daß die Sponsoren wirklich 'bei Fuß' stehen und uns die Praxis einrichten. Das ist doch grandios, und die Kollegen aus der ganzen Republik schicken mir irgendwas, das sind Spenden, die Sie hier sehen, und die sind nur hier, weil ich noch keine anderen Räume habe. Nein, die Unterstützung auch von der Stadt ist groß und natürlich auch von der Tafel. Das muß ich immer wieder sagen. Ich hatte erst so das Gefühl, wir legen ihr da so ein Kuckucksei rein, denn das kostet ja auch Geld. Die Tafel hat nicht geahnt, was wir für Unkosten haben. Andererseits sind diese Dienstleistungen - wir machen 50 Sprechstunden in diesem Jahr - hochqualifiziert. Ein solches Team, wenn das bezahlt werden müßte, das würde eine ganz schöne Summe ausmachen.

SB: Aber entlastet sich der Staat nicht auf Kosten der Ehrenamtlichen von seinen Aufgaben? Wenn die Stadt die Kosten und die Miete für den Container übernimmt, ist das nicht - etwas salopp ausgedrückt - ein billiger Deal?

Dr. U.D.: Ich seh das ein, aber die Stadt, unsere Stadt speziell, die ist so in den Miesen, die kommt hinten und vorne nicht hoch. Die haben 5,2 Millionen Miese - die sind platt. Insofern find ich das schon ganz okay, wenn die das so machen. Und sie sind mit dem Bauhof dabei und mit anderen Hilfsangeboten, das ist schon ganz toll.

SB: Sehen Sie das Ehrenamt als eine Lösung des Problems?

Dr. U.D.: Ohne das Ehrenamt ist der Staat, ist unsere Gesellschaft undenkbar, aber das wird von der Politik inzwischen auch gesagt. Gerade Ministerpräsident Carstensen hat hier doch Zahlen genannt und gesagt, wenn wir Euch nicht hätten, wär das schon übel. Und ich halte es auch für notwendig. Das ist eben diese Nachbarschaftshilfe, die wir nach dem Krieg kennengelernt haben. Wir hatten alle nix und wir haben uns irgendwie untereinander ausgeholfen, und dadurch haben wir überlebt.

Ich will ja gar nicht, daß der Staat so viel tut und so viel reinredet. Der soll seinen Kram machen, richtige Straßen bauen, oder was weiß ich, aber das andere machen wir schon selbst.

SB: So, wie es anläuft bei Ihnen - die Unterstützung, die Sie erfahren, mehr, wie Sie sagen, als Sie je erwartet hatten - spräche das für dieses Konzept.

Dr. U.D.: Vor allen Dingen, mit welcher Freude die Mitarbeiter mitmachen, das ist unglaublich. Auch die Arzthelferinnen, die vor 20 Jahren aufgehört haben, die könnte ich jede Woche einteilen, das bringt ihnen Spaß. Das ist die ursprüngliche Geschichte, wie wir es eigentlich wollten. Wir werden sehen, wie sich das auf die Dauer umsetzen läßt.

SB: Sie nutzen jetzt einen Raum in der Arbeiterwohlfahrt - wann geht's los mit dem Container?

Dr. U.D.: Der Container steht ja schon, der muß nur umgesetzt werden, und dazu muß das Wetter auch gut sein. Da kommt dann ein großer Kran und das wird ein Spektakel und da darf auch das Fernsehen dabei sein, wenn die den da an den Haken nehmen, das ist dann erlaubt. Der Architekt hat jetzt die Baupläne für den Container gemacht, auch umsonst, das ist schon doll. Das ist ein Klassenraum, ungefähr 70qm² groß, den er nach meinen Plänen so aufgeteilt hat, daß mehrere Behandlungsräume und eine Wartezone entstehen.

SB: Führen Sie Ihren Erfolg darauf zurück, daß Bad Segeberg eine kleinere Stadt ist?

Dr. U.D.: Das befördert sicher eine ganze Menge. Wir wohnen ja gerne in dieser Stadt und wir finden, was die Stadt macht, ist auch okay. Das ursprüngliche Ziel war ja, Bad Segeberg zu einem Gesundheitszentrum zu machen im Lande Schleswig-Holstein. Wir wollten auch als niedergelassene Ärzte hier so ein bißchen Power machen und haben es auch die ganze Zeit gemacht. Vor vielen Jahren hat der Thönnes von der SPD, ehemaliger Staatsekretär bei Ulla Schmidt, der lange hier in Segeberg gewohnt hat, gesagt, ihr müßt mal so einen richtigen Knaller machen, und das ist ihm gleich wieder eingefallen, als sich das denn mit der Tafel so ergab. Die Tafel sollte große Räume kriegen, in einer alten Fabrikhalle und da wäre eben viel Platz gewesen für eine "Praxis ohne Grenzen". Mit der ersten Vorsitzenden der Tafel, Herdis Hagemann, eine Powerfrau ersten Ranges, haben wir uns zusammengetan und gesagt, wir machen da was. Und das war der Knaller. Aber dann wurde es mit den Räumen nichts, und so sind wir eben seit drei Jahren gebremst. Im Grunde genommen ist das Ganze dadurch entstanden, daß zwei Leute mit Power was gemacht haben. Das liegt auch an der Person, natürlich. Aber jetzt hängt es nicht mehr unbedingt an meiner Person, sondern die Kollegen, die fünf Hausärzte, die mitmachen, sind genauso zu werten wie ich.

SB: Das wäre für eine Übergabe, wenn Sie in ein paar Jahren aussteigen müssen oder aussteigen wollen, ein beruhigendes Gefühl.

Dr. U.D.: Eben, eben. Im Augenblick ist es vielleicht noch ganz gut, daß ich beratend tätig sein kann. Und ich bin auch für die anderen Städte angefordert worden, eine Beratung zu machen, und das mache ich natürlich auch. Wenn Itzehoe jetzt sagt, wir machen das auch oder Bad Schwartau will ...

SB: Sind da schon Leute tätig?

Dr. U.D.: Sie wollen damit beginnen. In Bad Schwartau - ich weiß nicht, wie weit die Bürgerschaft da ist - steht schon eine Ärztin bereit und die AWO dort auch. Und in Itzehoe werden von einer Organisation Räume angemietet und dann soll auch da was passieren. Ich knüpfe die Kontakte zur dortigen Tafel und den Leuten, die die Räume kostenlos anbieten. Auch die Insel Föhr ist interessiert. Also es tut sich was, innerhalb kurzer Zeit. Neumünster wird wohl demnächst dazukommen und wenn wir da Starthilfe leisten können, dann machen wir das.

Wir möchten auch diese Medikamentenvernichtung unterbinden, so weit das möglich ist. Der hiesige Wege-Zweckverband Segeberg, der nur die Region hier abdeckt, vernichtet im Jahr 22 Tonnen Medikamente. Davon ist mindestens ein Drittel brauchbar. Und das kann nicht wahr sein.

SB: Und decken die Medikamente, die Sie bekommen, den Bedarf? Schließlich kann man bei Medikamenten nicht, wie bei den Lebensmitteln, die die Tafel ausgibt, sagen: "Heute gibt's keinen Schinken, heute gibt's Käse", völlig egal, Hauptsache, es gibt was zu essen. Bei Medikamenten ist das natürlich schon schwieriger.

Dr. U.D.: Das ist schwierig, da wissen wir noch nicht, wie wir zurechtkommen, das müssen wir sehen, denn es kann sein, daß wir plötzlich Antibiotika brauchen, die wir nicht haben. Aber da hat der Verein aus Aumühle gesagt: "Wir haben Geld, wir würden Euch diese Medikamente auch kaufen." Die haben anscheinend Spendengelder und würden für einen solchen Fall einspringen. Also, das finde ich ganz toll, das haben die mir gestern erst geschrieben. Das macht eine Frau Leddin, mit Vornamen 'Sonne', das paßt ja sehr gut, und die scheint sehr aktiv zu sein. Ich hab das noch gar nicht so übersehen, aber sie scheinen seit Jahren in großem Stile Medikamente nach Bulgarien und Rumänien zu verschicken. Und die machen immer so Sammelaktionen, demnächst wohl wieder. Im Mai wollen sie in die Praxen gehen und nach Ärztemustern fragen, die nicht gebraucht werden. Von diesen Vereinigungen und von diesen Leuten wußte ich vorher nichts. Ich wußte, daß in Lübeck so ein Mobil rumfährt oder rumfuhr und in Hamburg die Obdachlosen besucht werden und daß in Berlin wohl eine größere Ambulanz arbeitet. Ich kenne die Beteiligten aber persönlich nicht, wir haben keinen Kontakt, sind nicht vernetzt. Wir werden es möglicherweise, wenn wir die Runde über die Tafel machen, die Tafel ist ja bundesweit vernetzt, aber die "Praxis ohne Grenzen" nicht. Und ich habe auch nicht vor, einen Verein daraus zu machen, ich bleibe schön bei der Tafel. Wie gesagt, ich will die ganze Geschichte nicht nur an meine Person binden. Jetzt sind wir ein Team. Ich bin zwar Teamleiter, aber das Team ist genauso wichtig.

SB: Könnte man Sie als einen Überzeugungstäter charakterisieren?

Dr. U.D.: Ja, das können Sie.

SB: Herr Dr. Denker, wir bedanken uns für das ausführliche Gespräch.

Warten auf den Frühling ...  Die zukünftigen Praxisräume im alten Schul-Container

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17. Februar 2010