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INTERVIEW/030: Megacities - Bruchlinien der Systeme (SB)


Interview mit Prof. Dr. Javier Revilla Diez und Dr. Habil. Daniel Schiller am 16. April 2013 in Bonn



Prof. Dr. Javier Revilla Diez studierte Geographie an der Universität Hannover. Im Jahr 1995 promovierte er mit einer Dissertation zum Thema "Systemtransformation in Vietnam: Industrieller Strukturwandel und regionalwirtschaftliche Auswirkungen" an der Universität Hannover. Im Jahr 2001 wurde er dort mit der Arbeit "Betrieblicher Innovationserfolg und räumliche Nähe - Zur Bedeutung innovativer Kooperationsverflechtungen in metropolitanen Verdichtungsregionen, die Beispiele Barcelona, Stockholm und Wien" habilitiert. Von 2002 bis 2006 war Prof. Revilla Diez als Professor für Wirtschaftsgeographie an der Universität Kiel tätig. Seit 2006 ist er Professor und Geschäftsführender Leiter des Instituts für Wirtschafts- und Kulturgeographie an der Leibniz Universität Hannover. Zudem war er von Dezember 2005 bis September 2011 Vorstandsvorsitzender und wissenschaftlicher Leiter des Niedersächsischen Instituts für Wirtschaftsforschung (NIW). Seit Oktober 2011 ist er Stellvertretender Vorsitzender des NIW. [1]

PD Dr. Daniel Schiller studierte Diplom-Geographie mit Schwerpunkt Wirtschaftsgeographie an der Leibniz Universität Hannover und an der Wirtschaftsuniversität Wien. Er war von 2003 bis 2012 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschafts- und Kulturgeographie der Leibniz Universität Hannover tätig. Dort wurde er im Jahr 2005 mit einer Arbeit zu "Universitären Industriekooperationen in Thailand" promoviert und habilitierte sich im Jahr 2012 für das Fach Geographie. Die Habilitationsschrift trägt den Titel "Informelle Governance und räumliche Organisation von Produktion und Aufwertungsprozessen in institutioneller Perspektive - das Beispiel der Elektronikindustrie in Hongkong und dem Perlflussdelta, China". Seit Oktober 2012 ist Dr. Schiller als wissenschaftlicher Mitarbeiter am NIW tätig. [2]

Am Rande des zweitägigen Abschlußkolloquiums des DFG-Schwerpunktprogramms "Megacities - Megachallenge. Informal Dynamics of Global Change" vom 14. bis 16. April im Wissenschaftszentrum Bonn hatte der Schattenblick die Gelegenheit, ein Gespräch mit Prof. Dr. Javier Revilla Diez und Dr. Habil. Daniel Schiller zu führen.

Im Gespräch am Tisch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Javier Revilla Diez und Daniel Schiller
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Im Rahmen der Session "Informal Urban Economies - a Mode of Transition?" wurde unter anderem ein Forschungsprojekt vorgestellt, das sich mit der Einführung von Supermärkten in Dhaka befaßt hat. Dabei kamen auch Befragungen traditioneller Markthändler zur Sprache, die in dieser neuen Form des Einzelhandels keine ernsthafte Konkurrenz für ihre Erwerbstätigkeit sahen. Andererseits ist bekannt, daß hinter jedem Markthändler ein ganzer Familienverband steht, der auf seine Einkünfte angewiesen ist. Müßte man nicht aus europäischer Sicht und in Anbetracht der uns bekannten Konzentrationsprozesse befürchten, daß das Vordringen der Supermärkte in Dhaka auf Dauer ein ganzes Netz gewachsener Strukturen zerstört und damit die Existenz sehr vieler Menschen gefährdet?

Javier Revilla Diez: Wie ich vorab sagen muß, ist Dhaka nicht unser Thema. Wir beide haben über das Perlflußdelta gearbeitet und dort technologische Aufwertungsprozesse und deren Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen wie auch die gesamte Region untersucht. Was Sie für die Veränderungen im Einzelhandel Dhakas beschreiben, ist natürlich ein Prozeß, der stets mit dem technologischen Wandel einhergeht. Auch bei uns gab es früher eine sehr kleinteilige, auf Nahversorgung ausgerichtete Einzelhandelsstruktur. Als dann die Supermärkte auf dem Vormarsch waren, kam es zu massiven Verdrängungsprozessen. Diese vielen kleinen Tante-Emma-Läden und Spezialitätengeschäfte, die es ursprünglich im Einzelhandel gab, sind im Zuge dieser Verdrängung nach und nach verschwunden. Genau das wird wahrscheinlich auch in Bangladesch passieren. Ich war kürzlich in Vietnam und habe dort die ersten Supermärkte gesehen, auch in China findet man sie. Das ist ein Prozeß, den wir auch durchlaufen haben und den man wahrscheinlich nicht aufhalten kann.

SB: Wir können angesichts unserer eigenen technologischen und industriellen Vorgeschichte natürlich nicht von Entwicklungs- und Schwellenländern verlangen, daß sie nicht ihrerseits entsprechende Prozesse in Gang setzen. Allerdings stellt sich doch die Frage, ob es nicht gerade aufgrund unserer Erfahrungen geboten wäre, absehbaren Folgen dieser Entwicklungslogik Rechnung zu tragen, sie als Problematik mitzudiskutieren und gemeinsam nach anderen Ansätzen zu suchen, beispielsweise traditionelle lokale Strukturen zu schützen und zu stärken.

Daniel Schiller: Wir haben es mit einem Sektor zu tun, der in der Tat in vielen Ländern insofern reguliert ist, als man das Eindringen ausländischer Supermärkte per Auflage verhindert. Zugleich stellt sich natürlich die Frage, wie eine Entwicklung des Einzelhandels zugunsten der lokalen Produzenten gestaltet werden kann. Ich nenne ein Beispiel: Supermärkte können höhere Qualitätsstandards setzen und ihren Kunden sichere Produkte anbieten. Zugleich ist es möglich, die bäuerlichen Produzenten einzubeziehen und die gesamte Wertschöpfungskette vom Anbau des Produkts bis an die Ladentheke zu verbessern. Das kann auch Chancen für die Landwirte bergen, die dadurch ihre Produktion verbessern und vielleicht sogar zu Exporteuren werden können. Gelingt es ihnen, lokale Zulieferer eines internationalen Supermarktkonzerns zu werden, weil ihre Produkte dessen Qualitätsstandards erfüllen, steigert das die Potentiale Bangladeschs, nicht nur Güter zu verkaufen, sondern in ein internationales Vertriebsnetz aufgenommen zu werden. Daher gibt es in der Tat Chancen und Risiken. Was Sie hinsichtlich des Verlusts von Arbeitsplätzen ansprachen, ist natürlich zunächst ein Verdrängungswettbewerb, weil nicht mehr die ganze Familie mitarbeiten kann. Aber in der Summe entstehen anstelle eines Marktstandes, der von einer Familie betrieben wird, durch die Arbeitsteilung an anderen Stellen neue, spezialisiertere Arbeitsplätze etwa in Logistikunternehmen.

JRD: Für ein Land wie Bangladesch stellt sich die Frage, wieviel aus der nationalen Wirtschaft generiert werden kann, indem die Wertschöpfungskette vom Produzenten bis zum Konsumenten einheimisch geprägt bleibt. Da muß man auch entgegen der üblichen Weltbank- und IWF-Rezeptur darauf bestehen, daß man den Markt nicht öffnet und die großen internationalen Ketten nicht ins Land läßt, da diese in der Regel auf ihre eigenen Zulieferer und Netzwerke zurückgreifen. Man wird den Trend hin zum Supermarkt auch in Bangladesch nicht aufhalten können, doch es entstehen dabei auch viele Jobs, weil auf einmal ganz andere Sektoren wie beispielsweise Logistik oder Marketing gefördert und gefordert werden. Auf diese Weise werden meines Erachtens in der Summe mehr Jobs geschaffen, als vorher vorhanden waren. Das kann jedoch nur gut funktionieren, wenn die Wertschöpfung im nationalen Kontext generiert wird.

Daß man diese Entwicklung auch steuern kann, belegen interessante Projekte in den Philippinen. Dort gibt es unter der Maxime "social entrepreneurship" Bestrebungen, die Intelligenz im Land zu halten und die gut ausgebildeten Absolventen der Hochschulen für Unternehmensgründungen zu gewinnen. Ob dies nun eine Limonadenfirma, ein Kosmetikvertrieb oder ein Angebot besonderer Käsesorten ist, um nur einige Beispiele zu nennen, so bleibt doch wesentlich, daß die gesamte Wertschöpfungskette im Land organisiert wird und so dessen Entwicklung fördern kann.

Im Gespräch am Tisch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Nationale Wertschöpfungsketten fördern ...
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Bei der Präsentation der Forschungsergebnisse einer Studie in Hongkong und im Perlflußdelta war davon die Rede, daß das Unternehmertum von Hochschulabsolventen im Grunde die einzige Quelle innovativer Entwicklung sei. Hat man es bei dieser Auffassung nicht mit einem westlich vorgeprägten und zudem eingeschränkten Modell zu tun, das der Überprüfung bedarf? Wenn der Erfolg eines Bill Gates oder der SAP-Gründer als Beleg angeführt wird, bedient man sich einer retrospektiven Erklärung, die Tausende gescheiterte Konkurrenten ausblendet, die ebenfalls in einer Garage angefangen haben. Läuft man nicht Gefahr, vermeintliche Erfolgsmodelle zu Unrecht mit ganzen Entwicklungsverläufen gleichzusetzen, zu deren Verständnis wesentlich mehr als der postulierte Unternehmergeist gehört?

JRD: In den letzten Jahren gewinnt ein Zweig in der Ökonomie an Bedeutung, der sehr stark evolutionär argumentiert. Wie der Name schon andeutet, entstammt dieses Denken der Evolutionsbiologie. Was Sie beschreiben, ist ein ganz normaler Vorgang. Letztendlich findet ein Selektionsprozeß statt, da es nicht alle schaffen können. Und das ist vielleicht auch ganz gut so, weil nicht alle innovative Ideen haben und gleich gute Unternehmer sind. Dieses Scheitern gehört einfach dazu, damit so einer wie Bill Gates herauskommt und übrigbleibt, sehr vereinfacht ausgedrückt. Deshalb glaube ich schon, daß gerade unter diesem Gesichtspunkt Scheitern einfach dazugehört.

SB: Das würde allerdings bedeuten, daß man die Konkurrenz zum obersten Prinzip erklärt und sagt, damit sich einige wenige durchsetzen und gewinnen, müssen viele andere scheitern. Müßte man nicht befürchten, daß der Erfolg desjenigen, der sich dabei durchsetzt, ausschließlich auf dem Rücken der Gescheiterten gründet? Hängt das nicht unmittelbar zusammen?

DS: Es kommt darauf an, wie man die Regeln dieser Konkurrenz setzt. Wenn wir einmal beim Beispiel des Supermarkts bleiben, hat ein großer Investor wie Carrefour oder Metro natürlich einen riesigen Vorteil. Er ist auch kein Unternehmer im Sinne eines kreativen Neugründers, sondern überträgt das, was er sich in anderen Ländern aufgebaut hat, auf das neue Betätigungsfeld. Dadurch hat er Vorteile gegenüber den lokalen Unternehmern, die ein kreatives Supermarktkonzept entwickelt haben, das den Gegebenheiten in Bangladesch Rechnung trägt. Läßt man zu, daß Carrefour oder Metro ungehinderten Zugang zu einem solchen Markt haben oder setzt man Bedingungen? Denkbar wäre auch ein spezielles Förderprogramm für junge Wissenschaftler oder generell für gute Konzepte, Produkte aus Bangladesch in ein Supermarktformat zu bringen. Das ist meines Erachtens durch Gründungsförderungen und Regelsetzung möglich, ohne den Konkurrenzgedanken auszuschalten.

JRD: Wir haben uns in den letzten Jahren intensiv mit dem Perlflußdelta beschäftigt und dabei herausgefunden, daß die dortigen Entrepreneure genauso wie Unternehmer bei uns agieren. Sie haben ihre betriebswirtschaftliche Kalkulation im Kopf, sie wollen erfolgreich sein, und das ist zum Teil eine Art von Kapitalismus, wie wir ihn schon lange hinter uns gelassen haben, so ein Manchester-Kapitalismus mit rigoroser Ausbeutung der Ressourcen und Auspressung der Arbeitskräfte. Aber im Prinzip ist das meines Erachtens trotzdem ein ganz wichtiges Antriebssystem des Wohlstands, das aber gewisser Regeln bedarf.

SB: Dieser Manchester-Kapitalismus, den Sie angesprochen haben, führt dazu, daß im Perlflußdelta riesige Fabriken entstehen, in denen Menschenmassen auf engem Raum eingepfercht werden und unter sehr schlimmen Bedingungen arbeiten müssen. Viele Maßgaben von Entlohnung, Arbeitsrecht und Arbeitsschutz, die in Europa Standard sind oder zumindest sein sollten, gelten für die dortigen Arbeiterinnen und Arbeiter nicht. Wenn heute weltweit sklavenähnliche Verhältnisse auf dem Vormarsch sind und zahllose Menschen unter unwürdigen Bedingungen arbeiten müssen, drängt sich die Frage auf, ob sich das favorisierte Unternehmertum nicht womöglich erst auf Grundlage solcher erbärmlichen Lebens- und Arbeitsverhältnisse entwickeln und durchsetzen kann.

JRD: Wenn wir in unserer eigenen Entwicklung auf die Generation der Eltern und Großeltern zurückblicken, stoßen wir auf unglaublich schlechte, ausbeuterische, sklavenartige Verhältnisse im Bergbau, in der Industrie und in der Landwirtschaft. Im Laufe der Entwicklung haben wir es jedoch geschafft, daß sich Gewerkschaften bildeten und die Arbeitnehmerrechte immer wichtiger wurden. Das ist auch bei uns nicht von einem Tag auf den anderen passiert, sondern erst in einem langen Prozeß über Dekaden möglich geworden. Wenn wir mit der Brille nach China schauen, daß uns die Chinesen die Arbeitsplätze wegnehmen, sind wir schnell mit der Forderung nach Sozialstandards bei der Hand. Berücksichtigt man jedoch den Aufholprozeß, muß man einräumen, daß China auf einem sehr niedrigen Niveau begonnen hat, wie es bei uns vor 70, 80 oder 100 Jahren geherrscht hat. Man darf daher bei dieser Diskussion nicht außer acht lassen, daß sich die Institutionen dort erst langsam entwickeln müssen.

Wenngleich ich die dortigen Arbeitsbedingungen keinesfalls gutheißen kann, frage ich mich auch, welche Alternativen den Menschen offenstünden, wären sie nicht bei Foxconn beschäftigt. Da im Perlflußdelta viele Wanderarbeiter leben, müßten sie andernfalls auf dem Lande in sehr ärmlichen Verhältnissen, weit weg von Bildungsmöglichkeiten und Gesundheitsversorgung über die Runden zu kommen versuchen.

Globalisierung und Beobachtung durch die Medien bringen es mit sich, daß Vorgänge wie bei Foxconn publik werden. Die Menschen im Westen erfahren, wie schlecht dort die Arbeitsbedingungen sind und daß sich Arbeiterinnen und Arbeiter deswegen in den Tod stürzen. Diese Kenntnis führt dazu, daß durch die Konsumenten der Druck über Apple an Foxconn weitergegeben wird und sich gewisse Dinge tatsächlich ändern. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Die Politik kann zusätzlich steuernd eingreifen, indem sie die Mindestlöhne hochsetzt und den Produktionsfaktor Arbeit verteuert. Auch dadurch verändert sich schon einiges.

DS: Die chinesische Regierung erkennt diese Probleme und reagiert darauf, wie die Mindestlohnerhöhung, die neuen Arbeitsgesetze und der Umstand belegen, daß Berichte über Foxconn oder über Proteste gegen solche Arbeitsbedingungen in China selbst publiziert werden und auch nach draußen dringen. In China muß man immer sehr auf die Zwischentöne achten, und wenn beispielsweise über die Umweltverschmutzung durch Unternehmen in der China Daily geschrieben werden kann, zeigt das, daß die Regierung damit Druck auf die Unternehmen ausüben will, die sich nicht an geltende Gesetze halten. Letzten Endes verstoßen diese Unternehmen auch gegen chinesisches Arbeitsrecht, was allerdings in einem Land dieser Größe kaum zu kontrollieren ist. Die Zeichen deuten jedoch darauf hin, daß die Regierung in diese Richtung denkt, weil sie auch erkennt, daß man langfristig mit diesem Wirtschaftsmodell nicht wettbewerbsfähig bleiben kann, weil es zu sehr auf Kosten der Menschen und der natürlichen Ressourcen geht.

Im Gespräch am Tisch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Aufklärung der deutschen Konsumenten ...
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Was müßte Ihres Erachtens in Deutschland kommuniziert werden und auf welche Weise ließe sich hier ein politisches Klima schaffen, das Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in China und Bangladesch unterstützt? Deutsche Konsumenten wollen beispielsweise Textilien möglichst billig erwerben, fangen aber langsam an, darüber nachzudenken, unter welchen Verhältnissen diese produziert werden. Das wäre sicher nur ein Aspekt unter vielen, die es dabei zu berücksichtigen gilt.

JRD: Ich kann die Bedingungen, unter denen dort produziert wird, nicht gutheißen, habe aber ein gewisses Verständnis dafür, daß sie so sind. Diese Bedingungen haben sich bereits verbessert, und ich bin optimistisch, daß diese Entwicklung im Laufe der Jahre noch viel weitreichender greifen wird. Meines Erachtens haben die hiesigen Konsumenten großen Einfluß, da es ihnen freisteht, Produkte eines bestimmten Anbieters nicht mehr zu kaufen. Das geht freilich nur auf dem Wege der Aufklärung, und die fängt bereits in der Schule an. Meine Töchter sind jetzt in dem Alter, in dem sie ein ausgeprägtes Markenbewußtsein entwickeln und auf bestimmte Label bestehen. Da gilt es zu fragen: Weißt du eigentlich, wo das herkommt und unter welchen Bedingungen das hergestellt wird? Man müßte bereits in der Schule anfangen, über solche Sachverhalte zu diskutieren und Bewußtsein zu schaffen.

DS: Aufklärung ist notwendig, das gilt für die Lebensmittelproduktion, die Bekleidungsindustrie und die Elektronikherstellung gleichermaßen. Man freut sich als Konsument über niedrige Preise, sollte aber auch bedenken, wie diese zustande kommen. Bin ich bereit, nur fünf Euro mehr für einen Computer zu bezahlen, kann das schon einen immensen Impakt haben. Die Lohnkosten bei einem iPad, das in China produziert wird, liegen vielleicht bei zehn Euro von den 400 Euro, die das Gerät letztendlich kostet. Selbst eine Verdopplung der Lohnkosten hätte nur eine minimale Auswirkung auf die Gesamtkosten für das iPad. Man könnte also bereits mit einer geringen Beteiligung der Konsumenten sehr große Verbesserungen für die Produzenten in China herbeiführen.

JRD: Denkbar wäre natürlich auch ein Embargo bei solchen Waren, doch würde das meiner Ansicht nach vor allem die Menschen treffen, die zwar unter schlechten Bedingungen arbeiten, aber zumindest die Möglichkeit haben, ihr Leben und das ihrer Kinder irgendwie zu organisieren. Aus diesem Grund neige ich zur Vorsicht, was solche Einfuhrverbote betrifft, die nicht die Neureichen treffen, die bereits ihren Cayenne oder Bugatti fahren, sondern diejenigen, die ohnehin unter den Arbeitsbedingungen leiden.

DS: Ich würde gern noch aus unserer eigenen Forschung im Perlflußdelta ergänzen, daß wir die Unternehmen auch gefragt haben, wie es um verfügbare Arbeitsplätze und Fluktuation bestellt ist. Dabei stellte sich heraus, daß mittlerweile in bestimmten Sektoren ein Mangel an Arbeitskräften herrscht. Dies hat dazu geführt, daß die Unternehmen anfangen, freiwillig etwas mehr als den Mindestlohn zu zahlen oder zusätzliche Sozialleistungen zu gewähren. Die Fluktuationsraten sind doppelt so hoch wie bei Unternehmen in Deutschland, so daß die ökonomische Rationalität dafür spricht, den Aufwand zu reduzieren, immer wieder neue Arbeitskräfte einzustellen und anzulernen. Es macht Sinn, ihnen ein bißchen mehr zu zahlen und vernünftige Arbeitsbedingungen zu schaffen, damit die Arbeitskräfte auch über einen längeren Zeitraum in dem Unternehmen bleiben. Zusätzlich zu allem, was man von staatlicher Seite an Regeln setzen kann, gesellt sich ein Marktprozeß, der dazu führt, daß aufgrund des Eigeninteresses der Unternehmen die Löhne allmählich steigen und die Arbeitsbedingungen verbessert werden.

SB: Herr Revilla Diez, Herr Schiller, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.niw.de/index.php/mitarbeiter-detailseite/items/3.html

[2] http://www.niw.de/index.php/mitarbeiter-detailseite/items/24.html


Bisherige Beiträge zum Kolloquium "Megacities - Megachallenge" im Schattenblick unter INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT

BERICHT/015: Megacities - Rauburbane Sammelpunkte (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0015.html

BERICHT/016: Megacities - Evolution der Umlast (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0016.html

BERICHT/017: Megacities - Marktaufbruch der Sieger und Verlierer (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0017.html

BERICHT/018: Megacities - Besitzstandsselektive Dynamik (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0018.html

BERICHT/019: Megacities - Avantgarde der Erneuerung (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0019.html

BERICHT/020: Megacities - Armut, Smog und Emissionen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0020.html

INTERVIEW/015: Megacities - Über den Tellerrand - Prof. Dr. Frauke Kraas im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0015.html

INTERVIEW/016: Megacities - Forschungsselbstzweck Überleben - Dr. Johannes Karte im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0016.html

INTERVIEW/019: Megacities - Freiheit, Gleichheit, Forschung (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0019.html

INTERVIEW/020: Megacities - Konstruktdynamische Prozesse (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri20.html

INTERVIEW/022: Megacities - Fehlverteilung urban - Benjamin Etzold im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri22.html

INTERVIEW/023: Megacities - Elendsverteilungsvariante Dhaka (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri23.html

INTERVIEW/024: Megacities - Projekt interdisziplinär gelungen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri24.html

INTERVIEW/025: Megacities - Produktivität des Elends (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri25.html

INTERVIEW/026: Megacities - Blühende Stadt und sterbendes Land (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri26.html

INTERVIEW/028: Megacities - Guangzhou, krause Stirn und Wissenschaft - Prof. Dr. Desheng Xue im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri28.html

INTERVIEW/029: Megacities - Urban leben, streben, weben (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri29.html

17. Juli 2013