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INTERVIEW/034: Lampedusa in Hamburg - das fordert die Geschichte, mit Andreas Gerhold im Gespräch (SB)


Interview mit Andreas Gerhold, Bezirkabgeordneter der Piratenpartei in Hamburg-Mitte, am 2. November 2013 bei der Demonstration "Lampedusa in Hamburg"



In Hamburg setzt sich ein breites gesellschaftliches Bündnis für den Verbleib von Flüchtlingen aus Libyen in der Hansestadt ein. Die Betroffenen stammen aus verschiedenen afrikanischen Ländern, hatten in dem nordafrikanischen Staat gearbeitet und wurden nach Beginn der Luftangriffe im März 2011 durch eine von der NATO angeführte Allianz vertrieben. Rund zwei Jahre lang lebten sie in Flüchtlingslagern in Italien, dann wurden sie von den dortigen Behörden auf die Straße gesetzt. Etwa 300 Flüchtlinge erreichten Hamburg, verbrachten kurze Zeit in Winternotunterkünften für Obdachlose und wurden im April dieses Jahres ein weiteres Mal auf die Straße gesetzt. Auch aus Grünanlagen wurden sie vertrieben, und man kündigte jetzt schon an, daß die Obdachlosenunterkünfte in diesem Winter für sie geschlossen sein werden. Ganze Schulklassen, Lehrer, Eltern und nicht zuletzt die Bewohner rund um die St. Pauli Kirche, in der rund 80 Flüchtlinge untergekommen sind, solidarisierten sich mit ihnen und forderten ihr Bleiberecht.

Nachdem der Schattenblick bereits ein Interview mit einem der Flüchtlinge [1] und eines mit dem Pastor der St. Pauli-Kirche [2] geführt hat, ergänzt er seine Berichterstattung nun durch ein Interview mit Andreas Gerhold, Bezirksabgeordneter der Piratenpartei in Hamburg-Mitte.

Porträt des Interviewten, 17.6.2012 - Foto: © Frank Nocke

Andreas Gerhold
Foto: © Frank Nocke

Schattenblick (SB): Welchen Standpunkt nimmt die Piratenpartei zu der Frage ein, wie der Hamburger Senat mit der Gruppe "Lampedusa in Hamburg" umgeht?

Andreas Gerhold (AG): Wir lehnen die Haltung des Senats ab und verurteilen sie aufs schärfste. Vor allem auch die Art, wie hier argumentiert wird. Es wird davon gesprochen, daß man um ein rechtsstaatliches Verfahren nicht herumkommt, und suggeriert damit, daß das, was die Flüchtlinge und ihre Unterstützer fordern, nicht rechtsstaatlich sei. Das ist natürlich absoluter Quatsch, es diffamiert die Flüchtlinge und die Unterstützer.

Wir fordern ein Bleiberecht nach Paragraph 23 Aufenthaltsrecht, was selbstverständlich ein rechtsstaatliches Verfahren ist, nämlich eines, das genau für solche Fälle geschaffen wurde: Daß größere Flüchtlingsgruppen, die unter gleichen Voraussetzungen geflohen sind, dann auch gemeinsam in einem Verfahren behandelt werden können.

SB: Von den deutschen Behörden wird die Flüchtlingsproblematik auf Italien geschoben.

AG: Man kann sich natürlich auf den Standpunkt zurückziehen: Wir haben in Europa eine Drittstaatenregelung, wir haben das Dublin-II-Abkommen und folglich ist Italien zuständig.

SB: Müßte demnach die Drittstaatenregelung geändert werden?

AG: Ja, wir fordern die Abschaffung der Drittstaatenregelung. Außerdem müssen wir uns vergegenwärtigen, daß Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz derzeit in Berlin die Große Koalition mitverhandelt und sich dort offenbar alle einig darin sind, daß man Dublin II nicht auf europäischer Ebene antasten will und es eben nicht die deutsche Haltung ist, daß die Lasten über Europa gleichmäßig verteilt werden. Stattdessen zieht man sich auf den Standpunkt zurück: Wir haben das Abkommen, wir wollen es auch nicht ändern, und folglich müssen wir die Menschen von hier wieder zurück nach Italien schicken.

Das geht natürlich ganz und gar nicht. Während vor Lampedusa Menschen ertrinken, wird hier gleichzeitig ein Hokuspokus veranstaltet und mit Rechtsstaatlichkeit argumentiert, wo das überhaupt nicht angebracht ist, weil unser vorgeschlagenes Verfahren ebenfalls rechtsstaatlich ist. Das ist eine Haltung, die ausgerechnet der SPD wirklich nicht gut zu Gesicht steht.

SB: Ist die Piratenpartei in der Hamburger Bürgerschaft vertreten?

AG: Nein. Ich bin Abgeordneter im Bezirk Hamburg-Mitte, der von den sieben Bezirken in Hamburg am stärksten von der Problematik betroffen ist, ob es um Obdachlose, Flüchtlinge oder Asylanten geht. Da steht der Bezirk Mitte natürlich immer im Zentrum von Hamburg. Wir haben als Piraten den allerersten Antrag zu den Flüchtlingen in Hamburg eingebracht, noch bevor das in der Bürgerschaft verhandelt oder der Antrag im Bezirk Altona, der ja sehr lobenswert war, durchgebracht wurde.

Wir haben das Verhalten des Senats und des Bezirks Mitte kritisiert, weil hier zu der Zeit der Aufbau von Zelten, die als erste Notunterkunft noch vor der St. Pauli Kirche dienen sollten, verhindert wurde. Gleichzeitig wurden die Menschen aus öffentlichen Grünanlagen vertrieben. Wir haben in unserem Antrag das Verhalten des Senats und des Bezirks als "schändlich" bezeichnet. Leider hatten wir dabei nur die Unterstützung der Linken. Alle anderen Parteien, selbst die Grünen, haben sich darüber aufgeregt, daß wir den Begriff "schändlich" benutzt haben, konnten dem Antrag schon deshalb nicht zustimmen und haben sich nicht darum gekümmert.

SB: Hier auf der Demonstration wird verschiedentlich die Forderung "Bleiberecht für alle" erhoben. Alle Grenzen sollen geöffnet werden. Ist das ein Standpunkt, den auch die Piratenpartei vertritt?

AG: Das ist sicherlich eine Maximalforderung, die man erstmal in den Raum stellt, um überhaupt ins Gespräch zu kommen: Einfach zu sagen, von heute auf morgen müssen alle europäischen Grenzen geöffnet werden, Frontex müssen wir abschaffen - das ist sicherlich nicht sofort umsetzbar. Aber wichtig ist, daß wir eine neue Richtung einschlagen, und die kann nur lauten, daß wir Europa für Flüchtlinge von außerhalb öffnen.

SB: Sehen Sie Deutschland in einer besonderen Verantwortung gegenüber den Libyen-Flüchtlingen, weil es zwar nicht an vorderster Front beim Luftangriff mitgemacht hat, aber allein schon über die NATO-Strukturen daran beteiligt war?

AG: Sicherlich ist Deutschland auch über die NATO-Strukturen an den Ursachen des Elends beteiligt. Ich sehe aber vor allen Dingen eine deutsche Verantwortung aus unserer Geschichte heraus. Denn wir waren darauf angewiesen, flüchten zu können in andere Länder. Viele Deutsche hätten das Dritte Reich nicht überlebt, wenn sich andere Staaten so verhalten hätten, wie Deutschland sich jetzt verhält. Wir fordern in jedem Fall wieder eine Vervollständigung des Asylrechts, wie es früher mal in der Verfassung stand, also die Rücknahme dieses sogenannten Asylkompromisses.

SB: Wie bewerten Sie den Vorschlag des Hamburger Senats, daß die Libyen-Flüchtlinge geduldet werden, wenn sie sich identifizieren lassen, und sie dann in ein Verfahren eingeschleust werden, wo ihnen möglicherweise die Abschiebung droht?

AG: Ja, wie du zuletzt gesagt hast, es droht ihnen immer noch die Abschiebung. Der Vorschlag ist unserer Meinung nach eine Nebelkerze, denn es wird nichts zugestanden, was der Senat nicht schon von Anfang an zugestanden hätte. Und auf einmal wird so getan, als sei das die einzige rechtsstaatliche Lösung, was so, in der Konsequenz vorgetragen, schon einer Lüge gleicht. Außerdem paßt das Verfahren, das der Senat jetzt vorschlägt, einfach nicht für diese Gruppe. Denn die haben italienische Papiere. Ob das für alle Flüchtlinge gilt oder nur einen großen Teil, weiß zur Zeit niemand. Aber zumindest ein Großteil der Betroffenen hat in Italien das Bleiberechtverfahren bereits durchlaufen. Von daher ist es unsinnig und juristisch äußerst fragwürdig, jetzt zu verlangen, daß sie es hier in Deutschland nochmals durchlaufen müssen. Am Ende kann man sie genau mit dieser Begründung - die haben ja schon mal in Italien Asyl beantragt - wieder nach Italien zurückschicken.

Also, das ist eine reine Nebelkerze, die der Senat da schmeißt. Leider hat sie zumindest zum Teil Wirkung gezeigt. Ich bin sehr enttäuscht über die momentane Haltung der Kirche. Bei allem Respekt und wirklich einer ganz, ganz großen Anerkennung für das, was an praktischer Hilfe zum Beispiel durch die St. Pauli-Gemeinde, aber auch durch andere christliche und islamische Gemeinden in Hamburg geleistet wurde, stellt sich die Kirche jetzt hinter die Spaltung, wenn über die Bischöfin Fehrs oder auch Pressemeldungen von vorgestern nachmittag von der St. Pauli-Gemeinde nach außen getragen wird: "Bitte laßt euch doch auf die tollen Vorschläge des Senats ein." Das enttäuscht mich persönlich sehr nach dem großen Engagement, das wir da gesehen haben, und das im ganzen Stadtteil St. Pauli, aus dem auch ich komme, unterstützt wurde.

SB: Da wird offenbar ein enormer Druck auf Pastor Wilm und die ganze St. Pauli-Gemeinde ausgeübt.

AG: Der Druck ist enorm. Wenn Innensenator Neumann behauptet, daß sich die Mitglieder der St. Pauli-Kirchengemeinde oder auch die Kinder und Jugendlichen von der Stadtteilschule St. Pauli, die ihre Turnhalle angeboten haben, beziehungsweise der Elternrat, der das ebenfalls unterstützt hat, alle strafbar machen, und das einfach so in den Raum stellt, dann ist das eine Diffamierung. Das baut selbstverständlich Druck auf, der sich auch auf die St. Pauli-Gemeinde auswirkt.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.

Demonstrationszug in Hamburger Innenstadt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Lampedusa in Hamburg - nicht zu übersehen, nicht zu überhören, nicht zu ignorieren
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] INTERVIEW/032: Lampedusa in Hamburg - Tor ohne Tür, Flüchtling A. Tchassei im Gespräch (SB)
http://schattenblick.com/infopool/buerger/report/brri0032.html

[2] INTERVIEW/033: Lampedusa in Hamburg - Christenpflicht und Staatsräson, Pastor Sieghard Wilm im Gespräch (SB)
http://schattenblick.com/infopool/buerger/report/brri0033.html


13. November 2013