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INTERVIEW/036: Lampedusa in Hamburg - in des Teufels Ohr, Rechtsanwältin Insa Graefe im Gespräch (SB)


Gespräch mit der Rechtsanwältin Insa Graefe am 15. November 2013 in Hamburg



Seit einem halben Jahr ist die "Gruppe Lampedusa in Hamburg" aus dem öffentlichen Leben und den Medien nicht mehr wegzudenken. Die rund dreihundert ursprünglich aus westafrikanischen Staaten stammenden Menschen, die 2011 vor dem NATO-Krieg gegen Libyen fliehen mußten und auf der italienischen Insel Lampedusa nur vorübergehend Schutz und Aufnahme fanden, befinden sich nach wie vor in einer völlig ungesicherten Situation. Nach langer Untätigkeit will der Hamburger Senat sie nun veranlassen, individuelle Aufenthaltsanträge zu stellen, die zwar abgelehnt werden würden, ihnen für die Dauer des Verfahrens jedoch den Status einer Duldung in Aussicht stellen. Für die Gruppe Lampedusa ist dies nicht akzeptabel, und so setzen sie, mit tatkräftiger Unterstützung aus vielen gesellschaftlichen Gruppen ihre Proteste fort, um tatsächlich in Hamburg bleiben zu können.

Zu ihrer Unterstützung und zur Aufklärung der Lage haben über einhundert Hamburger Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte am 15. November 2013 auf einer eigens zu diesem Zweck durchgeführten Pressekonferenz eine Erklärung abgegeben [1]. Mit Insa Graefe, einer Anwältin, die mit zwei Kollegen das Papier auf der Pressekonferenz vorgestellt und Fragen beantwortet hat, konnte der Schattenblick im Anschluß ein Gespräch führen.

Schattenblick: Im Frühjahr dieses Jahres hätte es, so darf angenommen werden, ohne die Unterstützung aus der Bevölkerung und nicht-staatlicher Akteure wie beispielsweise der St.-Pauli-Kirche zu toten Flüchtlingen auf Hamburgs Straßen kommen können. Wie ist Ihrer Auffassung nach ein solches Totalversagen des Rechts- und Sozialstaatsprinzips zu erklären?

Insa Graefe: Das Versagen geschieht nicht hier auf deutscher, sondern auf europäischer Ebene. Es ist doch so, daß Italien Schutz hätte bieten müssen und es nicht kann. Diese Realität hätte von den anderen EU-Mitgliedsstaaten wahrgenommen werden müssen und darauf hätte reagiert werden müssen. Das ganze Dublin-II-System führt einfach dazu, daß immer nur Verantwortungen hin- und hergeschoben werden und im Endeffekt die Flüchtlinge nicht den Schutz bekommen, den sie brauchen.

SB: Ist das jetzt lediglich ein Versagen oder nicht auch ein strukturelles Merkmal? Bietet nicht gerade das Schicksal der Gruppe Lampedusa eine Gelegenheit, die rechtlichen Regelungen insgesamt in Frage zu stellen?

IG: Es betrifft nicht nur die Lampedusa-Gruppe hier in Hamburg. Die Flüchtlinge sind ganz generell sozusagen ein Ausfluß des Ganzen, an dem man einfach merken muß, daß es so nicht funktioniert und nie funktionieren wird, denn es gibt gewisse Mitgliedsstaaten, die völlig überfordert werden einfach deshalb, weil sie an den Außengrenzen liegen und die anderen die Verantwortung an sie zurückschieben.

SB: Auf der Pressekonferenz eben wurde erklärt, daß eine Bleiberechtsregelung nach § 23 die humanitäre Notlage der Gruppe in Hamburg lösen würde. Wie sähe die rechtliche und soziale Lage der Geflohenen aus, würde der Senat auf diesen Vorschlag eingehen?

IG: Diese Aufenthaltserlaubnis nach § 23 ist an sich sehr stabil, die gab es schon häufig in verschiedenen Gruppen. Es gibt dann die Möglichkeit, relativ schnell zu arbeiten, man kann eigentlich ein normales Leben damit führen. Was relativ lange dauern kann, ist, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Aber in der Vergangenheit hat sich gezeigt, daß das vielen Leuten dann auch gelingt.

SB: Und die Gefahr der Abschiebung besteht dann definitiv nicht, also bedeutet Bleiberecht tatsächlich Bleiberecht?

IG: Das ist wirklich eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Aufenthaltsgesetz, eine ganz normale Aufenthaltserlaubnis wie für andere hier lebende Ausländer und Ausländerinnen auch.

SB: Die Zustimmung des Bundesinnenministeriums zu einer solchen Regelung wurde auf der Pressekonferenz auch schon angesprochen. Das ist ein sehr heikler Punkt, da die neue Bundesregierung, wie auch immer sie aussehen wird, mit Sicherheit das Dublin-II-Abkommen und die bisherige Asylpolitik weiter mittragen wird. Ist nicht das Argument des Hamburger Senats, die Zustimmung des Bundesinnenministeriums bekommen wir sowieso nicht, in diesem Fall begründet?

IG: Das sehen wir in keiner Weise so. Wer nicht fragt, bekommt überhaupt keine Antwort. Es fehlt einfach der politische Wille. Es wird immer wieder gesagt, wie sollen wir dieses Flüchtlingsproblem lösen? Es wird sich nur dadurch lösen lassen, daß wirklich Veränderungen angestrebt werden. Hamburg hat das auch auf ganz anderen Ebenen bereits getan und einfach Prozesse angestoßen. Wenn das niemand macht, dann wird das Ganze irgendwann eskalieren. Das, was wir jetzt haben, ist nur ein Vorläufer des Ganzen. Es wird sich einfach immer weiter zuspitzen, weil Italien auch in Zukunft nicht in der Lage sein wird, irgendwelchen Leuten auch nur halbwegs vernünftige Bedingungen zu bieten.

SB: In der Erklärung der Hamburger Anwältinnen und Anwälte geht es auch, wenn ich das richtig erinnere, um die Haltung der Ausländerbehörde und des Senats. Der Senat hat mehrfach signalisiert, daß die Ausländerbehörde die Anträge auf Aufenthaltserlaubnis ablehnen wird. Kann man zwischen Ausländerbehörde und Senat überhaupt einen Unterschied machen? Ist die Ausländerbehörde nicht an die Weisungen des Senats gebunden?

IG: Es kommt darauf an, welcher Weg dann eingeschlagen wird. Wenn man formale Anträge stellt auf eine Aufenthaltserlaubnis, dann prüft die natürlich nicht der Senat, sondern die Ausländerbehörde. Das ist so ein bißchen das, wo wir ein Problem sehen. Aus rechtlichen Gründen sind diese Anträge kaum zu gewinnen. Das wissen auch alle, das weiß auch der Senat. Das ist ja unser Problem mit diesen Einzelanträgen, wenn sie sagen, aufgrund der Gesetzeslage, wie sie jetzt ist, werden die in den allerwenigsten Fällen Erfolg haben können. Deshalb finden wir es einfach schwierig, daß der Senat jetzt darauf verweist, in individuellen Verfahren eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen, weil das eine Lösung ist, die im Endeffekt für den einzelnen nicht zum Erfolg führen wird.

SB: Ich würde gern noch auf etwas Grundsätzlicheres zu sprechen kommen. Sind das alles, was Sie geschildert haben, nicht Anhaltspunkte, die Relevanz rechtlicher Mittel generell in Frage zu stellen? Da beißt sich doch ein bißchen die Katze in den Schwanz. Man appelliert an den Senat, der eigentlich schon deutlich gemacht hat, daß er seine Politik nicht ändern wird. Wie ist die Haltung des Senats grundsätzlich zu bewerten, zumal er möglicherweise im Rahmen der EU gar nicht den politischen Spielraum hat, den man sich vielleicht wünschen würde?

IG: Es ist doch so: Wir haben eine Realität, die in Hamburg gerade jetzt ganz deutlich wird. Es gibt diese Leute hier, die sitzen hier auf der Straße, und wir sehen auch, daß es eine breite Solidarität aus der Bevölkerung gibt. Deshalb besteht gerade für Hamburg die Chance zu sagen, wir gehen das jetzt an. Dieses Szenario wird sich wiederholen, das kann ich nur immer wieder betonen. Es ist kein Hamburger Problem, aber Hamburg hätte die Möglichkeit zu sagen: So, wir sitzen hier mit dem Problem und jetzt werdet doch einmal tätig, denn so wird es für uns alle nicht weitergehen können. Dieses Szenario - das kann ich nur immer wieder sagen - wird nicht das einzige bleiben. Deshalb sagen wir einfach nur: Wenn Hamburg wollte, könnte es natürlich, und das müssen jetzt auch die einzelnen Menschen sehen. Die Flüchtlinge leben jetzt hier. Und wenn man sich die einzelnen Geschichten anhört... Das ist wirklich furchtbar, was sie bis jetzt alles erlebt haben. Warum sollte man ihnen nicht wirklich einmal relativ unbürokratisch die Möglichkeit geben zu bleiben und ihnen sagen, ihr seid jetzt hier in Sicherheit? Es ist schon erstaunlich, daß es so schwerfällt, danach überhaupt zu fragen.

SB: Wir haben schon viel von der breiten Solidarität der Hamburger Bevölkerung gehört. Es gibt aber auch, wie uns einer der Pastoren der St.-Pauli-Kirche berichtete, starke Ressentiments gegen die Flüchtlinge. Wie würden Sie - nicht unbedingt als Anwältin, sondern einfach einmal als Bürgerin dieser Stadt - die Frage beantworten, warum sich jemand, der sich selbst in einer prekären sozialen Lage befindet, für die Situation und das Schicksal gerade dieser Menschen interessieren oder sich mit ihnen solidarisieren sollte?

IG: Das ist natürlich eine sehr grundsätzliche Frage. Für mich ist es immer ganz erstaunlich, daß ein Flüchtling immer schon so ein bestimmtes Stigma an sich hat. Es ist doch ein ganz normaler Mensch, der irgendwie das Pech hatte, woanders geboren worden zu sein und eine andere Biografie zu haben als die Menschen hier. Es ist für mich wirklich ein Gebot der Mitmenschlichkeit, wenn jemand ein so schwieriges Schicksal hat. Nach all den Gesprächen kann ich sagen, es sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein zu sagen: Da geht es jemandem wirklich schlecht und deshalb geht mich das etwas an. Daß das nicht überall so gesehen wird, ist mir klar. Aber manchmal wundert es mich schon, wie schnell diese Menschen einfach als Gruppe definiert werden und wie weit man sie von sich wegschiebt, indem gesagt wird: Die Flüchtlinge haben mit mir nichts zu tun! Natürlich hat das mit jedem etwas zu tun.

SB: Wie könnte man denn aus Ihrer Sicht noch am ehesten Menschen ansprechen? Nach dem, was Sie eben dazu gesagt haben, müßte eigentlich jeder, wenn er mit diesem Problem konfrontiert wird, sagen, daß den Menschen geholfen werden muß. Haben Sie bestimmte Strategien oder Ideen, wie das in der Öffentlichkeit am günstigsten zu vermitteln wäre?

IG: Ich stelle immer wieder fest, daß dazu die Bereitschaft umso größer wird, je mehr Kontakt besteht, wenn also erkannt wird, das ist nicht irgendwie eine Gruppe andersaussehender Menschen, zu denen der Zugang natürlich häufig auch sprachlich schwierig ist. Wo immer Begegnungen stattfinden, löst sich das so ein bißchen auf. Immer wenn Menschen einzelne kennenlernen und merken, das sind einfach Menschen, ja, dann stelle ich fest, daß dann auch solche Vorbehalte fallen. Ich persönlich vertrete die Gruppe Lampedusa nicht, ich kenne auch nicht viele aus dieser Gruppe. Ich kann nur sagen, gerade deshalb wird immer wieder das Angebot gemacht, sich mit ihnen zu treffen, die sind ja auch sehr offen. Überall dort, wo Begegnung stattfindet, wird so etwas natürlich auch weniger.

SB: Wie kam es eigentlich zu Ihrem Engagement, sind Sie von Kollegen und Kolleginnen angesprochen worden? Es gibt ja auch verschiedene Gruppen, die auf unterschiedlichste Weise mit den Flüchtlingen zusammenarbeiten.

IG: Als Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, die im Ausländerrecht tätig sind, treffen wir uns ohnehin einmal im Monat, um politische, aber auch inhaltliche Fragen und häufig auch einzelne Fälle zu besprechen, um uns gegenseitig sozusagen fachlichen Rat zu geben. Aus dieser Initiative ist das entstanden.

SB: Wie ist Ihr Eindruck von Ihrer Kollegenschaft insgesamt? Sind speziell die Flüchtlingsfragen unter Hamburger Anwältinnen und Anwälten schon breiter wahrgenommen worden?

IG: Dazu kann ich nichts sagen, weil ich zu wenige kenne. Ich kenne natürlich viele Anwälte, die in dieser Hinsicht sowieso interessiert sind. Ich kann mir aber vorstellen, daß das in anderen Kreisen überhaupt keine Rolle spielt, weil das juristische Grundinteresse sich nicht immer unbedingt auf Flüchtlinge konzentriert. Aber ich glaube schon, daß sich da ein bißchen was verändert hat, ich merke das auch an Rückfragen aus ganz verschiedenen Kreisen. Diese Gruppe hier hat es geschafft, daß in der ganz breiten Öffentlichkeit auch schon einmal andere Fragen gestellt werden und die Flüchtlingsfrage überhaupt als Problem wahrgenommen wird.

SB: Fällt Ihnen noch etwas ein, was Sie zum Schlußwort als ein Credo zu dem ganzen Thema sagen wollen würden?

IG: Ich wünsche mir, daß das hier einfach ein Stein des Anstoßes wird. Wir haben dieses Problem zum Beispiel ganz furchtbar im Moment mit Tschetschenen, die über Polen kommen und alle abgelehnt und zurückgeschickt werden, und in Polen bekommen sie dann auch nicht das Verfahren, das sie benötigen. Wir haben es in Griechenland, wir haben es in Italien, das ist seit Jahren bekannt. Alle, die im Flüchtlingsbereich arbeiten, auch auf europäischer Ebene die Leute von der Kommission, schlagen die Hände über dem Kopf zusammen und sagen, so kann das nicht weitergehen. Und ich wünsche mir einfach, daß das wahrgenommen wird.

SB: Vielen Dank, Frau Graefe, für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] Siehe auch den Bericht zu dieser Pressekonferenz im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:
BERICHT/023: Lampedusa in Hamburg - Säumnisse und Chancen (SB)
http://schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0023.html

[2] http://lampedusa-in-hamburg.tk/


Bisherige Beiträge zu "Lampedusa in Hamburg" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/022: Lampedusa in Hamburg - Nachlese (SB)
BERICHT/023: Lampedusa in Hamburg - Säumnisse und Chancen (SB)
INTERVIEW/032: Lampedusa in Hamburg - Tor ohne Tür, Flüchtling A. Tchassei im Gespräch (SB)
INTERVIEW/033: Lampedusa in Hamburg - Christenpflicht und Staatsräson, Pastor Sieghard Wilm im Gespräch (SB)
INTERVIEW/034: Lampedusa in Hamburg - das fordert die Geschichte, mit Andreas Gerhold im Gespräch (SB)

www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR:
REPRESSION/1509: Wir sind Deutschland? - Wir sind Lampedusa! (SB)

Siehe auch Beiträge zum Flüchtlingssterben im Mittelmeer:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → EUROPOOL → BRENNPUNKT: SEEGRENZE

http://schattenblick.de/infopool/europool/ip_europool_brenn_seegrenze.shtml

Siehe auch Beiträge zu Flüchtlingsprotesten:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → TICKER: FLUCHT

http://schattenblick.de/infopool/buerger/ip_buerger_ticker_flucht.shtml

22. November 2013