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INTERVIEW/114: TTIP Nein danke - neoglobal konsequent ...    Ulrich Schneider im Gespräch (SB)


Streitbar und entschieden

Demonstration gegen TTIP am 23. April 2016 in Hannover


Ulrich Schneider ist Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Unter dem Dach dieses Spitzenverbandes der Freien Wohlfahrtspflege befinden sich mehr als 10.000 Vereine, Organisationen, Einrichtungen und Initiativen, was den 1924 gegründeten, als gemeinnützig eingetragenen Verein zu einem großen Akteur im zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA macht. Am Rande der Demonstration in Hannover konnte der Schattenblick Ulrich Schneider einige Fragen stellen.


Auf der Bühne in Hannover - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ulrich Schneider
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Heute sind in Hannover 90.000 Menschen gegen TTIP und CETA auf die Straße gegangen. Haben Sie den Eindruck, daß das eine adäquate Zahl hinsichtlich der Skepsis und des Mißtrauens, das in der Bevölkerung gegenüber diesen Freihandelsabkommen herrscht, ist oder hätten es auch noch mehr sein können?

Ulrich Schneider (US): Die Zahl von 90.000 Demonstrantinnen und Demonstranten ist weit mehr als wir erwartet hatten. Eigentlich weit mehr als das, was möglich war. Wir haben nicht für eine solch große Zahl mobilisiert, das muß man sehen. Große Partner, die im Bündnis sind, haben sich in der bundesweiten Mobilisierung für den heutigen Termin erst einmal zurückgehalten und konzentrieren sich auf den 24. September, dem großen Tag der dezentralen Aktionen, und von daher war das enorm. Diese große Zahl verleiht auch dem Stimmungswechsel in dieser Gesellschaft zum Thema TTIP ganz gut Ausdruck. Mittlerweile ist eine Mehrheit derer, die überhaupt wissen, was TTIP ist, deutlich dagegen eingestellt und will dieses Abkommen in dieser Form auf keinen Fall. Das hat sich heute hier auch gezeigt. Das hat auch Wirkung auf Merkel, auf Obama und auf die Verantwortlichen in der EU-Kommission. Man kann nicht dauerhaft Politik gegen die Bürgerinnen und Bürger machen.

SB: Könnte man auch einen Zusammenhang zwischen der Agenda 2010-Politik und TTIP herstellen? Das Freihandelsabkommen ist ein schwer faßbares Konstrukt, ein transnationales Projekt, das sehr tief in rechtliche und gesetzliche Regularien eingreift. Kommt da vielleicht eine Art neuer Gesellschaftsentwurf auf uns zu?

US: Diesen Gesellschaftsentwurf gibt es schon, das ist der neoliberale Gesellschaftsentwurf, wo alles und jedes erst einmal unter Renditegesichtspunkten betrachtet wird. Insofern ist TTIP gar nicht so kompliziert. TTIP ist kompliziert in den Details, aber im Großen und Ganzen sehr klar: Es geht um die Rendite multinationaler Großkonzerne. Da findet sich in der Tat ein innerer Zusammenhang wieder, der von der Agenda 2010-Politik bis TTIP reicht. Es geht um neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik.

SB: Der US-Handelsbeauftragte Michael Fromann behauptet, Sie in Deutschland haben mit Ihren kleinen und mittelständischen Unternehmen, die hochqualitative Produkte herstellen, bei TTIP doch nur zu gewinnen. Was würden Sie dem entgegenhalten?

US: Es sind ja gerade die Kleinunternehmen und die mittelständische Wirtschaft, die Angst vor TTIP haben. Weil TTIP, da macht man sich nichts vor, nur denen dient, die überhaupt exportorientiert arbeiten. Das sind der Maschinenbau, die Pharmaindustrie und andere, das ist aber nicht der kleine Bäckerladen von nebenan. Aber alle werden unter TTIP letztlich insofern zu leiden haben, als daß wir plötzlich demokratische Rechte abgeben zugunsten von Gestaltungsmöglichkeiten multinationaler Konzerne. Das können wir nicht wollen.

SB: Angenommen, es würde gelingen, TTIP zu verhindern. Wäre damit viel gerettet oder geht es nicht um grundsätzliche Fragen in Anbetracht dessen, was bereits an Sozialstaatlichkeit und noch nicht ökonomisierten Lebensverhältnissen zerstört wurde?

US: Es geht letztlich um die zentrale Frage, ob der Mensch im Mittelpunkt zu stehen hat oder die Rendite. Darum geht es. Ob TTIP jetzt neu aufgesetzt wird oder nicht, die Frage wird uns erhalten bleiben. Es geht unter diesem Aspekt um einen fairen Welthandel, einen Welthandel, der nicht nur die Rendite der ohnehin Reichen im Blick hat, sondern der nachhaltiges Wirtschaften fördert und wo fair miteinander umgegangen wird. Und es geht auch um eine nachhaltige soziale Gestaltung der einzelnen Länder wie Deutschland.

SB: Nun ist es aus Sicht mancher Länder des Südens auch früher nicht sehr fair zugegangen, als es noch keine EU gab und keine Freihandelsabkommen im modernen Sinne. Wo liegt da das Problem?

US: Das Problem liegt in der Kurzsichtigkeit. Die politische Interessenvertretung einer fairen Wirtschaftspolitik, gerade auch in der Entwicklungpolitik, bricht sich häufig an den Interessen von Großkonzernen. Und dann kommt es letztlich darauf an, wer eigentlich welche Lobby und welche Macht hat. Und die Großkonzerne entwickeln gerade dann umso mehr Macht, je weiter die politischen Strukturen von der Bevölkerung entfernt sind. Und die EU ist im Moment verdammt weit weg von Hannover.

SB: Bei der medialen Vermittlung von TTIP erhält man leicht den Eindruck, daß es die Protagonisten des Freihandelsabkommens sehr leicht haben. Sie haben das große Geld und die großen PR-Apparate auf ihrer Seite, viele Medien berichten wirtschaftsfreundlich, und die Kritiker müssen eigentlich immer viel weiter ausholen, um zu erklären, was daran problematisch ist. Wie sollte man Ihrer Ansicht nach als soziale Bewegung mit dieser Übermacht in der Meinungsbildung umgehen?

US: Die Lobbyisten für TTIP haben das Geld, wir haben die Menschen, und die einzige Chance ist in der Tat zu zeigen: Wir sind viele. Die Menschen auf die Straße bringen und deutlich machen: Wenn ihr gegen unser aller Interessen Politik machen wollt, dann wird sich das auch politisch irgendwann für euch rächen. Das ist die Chance, die wir haben. Wir können nur auf eine funktionierende Demokratie setzen. Mehr Möglichkeiten haben wir nicht. Das tun wir heute mit 90.000 in Hannover, ein Tag, der einen als Demokrat sehr glücklich machen kann.

SB: Herr Schneider, vielen Dank für das Gespräch.

1. Mai 2016


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