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INTERVIEW/150: Klimagegengipfel - Gas geordert, Stopp gefordert ...     Frida Kieninger und Andy Gheorghiu im Gespräch (SB)



Bislang zieht die Europäische Union keine eigenen Steuern ein. Sie verwaltet die Einnahmen, die ihr die Nationalregierungen zur Verfügung stellen. Der Haushalt der EU umfaßte in diesem Jahr 157,86 Mrd. Euro. Davon wurden 30 Mrd. Euro der Connecting Europe Facility (CEF) zugewiesen, die damit Projects of Common Interest, also Projekte gemeinsamen Interesses, finanziert. Hierzu gehörten und gehören weiterhin milliardenschwere Einrichtungen der fossilen Energiewirtschaft wie zum Beispiel Erdgaspipelines.

Die wenigsten EU-Bürgerinnen und -Bürger dürften sich darüber im klaren sein, daß mit den von ihnen erarbeiteten und als Steuern abgetretenen Geldern weiterhin auf hohem Niveau Technologien und Infrastrukturprojekte unterstützt werden, die als besonders klimaschädlich gelten. Um jedoch die globale Erwärmung auf einer Stufe zu stoppen, bei der Inselstaaten wie Kiribati im Pazifischen Ozean nicht vollkommen untergehen, müssen 80 bis 90 Prozent der bekannten Reserven an Erdöl, Erdgas und Kohle im Boden bleiben. Sie dürfen nicht gefördert werden, und jeder weitere Ausbau beispielsweise der Gasinfrastruktur in der Europäischen Union weist in die verkehrte Richtung, widerspricht der wissenschaftlichen Berechnung der maximal noch zu fördernden Mengen von fossilen Energieträgern und führt zur Vertreibung von zig Millionen Menschen aus ihrem angestammten Lebensraum.

Unter anderem mit dieser Problematik hat sich der People's Climate Summit (PCS), der vom 3. bis 7. November 2017 und damit zeitlich vor dem offiziellen UN-Klimagipfel COP 23 in Bonn stattfand, intensiv auseinandergesetzt. Einer von über 50 Workshops des PCS trug den Titel "Keine Kohle und definitiv auch kein Gas" und wurde von Pascoe Sabido (Corporate Europe Observatory), Andy Gheorghiu und Frida Kieninger (beide Food & Water Europe) sowie Kjell Kühne (Gastivists) referiert. Wie wir an anderer Stelle berichteten, (tinyurl.com/yazxtj9z) wurde bei diesem Treffen mit dem Mythos aufgeräumt, daß Erdgas eine klimatisch weniger problematische und von daher unterstützenswerte Alternative zur Verbrennung von Kohle ist. Im Anschluß an den Workshop sprach der Schattenblick mit Frida Kieninger und Andy Gheorghiu über weitere Aspekte der Gasversorgung der Europäischen Union.


Porträt der beiden - Foto: © 2017 by Schattenblick

Andy Gheorghiu und Frida Kieninger, Food & Water Europe
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Zunächst einmal möchte ich euch fragen: was ist ein "Gastivist"?

Frida Kieninger (FK): Gastivistin oder Gastivist werden Leute genannt, denen bewußt ist, welche Probleme im Umfeld der Gasförderung, aber auch der Gasinfrastruktur bestehen. Außerdem gibt es die "Gastivists"-Bewegung, die zu Beginn letzten Jahres entstanden ist. Das ist ein Zusammenschluß, der versucht, Grassroots-Aktivisten und -Aktivistinnen miteinander zu verknüpfen und auf lokaler Ebene der Europäischen Union miteinander zu vernetzen, um auf diese Weise den Informationsfluß untereinander zu fördern.

SB: Ihr habt davon berichtet, daß die Europäische Union Druck macht, um die Gasinfrastruktur auszubauen. Gibt es da einen Zusammenhang zu politischen Entwicklungen? Konkreter gefragt, findet das erst seit kurzem statt oder ist das Bestandteil der langfristigen Strategie der Europäischen Union, wirtschaftlich mit den USA gleichzuziehen?

Andy Gheorghiu (AG): Was die Gasinfrastruktur betrifft, war sicherlich die Ukrainekrise der Auslöser schlechthin. Seitdem läßt sich das an mehreren Maßnahmen weiterverfolgen. Die Liste der "Projekte im gemeinsamen Interesse", über die wir heute im Workshop gesprochen haben, und das Budget dahinter aus der Connecting Europe Facility - CEF - existiert seit 2013. Die erste Ausschüttung erfolgte 2014.

SB: Ihr habt den Ausbau der Gasinfrastruktur in der EU vor allem unter dem Gesichtspunkt der Ökonomie beschrieben und deutlich gemacht, welche intensive Lobbyarbeit in Brüssel stattfindet. Erwähnt habt ihr auch die Diversifizierungsstrategie der EU, die ihre Abhängigkeit von Gasimporten aus Rußland verringern will. Könnte man sagen, daß mit dem Ausbau des Gasnetzwerks weniger klimapolitische als vielmehr geopolitische Ziele verfolgt werden?

FK: Wenn man Gas durch Gas ersetzt, wie die Diversifizierungsstrategie vorschlägt, kommt zunächst einmal für das Klima nicht viel dabei heraus, und wie ich geschildert habe, sind Gaskraftwerke nicht die klimafreundlichere Alternative zu Kohlekraftwerken, wie es behauptet wird. Wenn man zum Beispiel konventionell gefördertes Gas durch unkonventionell gefördertes, gefracktes Gas ersetzt, dieses dann verflüssigt und von Nordamerika über den Atlantik nach Europa verschifft, kann man sich ausrechnen, wieviel höher die Emissionen sein werden und um wieviel geringer der Effizienzgrad ist. Insofern kann man bei den "Projekten gemeinsamen Interesses" nicht ernsthaft daran gedacht haben, daß sie besser fürs Klima sind.

SB: Habe ich das richtig verstanden, daß die Mitglieder des EU-Parlaments dem Ausbau der Gasinfrastruktur zustimmen müssen, obwohl sie eigentlich nur für die Erweiterung von Stromtrassen wären, und umgekehrt?

AG: Das gilt sowohl für die Gas- als auch Elektrizitätsinfrastruktur und zum Teil auch für Öl- und Smart-Grid-Projekte. Am Ende des Tages gibt es aber nur eine einzige Liste mit "Projekten gemeinsamen Interesses", zu der das EU-Parlament nur Ja oder Nein sagen kann. Dadurch wird eine unmögliche Situation erzeugt. Parlamentarierinnen und Parlamentarier werden immer irgendwelche Projekte gut und andere nicht gut finden. Sie sind quasi gefangen in einer Konfliktsituation, da sie etwas zustimmen müssen, das sie womöglich blödsinnig finden.

FK: Dabei ist es auch wichtig zu wissen, daß Gasinfrastrukturprojekte, wenn sie aus öffentlichen Mitteln der CEF der EU gefördert werden sollen, beweisen müssen, daß sie ökonomisch nicht tragfähig sind.

SB: Wer entscheidet, daß das alles in eine einzige Liste kommt?

FK: Die Trans-European Network Regulation (TEN-E regulation), also die Verordnung für transeuropäische Energienetze. Sie ist 2013 erschienen und dient quasi als Basisgesetz für diese Liste. Dort wurde das so festgelegt.

SB: Wer wiederum hat diese Verordnung verfaßt?

FK: Das war Ergebnis eines normalen Gesetzgebungsverfahrens. Sie wurde von der Kommission vorgeschlagen und anschließend im Rat und dann im EU-Parlament besprochen. Vor kurzem wurde diskutiert, ob man die TEN- für Energie erneuert. Dazu dürfte die EU-Kommission demnächst eine Kommunikation veröffentlichen, in der sie höchstwahrscheinlich befindet, daß es nicht nötig ist, das Gesetz zu verändern, weil es noch zu jung ist. Wir dagegen sehen in einigen Punkten der TEN-E Probleme.

SB: In der Umweltbewegung wird schon mal der Standpunkt vertreten, daß man Gaskraftwerke bauen oder ans Netz nehmen sollte, um von der Kohleverstromung wegzukommen. Wie steht ihr dazu?

FK: Das ist so, als würde man von einer Sackgasse zu einer anderen wechseln. Gas bereitet sowohl bei der Förderung als auch beim Transport ähnliche Probleme wie andere fossile Brennstoffe. Und was das Klima betrifft, kommt es sehr stark darauf an, wie man rechnet. Wenn man nur von CO2-Emissionen ausgeht, ist Gas weniger klimaschädlich. Wenn wir von Luftverschmutzung sprechen, ist es ebenfalls besser, Gas zu verbrennen als Kohle. Doch mit den Methanemissionen, die nicht zu unterschätzen sind, aber derzeit weder gemessen noch richtig berechnet, das heißt, bei weitem nicht in ihrem gesamten Potential als Treibhausgas in Betracht genommen werden, ist es ganz klar, daß Gas keine Lösung des Klimaproblems sein kann. Aber selbst im (mehr als utopischen) Fall, daß Methanemissionen eingedämmt werden können und wir zur Energieerzeugung komplett auf Gas umsteigen, würde unser Kohlenstoffbudget innerhalb weniger Jahrzehnte aufgebraucht sein.

AG: Nochmal anknüpfend an die Frage von vorhin: Ist die Entscheidung der EU, die Gasinfrastruktur auszubauen, geopolitischer Natur oder soll sie dem Klimaschutz dienen? Ein ganz klares Ja zu geopolitischer Natur! Es hat gar keinen anderen Grund. Damit wird letztendlich auch die Problematik für die andere Frage deutlich. Wenn ich einen fossilen Brennstoffträger durch einen anderen ersetze, hat man es mit denselben Denkstrukturen zu tun; manchmal sogar mit denselben Players auf seiten der Industrie.

Die Öl- und Gasindustrie nutzt momentan Gas als das "sexy Ding", um unter anderem auch weiterhin Schwerölprojekte am Leben zu halten. Hier geht es um den verzweifelten Versuch einer Industrie, für weitere 50, 60 oder, wenn man die Gesamtkette betrachtet, 70 Jahre im Rennen zu bleiben. Was jetzt in Gas investiert wird, fehlt an Investment in erneuerbare Energieträger und Energieeffizienz.

Es ist Teil der Überzeugungsarbeit, die wir leisten müssen, auch jene Leute mit ins Boot zu holen, die auf dem Wissensstand von vor 20 Jahren sind, als man Gas als Brücke betrachtet hat, ohne dabei die verschiedenen Aspekte so genau zu beleuchten, wie wir das jetzt tun. Wir halten es für sehr wichtig, daß wir Gas nicht fälschlicherweise anpreisen und letztendlich so stark etablieren, daß aus ihm nichts anderes wird als das Kohleproblem von morgen.

SB: Vor einigen Jahren hat es noch geheißen, die USA könnten mit ihrem Flüssiggas niemals russisches Erdgas ersetzen, dazu fehle es an Terminals. Daran wird inzwischen gebaut. Wie schätzt ihr das ein, wird unter Hochdruck daran gearbeitet, daß die USA zum Gaslieferanten von Europa werden?

FK: Definitiv. Gleichzeitig glaube ich nicht, daß die USA neben Rußland eine große Rolle spielen werden, sowohl was die Preise als auch die Liefermenge betrifft. Selbst die US-Vereinigung der industriellen Energieverbraucher hat schon aufgeschrien.

AG: Die Industriellenvereinigung hat schon zweimal ihren Energieminister Rick Perry angeschrieben und darauf hingewiesen, daß ein Ausbau der Exportterminalkapazitäten zur Folge haben wird, daß die geschätzten Reserven der USA schneller verbraucht werden, als wünschenswert wäre.

FK: Und es wurde gewarnt, daß dann die Preise im Land ansteigen werden.

AG: Genau. Und daß es nicht im Interesse der Amerikaner sein kann, diese "Exportmania" voranzutreiben. Nichtsdestotrotz besteht der klare politische Wille, die vorhandenen Importterminals zu Exportterminals zu machen und weiter auszubauen. Dennoch werden Liefermengen, die sie fahren können, völlig marginal bleiben. Darüber hinaus kommt ins Spiel, was wir heute mehrfach erwähnt haben: Rußland wird immer in der Lage sein, sowohl was die Mengen als auch die Preise betrifft, den Wettbewerb über längere Zeit auszuhalten.

SB: Die Kapazität der riesigen US-Gaslagerstätte Marcellus Shale, in der Fracking betrieben wird, wurde weit überschätzt, hieß es vor einigen Jahren. Haben die USA als Gaslieferant für die EU überhaupt das Potential, langfristig zu einem nennenswerten Akteur zu werden?

AG: Die Zahlen sind sehr unterschiedlich, die verfolgen uns aber schon seit einigen Jahren. Selbst in der Boom-Phase 2010 bis 2013 war absehbar, daß der Peak der maximalen Fördermenge schnell erreicht werden würde. Die USA gehen noch immer davon aus, daß sie die Produktion steigern können. Es gibt aber Analysten, die ganz klar sagen, daß das ein totaler Hype ist. Meine persönliche Analyse lautet, daß wir eher davon auszugehen haben, daß dieses Potential nicht existiert und man lediglich aus geopolitischen Gründen, aber auch um an den Finanzmärkten Versprechungen verkaufen zu können, weiterhin auf den Hype setzt.

Ein konkretes Beispiel zur Beantwortung der Frage ist Polen. Polen wurde als die Schiefergasquelle Europas schlechthin gehypt. Dort ist die ganze Industrie reingegangen, und die Regierung hat sie willkommen geheißen. Doch schon bald waren es große Player wie Exxon Mobile und Marathon Oil, die als erste wieder abzogen. Andere haben zum Schluß ebenfalls aufgegeben, weil sich die geologische Wirklichkeit ganz anders darstellte als angenommen.

FK: Die Produktionskurve läuft steil bergab und es müssen ständig viele neue Bohrungen ausgebracht werden. Bei Vorhersagen zur Kapazität besteht immer die Frage, bei wieviel Aufwand sich die Förderung wirtschaftlich nicht mehr lohnt. Auch das ist ein Grund, warum unterschiedliche Zahlen zirkulieren. Manche Analysten sind extrem optimistisch, andere sagen, daß die Hälfte aller Frackingunternehmen in den nächsten Jahren schließen muß.

AG: Dann kommt noch eine andere ökonomische Wirklichkeit hinzu, selbst wenn die Mengen vorhanden wären: Die USA wollen inzwischen eher in den asiatischen Markt verkaufen, weil sie dort die besseren Preise erzielen als hier in Europa.

SB: Könnte es sein, daß sich die EU mit dem Ausbau des Pipelinenetzes auch auf die Öffnung Irans, das über große Erdgasreserven verfügt, für den Weltmarkt vorbereitet? Und wollen die USA das aufgrund der Konkurrenz zur EU auf politischer Ebene torpedieren, ähnlich wie das Atomabkommen?

AG: Das ist jetzt ein bißchen Spekulation, aber in dem Zusammenhang ist der Southern Gas Corridor ganz spannend. Er ist ein Überbleibsel des sehr alten, sehr ambitionierten Nabucco-Projekts. Das hätte wirtschaftlich nur überleben können, wenn vom Iran aus über die Türkei-Schnittstelle Gas in die Pipeline eingespeist worden wäre. Nun war ein Embargo gegen Iran verhängt worden, aber natürlich könnte dieses Southern-Gas-Corridor-Projekt theoretisch zum Einstieg werden, um iranisches Gas zu befördern.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.


Bisher im Schattenblick unter BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT zum People's Climate Summit (PCS) in Bonn, mit dem kategorischen Titel Klimagegengipfel versehen, erschienen:

BERICHT/097: Klimagegengipfel - Demo der Gemäßigten ... (SB)
BERICHT/101: Klimagegengipfel - Kernenergie schon gar nicht ... (SB)
BERICHT/102: Klimagegengipfel - Erdgas, keine Option ... (SB)
BERICHT/103: Klimagegengipfel - gemeinsam marschieren, getrennt schlagen ... (SB)

INTERVIEW/135: Klimagegengipfel - Kafkaeske Weisheiten ...     Uwe Hiksch im Gespräch (SB)
INTERVIEW/136: Klimagegengipfel - Störfall Wirtschaft und Energie ...     Dipti Bathnagar im Gespräch (SB)
INTERVIEW/139: Klimagegengipfel - nur noch wenig Zeit ...     Franziska Buch im Gespräch (SB)
INTERVIEW/140: Klimagegengipfel - agrarindustrielle Fleischproduktion abschaffen ...     Matthias Ebner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/142: Klimagegengipfel - Eskalation und Gegenwehr ...     Jonas Baliani (Ende Gelände) im Gespräch (SB)
INTERVIEW/143: Klimagegengipfel - wider besseren Wissens ...     Makereta Waqavonovono im Gespräch (SB)
INTERVIEW/144: Klimagegengipfel - die auf der Strecke bleiben ...     Barbara Unmüßig im Gespräch (SB)
INTERVIEW/145: Klimagegengipfel - integrative Linksdiskussion ...     Dagmar Enkelmann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/146: Klimagegengipfel - Antikernkraft und der lange Marsch ...     Don't-Nuke-the-Climate!-Aktive im Gespräch (SB)
INTERVIEW/147: Klimagegengipfel - umgelastet ...     Titi Soentoro im Gespräch (SB)
INTERVIEW/148: Klimagegengipfel - Flucht, Gewalt und Frauenelend ...     Samantha Hargreaves im Gespräch (SB)
INTERVIEW/149: Klimagegengipfel - demokratische Ergebnisnot ...     Sean Sweeney im Gespräch (SB)


1. Dezember 2017


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