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FLUCHT/031: Getretene Würde - Teil des Problems (SB)


Proteste libyscher Kriegsflüchtlinge in Hamburg - 19. Juni 2013

Verantwortung wegen des Libyenkrieges verweigert - Kundgebung vor dem französischen Generalkonsulat


Etwa 80 Demonstrierende auf dem Weg zum französischen Generalkonsulat - Foto: © 2013 by http://lampedusa-in-hamburg.tk

Demonstrationsmarsch obdachloser Überlebender des Libyen-Krieges am 18. Juni 2013 in Hamburg
Foto: © 2013 by http://lampedusa-in-hamburg.tk/

Nach wie vor verweigert der Hamburger Senat den rund 300 Kriegsüberlebenden aus Libyen, die seit Mitte April auf Straßen, in Unterführungen oder unter Brücken zu nächtigen sich gezwungen sehen, da es für die meisten von ihnen kein Obdach gibt, ein humanitäres Entgegenkommen. Ungeachtet zahlreicher Proteste und konkreter Solidarität nicht zuletzt auch aus Kirchenkreisen hält der Senat, der sich in diesem Punkt mit dem Bundesinnenministerium einig weiß, an dem Bestreben fest, die unwillkommenen Zeugen eines Krieges, den inzwischen namhafte Völkerrechtler für völkerrechtswidrig halten, so schnell wie möglich abzuschieben. Der angebotene Aufenthalt in einer leerstehenden Schule war seitens des Senats an die Bedingung geknüpft worden, daß sich alle Flüchtlinge registrieren lassen müßten - was von der Nordkirche umgehend als Versuch, die eigentlich anvisierten baldmöglichsten Abschiebungen zu ermöglichen, erkannt und zurückgewiesen worden war.

Die Kriegsüberlebenden verstehen sich keineswegs als Opfer einer rigiden Flüchtlings- und Abschiebepolitik, mit der sie keineswegs nur in Hamburg, sondern in der gesamten EU konfrontiert sind. Sie treten aktiv für ihre Interessen ein und scheuen keineswegs davor zurück, die ohnehin offen zu Tage tretenden Zusammenhänge zwischen der jetzigen abwehrenden Haltung der EU-Staaten und ihrer Beteiligung an einem Krieg, der dieses Flüchtlingselend erst verursacht hat, auch zu benennen. So wurde in einem auf der Webseite der Gruppe "Lampedusa in Hamburg", wie sich die in der Hansestadt gestrandeten libyschen Kriegsüberlebenden inzwischen nennen, veröffentlichten Aufruf zu einer Kundgebung vor dem französischen Generalkonsulat, die am Dienstag stattfand, an die voranpreschende Rolle Frankreichs beim Weg der NATO in den Libyen-Krieg erinnert [1]:

Mit der "Opération Harmattan" begann am 19. März 2011 Frankreich im militärischen Verband mit Großbritannien, den USA und Kanada die Bombardierung Libyens. Drei Tage später folgten die Luftangriffe unter dem Kommando der NATO.
Die massiven Luftangriffe wurden als "Schutz der Zivilbevölkerung" der Öffentlichkeit verkauft, tatsächlich war es eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates mit dem Ziel eines "Regime Change".
Wir selbst waren Teil der Zivilbevölkerung in Libyen. Wir gehörten keiner politischen Partei oder Fraktion an, weder auf Seiten des Regimes noch auf Seiten der Opposition. Wir haben gearbeitet und unsere Familien versorgt. Wir wurden Opfer der Bombenangriffe ebenso wie der Angriffe durch die verschiedenen Kriegsparteien angeheizt durch die Intervention. (...)
Die Länder, die im Namen von Demokratie und Menschenrechte Krieg führen, verweigern uns heute jeden Schutz. Sie gehen sogar noch weiter und bedrohen uns mit der Abschiebung in Länder, die wir vor langer Zeit verlassen hatten, um in unserer neuen Heimat Libyen unsere Leben zu sichern.
Wir haben alles verloren und Libyen ist ein brennendes Land voller Waffen geworden. Wir sind jetzt in Europa und wir werden hier bleiben. In Italien lebten wir zwei Jahre unter schweren Bedingungen unter Verwaltung des italienischen Staates. Nach der Anerkennung unseres humanitären Flüchtlingsstatus wurden wir nachdrücklich aufgefordert, nach Nordeuropa zu gehen. Keiner der Staaten der Europäischen Union will die Verantwortung übernehmen und Schritte zur Unterstützung der Kriegsflüchtlinge aus Libyen machen - die Zivilisten, die angeblich geschützt werden sollten.

Einem Bericht von "Lampedusa in Hamburg" [2] zufolge setzten sich am Dienstag nach einer Kundgebung an der Hamburger Moorweide rund 120 Menschen in Richtung des französischen Generalkonsulats in Bewegung. Sie taten ihr Möglichstes, um den Hamburger Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, wieso es sie hierher - wie auch in andere Staaten der EU - verschlagen hat und warum sie die Auffassung vertreten, daß die Staaten, die damals Krieg gegen Libyen geführt haben, auch für dessen humanitäre Folgen die Verantwortung übernehmen müßten. So hieß es in dem Bericht [2]:

In Ergänzung zu dem Banner, welcher die Aufschrift trug "Wir haben nicht den NATO-Krieg in Libyen überlebt, um auf Hamburgs Straßen zu sterben", wurden einige eindrucksvolle Aufnahmen von den Flüchtlingen hochgehalten. Auf diesen Aufnahmen waren Momente aus dem Krieg in Libyen zu sehen, um die brutale und gefährliche Situation vor Ort deutlich zu machen. Während der Demonstration wurden zusätzlich verschiedene Parolen angestimmt; wie zum Beispiel "Kein Mensch ist illegal" oder "We are here, TO STAY" (deutsch: "Wir sind hier, um zu bleiben"). Am Rande der Demonstration wurden Solidaritätserklärungen des Hamburger Flüchtlingsrates an Passanten_innen verteilt.

Direkt vor dem Konsulat wurde eine Kundgebung abgehalten mit mehreren Reden und Wortbeiträgen Betroffener, in denen die Rolle Frankreichs im Libyen-Krieg, aber auch in Staaten wie Mali und der Elfenbeinküste thematisiert wurde. Dem Vernehmen nach waren die Konsulatsmitarbeiter zu keiner Stellungnahme bereit, sie verwiesen auf ein späteres, vereinbartes Gespräch, in dem verschiedene Aspekte und Fragen geklärt werden würden. Ob diese Unterredung inzwischen stattgefunden und zu welchen Ergebnissen sie geführt hat, ist zur Stunde noch unklar.

Kundgebung vor dem Konsulat, Menschen hinter Absperrgittern - Foto: © 2013 by http://lampedusa-in-hamburg.tk

Kundgebung vor dem Generalkonsulat des Staates, der 2011 als erstes Libyen bombardierte
Foto: © 2013 by http://lampedusa-in-hamburg.tk/

In der Hamburger Presse spiegelt sich die speziell gegenüber diesen Kriegsflüchtlingen ambivalente Haltung wider. Einerseits stellen sich namhafte Konzernmedien wie das Hamburger Abendblatt hinter die Position des SPD-Senats, an den beabsichtigten Abschiebungen festzuhalten und die Forderungen, den Obdachlosen ein Bleiberecht zu gewähren, zu ignorieren. Andererseits möchten auch als konservativ geltende Medien sich wohl nicht nachsagen lassen, elementarste humanitäre Forderungen, wie sie vehement auch aus Kirchenkreisen erhoben werden, abzulehnen. Die Proteste der Kriegsflüchtlinge und die Kundgebung der rund 80 Teilnehmenden vor dem französischen Konsulat in der Heimhuder Straße fanden Erwähnung im Hamburger Abendblatt [3]:

Die Demonstranten forderten Unterstützung und den Verzicht auf Abschiebung. Rund 80 Menschen beteiligten sich an dem Protest. "Wir haben alles verloren und Libyen ist ein brennendes Land voller Waffen geworden", heißt es auf einem Flugblatt der Flüchtlinge. Und weiter: "Wir sind jetzt in Europa, und wir werden hier bleiben." Dass das französische Generalkonsulat Ziel der Demonstranten war, ist kein Zufall. Frankreich hatte im März 2011 gemeinsam mit Großbritannien, den USA und Kanada mit der Bombardierung der Truppen des Gaddafi-Regimes in Libyen begonnen. Drei Tage später folgten Luftangriffe unter dem Kommando der Nato. (...)
Kirche und Diakonie verstehen ihr Engagement für die Libyen- Flüchtlinge als "humanitäre Nothilfe". Am vergangenen Wochenende rief Hamburgs Bischöfin Kirsten Fehrs die 171 evangelischen Kirchengemeinden der Stadt zu weiterer Unterstützung auf und bat um Spenden auf. "Jeder Mensch hat ein Grundrecht auf Gesundheits- und Basisversorgung sowie Unterbringung", steht auf einem Info-Flyer der Nordkirche. Und: "Auch Jesus war ein Flüchtlingskind."

So sehen das keineswegs alle Menschen in Hamburg. In einem Fernsehbeitrag des Norddeutschen Rundfunks wurde gestern darüber berichtet, daß die Kriegsflüchtlinge, die seit drei Wochen in der St.-Pauli-Kirche übernachten, verstärkt Drohanrufen und rassistischen Beschimpfungen ausgesetzt seien. [4] Auf der anderen Seite gibt es immer wieder Menschen in der Nachbarschaft und zahlreiche Organisationen, die praktische Solidarität üben und ein Bleiberecht für die obdachlosen Kriegsüberlebenden fordern. Sieghard Wilm, Pastor der St.-Pauli-Kirchengemeinde, in deren Kirchenschiff seit Wochen bis zu 80 Menschen übernachten, schilderte gegenüber Deutschlandradio Kultur am Dienstag, wie die praktische Solidarität aussieht [5]:

Gleich neben dem Altar steht das Frühstücksbuffet: zusammengeschobene Tische, eine Kiste mit Brötchen, gefüllte Kaffekannen, Marmeladen, Plastikgeschirr, Plastikbecher, Backbleche. "Das sind alles Spenden. Dieser Kuchen, der hier heute ausgegeben wird, der ist von einer Nachbarin. Das ist alles zu Hause gebacken, da kommen Leute mit so einem ganzen Backblech vorbei. Das ist natürlich total rührend. Das Brot ist von einer Bäckerei gespendet. Das sind alles so Sachen, die vorbei gebracht werden. Das heißt aber: wir wissen nicht sicher, was wir am nächsten Tag haben werden. Das ist ein bisschen immer auch eine Wackelpartie."

Der Geistliche machte jedoch auch deutlich, wie unsicher die Situation der in seiner Kirche nächtigenden Menschen nach wie vor ist. So fragte er [5]:

Nur was ist jetzt die Konsequenz? Da möchte ich doch einmal wissen, was die Innenbehörde jetzt tun möchte! Also ganz konkret tun möchte. Da wir hier 80 dieser Gäste hier haben bei uns, haben wir natürlich ein ganz, ganz lebhaftes Interesse zu wissen: Wie geht es weiter? Wird die Polizei hier bald vor der Tür stehen und die Menschen abgreifen?"

Aus der Hamburger Innenbehörde sei zu vernehmen gewesen, es bestünde kein Grund zur Eile, die Kirche sei ein geschützter Raum, den die Polizei nicht verletzen werde. Doch was geschieht mit den Menschen, sobald sie allmorgendlich die Kirche verlassen? Und was ist mit all den übrigen Betroffenen, die sich nach wie vor Nacht für Nacht auf Hamburgs Straßen durchschlagen müssen, ohne ein Dach über dem Kopf zu haben und sich irgendwie ernähren zu können? Die humanitäre Situation all dieser Menschen ist nach wie vor eine so große Katastrophe, daß althergebrachte politische Kategorien von "rechts" und "links" ihre Gültigkeit verlieren. So setzt sich mittlerweile auch der Fraktionsvorsitzender der CDU in der Bezirksversammlung Altona, Uwe Szczesny, für einen sechsmonatigen Abschiebestop ein. In einem Interview mit der taz erläuterte er seine Beweggründe [6]:

Wenn wir uns um die Menschen kümmern, wollen wir nicht von vornherein sagen: Ihr werdet abgeschoben. Es könnte auch eine Duldung oder ein Bleiberecht dabei herauskommen, etwa über die Härtefallkommission. Deshalb wollen wir die Frage nach der Perspektive offen lassen, wenn wir in einen Altonaer Dialog eintreten.

Auf die Bemerkung, er ziehe mit seiner Haltung - für die ihm, wie er freimütig einräumte, auch innerhalb der CDU von manchen ein Vogel gezeigt werde - links an der SPD vorbei, sagte der Altonaer Kommunalpolitiker [6]:

Bei dieser Frage geht es nicht darum, eine Partei politisch zu überholen, auf welcher Seite auch immer. Es geht ausschließlich darum, sich um die Flüchtlinge zu kümmern. Für uns ist das eher konservativ: Sich für Menschen, die in Not sind, einzusetzen, ist weder links noch rechts, sondern urchristlich.

Allem Anschein nach ist ein solches "urchristliches" Verständnis in Hamburg wie anderswo eher Ausnahme denn Regelfall. Wäre dem nicht so, müßten Kriegsüberlebende nicht mit Transparenten durch die Straßen einer Weltstadt ziehen, auf denen geschrieben steht: "Wir haben nicht den NATO-Krieg in Libyen überlebt, um auf Hamburgs Straßen zu sterben."


Fußnoten:

[1] Demonstration zum französischen Generalkonsulat, veröffentlicht am 17.06.2013
http://www.lampedusa-in-hamburg.org/

[2] Demonstration zum französischen Generalkonsulat - Bericht, veröffentlicht am 19.06.2013
http://www.lampedusa-in-hamburg.org/

[3] http://www.abendblatt.de/hamburg/article117235355/Fluechtlings-Demo-vor-franzoesischem-Generalkonsulat.html

[4] Hamburg Journal - 18.06.2013, 19:30 Uhr

[5] http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/reportage/2147031/

[6] http://www.taz.de/Interview-Fluechtlinge/!118308/

19. Juni 2013