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KAMPAGNE/084: Kein Schnitt ins Leben - Bilanz der zweijährigen Kampagne (frauensolidarität)


Terre des Femmes in der frauensolidarität - Nr. 116, 2/11

Kein Schnitt ins Leben
Bilanz der TDF-Kampagne gegen weibliche Genitalverstümmelung 2008-2010

Von Franziska Gruber


Am 25.11.2010 ging die bundesweite zweijährige Kampagne "KEIN SCHNITT INS LEBEN!" zu Ende. Unserem wichtigsten Ziel, die Öffentlichkeit in Deutschland über die weltweiten Ausmaße weiblicher Genitalverstümmelung (englisch: Female Genital Mutilation, kurz: FGM) zu informieren und für die Situation der über 20.000 betroffenen Frauen und mehr als 5.000 gefährdeten Mädchen hierzulande zu sensibilisieren, sind wir wesentlich näher gekommen.


Aktionen

Am 24.11.2008 wurde die Kampagne im Berliner Abgeordnetenhaus unter der Schirmfrauschaft der Abgeordneten Anja Kofbinger eröffnet. Vor 170 TeilnehmerInnen las die Schauspielerin und TDF-Botschafterin Nina Hoss aus Büchern betroffener Frauen. Bei der Auftaktveranstaltung wurde auch erstmals der mit Unterstützung der Agentur Heymann Brandt de Gelmini erstellte Kampagnenclip gezeigt. Verschiedene Fernsehsender strahlten den Clip in den letzten beiden Jahren kostenlos aus.

Mit der Kampagne startete die TDF-Wanderausstellung "Sie versprachen mir ein herrliches Fest ...". Die Ausstellung, die auf mehr als 20 Fahnen über Genitalverstümmelung und die Hintergründe informiert, tourte während der Kampagne durch ganz Deutschland und war - häufig begleitet von einem umfangreichen Rahmenprogramm - in 22 Städten zu sehen. Mit gezielten Aktionen, wie der Verteilung von 90.000 unserer mehrsprachigen Präventionsbroschüren "Wir schützen unsere Töchter" in 3.000 gynäkologischen Arztpraxen, ist es uns darüber hinaus gelungen, betroffene MigrantInnen und ihre Familien anzusprechen.

Anfang 2010 rief Waris Dirie zusammen mit der Agentur Heymann Brandt de Gelmini mit "Stop FGM now!" zum Einsatz gegen weibliche Genitalverstümmelung auf. Die internationale Kampagne bündelt das Engagement mehrerer Organisationen und bietet konkrete Unterstützung. TDF beteiligte sich an "Stop FGM now!" und startete eine Unterschriftenaktion. Über 21.000 Menschen unterstützten unser Anliegen, dass weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland in den medizinischen Diagnoseschlüssel aufgenommen wird und Krankenkassen notwendige Behandlungskosten für betroffene Frauen übernehmen. Die Unterschriftenübergabe an das Bundesgesundheitsministerium ist für Sommer 2011 geplant.

Hier bedanken wir uns bei allen, die dazu beigetragen haben, dass wir mit der Kampagne unserem Ziel, die Situation betroffener Frauen zu verbessern und Mädchen vor Genitalverstümmelung zu bewahren, ein Stück näher gekommen sind: besonders bei den vielen ehrenamtlich tätigen Frauen und Männern, die sich mit Aktionen und Veranstaltungen engagierten, bei der Agentur Heymann Brandt de Gelmini, die uns mit Rat und Tat zur Seite stand, bei allen Kooperationspartnern, Zuschussgebern und nicht zuletzt bei allen SpenderInnen, die unseren Einsatz erst ermöglichten.


Erfolge in Deutschland, Sierra Leone und Burkina Faso

Auch politisch konnten wir einen Teilerfolg erringen: Im Juli 2009 beschloss der Bundestag, dass die Verjährungsfrist bei Kindesmisshandlung bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres der Betroffenen ruht. Das heißt, dass die Opfer von Kindesmisshandlungen - darunter fällt auch weibliche Genitalverstümmelung - bis zu ihrem 28. Lebensjahr strafrechtlich gegen die TäterInnen vorgehen können. Anlass war ein Antrag im Parlament zu FGM. TDF begrüßt es sehr, dass das Thema weibliche Genitalverstümmelung zu einer Verbesserung im Kinderschutz geführt hat, die allen Kindern in Deutschland zugute kommt.

Doch auch über Deutschland hinaus engagiert sich TDF für ein Ende weiblicher Genitalverstümmelung. Im Februar 2009 wurden in Sierra Leone Journalistinnen, die den Mut hatten, FGM in den Medien zu thematisieren, von BefürworterInnen der Praktik verfolgt und gedemütigt.

90% der Mädchen und Frauen in dem westafrikanischen Land sind beschnitten. TDF hat die sierra-leonische Regierung in einer Eilaktion dazu aufgerufen, die Vorfälle zu untersuchen und sich für ein Ende weiblicher Genitalverstümmelung einzusetzen. Die internationalen Proteste haben dazu geführt, dass FGM in Sierra Leone nun an unter 18-Jährigen verboten ist. Die von TDF seit 2009 unterstützte Organisation AIM (Amazonian Initiative Movement) bestätigt, dass das Gesetz den Anti-FGM-AktivistInnen im Land den Rücken stärkt. Dennoch bleibt noch viel zu tun, um das Bewusstsein der Menschen zu verändern. AIM arbeitet im 80 km von der Hauptstadt entfernten Lunsar. Dort gehen die AIM-MitarbeiterInnen in die umliegenden Dörfer und Schulen. Immer mehr Mädchen erfahren so, dass sie das Recht haben, unversehrt aufzuwachsen. Da sie aber gegen ihre Familien und die Beschneiderinnen meist wenig ausrichten können, bleibt ihnen nur die Flucht. AIM-MitarbeiterInnen, allen voran Rugiatu Turay, die Gründerin der Organisation, haben die Mädchen bei sich aufgenommen. Mit Unterstützung von TDF konnte nun ein Schutzhaus für die Mädchen gebaut werden. Sie werden dort von einer Sozialarbeiterin betreut und können eine Schule besuchen oder eine Ausbildung machen. Gleichzeitig vermittelt AIM zwischen den Mädchen und ihren Familien.

Außerdem unterstützt TDF seit über zehn Jahren in Burkina Faso die Organisation "Bangr Nooma", was soviel heißt wie "Es gibt nichts Besseres als Wissen". Durch die Arbeit von "Bangr Nooma" konnten im Projektgebiet bisher über 32.000 Mädchen vor der Genitalverstümmelung bewahrt werden. Immer mehr Dörfer wollen sich den Aufklärungskampagnen anschließen. In der Frauensolidarität 1/2011 berichteten wir ausführlich über die aktuellen Entwicklungen in Burkina Faso.


Ausblick

Ein Ende weiblicher Genitalverstümmelung können wir nur gemeinsam erreichen. Deshalb ist TDF gut vernetzt. Zusammen mit der Aktion "Weißes Friedensband" gründete TDF in Hagen einen Runden Tisch gegen FGM. Damit ist TDF bei Runden Tischen gegen Genitalverstümmelung in NRW, Baden-Württemberg, Berlin, München und Hagen aktiv. Ziel ist es, auf kommunaler und landesweiter Ebene zusammen mit engagierten Menschen aus afrikanischen Communities ein Bewusstsein für die Probleme betroffener Frauen und ihrer Familien zu schaffen und vor Ort konkrete Lösungen zu erarbeiten.

Durch die Kampagne erreichen uns heute immer mehr Anfragen von AnwältInnen und Flüchtlingsberatungsstellen. TDF unterstützt diese mit Informationen und Stellungnahmen, wenn einer jungen Frau, die aus ihrem Heimatland geflohen ist, oder ihrer Tochter bei einer Abschiebung die Genitalverstümmelung droht. In Fällen, in denen z. B. ErzieherInnen befürchten, ein Mädchen könnte bei einem Aufenthalt im Herkunftsland der Eltern verstümmelt werden, berät TDF ebenfalls und arbeitet eng mit BeraterInnen aus afrikanischen Communitys und den Jugendämtern zusammen.

Ein wichtiges Anliegen von TDF ist es daher, dass sich BeraterInnen aus afrikanischen Communitys, die es vor allem in Berlin, München, dem Ruhrgebiet und Frankfurt gibt, besser vernetzen können. Deswegen laden Maihsa e. V. - eine Selbsthilfegruppe afrikanischer Frauen in Deutschland - und TDF im Mai 2011 zu einem ersten Vernetzungstreffen, das von "filia - die Frauenstiftung" gefördert wird. Wir werden uns auch in Zukunft für ein Ende weiblicher Genitalverstümmelung einsetzen, damit unsere Vision von einer Welt, in der Mädchen und Frauen gleichberechtigt, selbstbestimmt und frei leben können, Wirklichkeit wird. Dabei sind wir auch weiterhin auf Ihre Unterstützung angewiesen.


Zur Autorin:
Franziska Gruber ist Referentin zum Thema "Weibliche Genitalverstümmelung" bei TERRE DES FEMMES.

Terre des Femmes
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Internet: www.frauenrechte.de


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Quelle:
Terre des Femmes in der Frauensolidarität Nr. 116, 2/2011, S. 22-23
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
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Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Oktober 2011