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HINTERGRUND/121: Menschenrechte auf Schutz vor Vertreibung


die Zeitung - terre des hommes, 4. Quartal 2006

Menschenrechte auf Schutz vor Vertreibung
25 Millionen Menschen auf der Flucht im eigenen Land

von Athanasios Melissis


Eines Tages gab Jamaliah die Hoffnung auf. Die junge Mutter tötete ihre zwei jüngsten Kinder und versuchte, sich das Leben zu nehmen. Lange Zeit hatte Jamaliah mit ihrer Familie zufrieden auf ihrem kleinen Stück Land auf der philippinischen Insel Mindanao gelebt. Doch dann wurde die Gegend mehr und mehr zum Schauplatz der Kämpfe zwischen islamischen Rebellen und Regierungstruppen. Räumungen ganzer Dörfer waren an der Tagesordnung, die Bewohner wurden häufig in Lager evakuiert. Auch die Familie Jamaliahs. Manchmal monatelang. Irgendwann bemerkten Verwandte, dass Jamaliah Angst vor anderen Menschen hatte und ständig fürchtete, das Dorf könnte überfallen werden. Anzeichen für ein Trauma, das in eine für Jamaliah und ihre Kinder tragische Verzweiflungstat mündete. Angesichts von Krieg und Vertreibung hatte die Frau sich entschieden, das Leben ihrer Kinder und ihr eigenes zu beenden.


Flucht vor Krieg und Gewalt

Die Situation Jamaliahs und ihrer Familie ist kein Einzelfall. Weltweit sind etwa 25 Millionen Menschen innerhalb ihres Landes auf der Flucht - unter ihnen schätzungsweise 13 Millionen Kinder und Jugendliche. Offiziell sind sie keine Flüchtlinge: Um als Flüchtling anerkannt zu werden, muss man eine internationale Grenze überqueren. Doch intern Vertriebene bleiben innerhalb der eigenen Landesgrenzen, haben oft keine Chance, sich in ein sicheres Drittland zu retten und sind fortwährend schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt.

Hintergrund von Vertreibung sind in der Regel Bürgerkriege: Die Menschen geraten zwischen die Fronten, werden aus ihren Dörfern verjagt, oder fliehen vor Gewalt, Folter oder Tod. Die Motive der Täter können dabei äußerst unterschiedlich sein. Vertreibungen sind oft gezieltes Mittel, um ethnische oder religiöse Minderheiten zu unterdrücken. Wie beispielsweise in Burma, wo das burmesische Militär bereits mehr als eine halbe Million Menschen vertrieben haben soll, mehrheitlich Angehörige der nach Autonomie strebenden Volksgruppen der Karen oder Shan. Auf diese Weise versucht das Regime, die Bürgerkriegsregionen des Landes unter seine Kontrolle zu bekommen. Ganze Dörfer werden aufgelöst, die Menschen in Lager gesteckt. Wer fliehen kann, versteckt sich in den unwegsamen Bergen und Wäldern oder versucht, illegal über die Grenze nach Thailand zu kommen.

Manche Kriegsparteien setzen Vertreibungen als Strategie ein, um sich Land anzueignen. So werden in Kolumbien weite Landflächen von den Paramilitärs für den Anbau von Koka und Mohn entvölkert, obwohl die dort lebenden Kleinbauern über Landtitel verfügen. "Die Landbevölkerung hat kaum eine Chance, sich zu wehren", berichtet die 19-jährige Jasmina, die im Alter von 15 mit ihrer Familie von ihrem Land vertrieben wurde. "Zum Beispiel müssen die Bauern jederzeit damit rechnen, dass eine bewaffnete Gruppe an ihre Tür klopft und Lebensmittel verlangt. Eine fatale Zwickmühle: Wer sich weigert, wird ermordet; wer etwas gibt, wird von der gegnerischen Gruppe der Kollaboration bezichtigt und muss um sein Leben fürchten."


In die Slums der Großstädte

Auf ihrer Flucht müssen diese so genannten intern Vertriebenen viele Gefahren auf sich nehmen: Plünderungen, lange Märsche durch verminte Gebiete, Essen- und Wassermangel, Unterernährung und Krankheiten. Kinder laufen Gefahr, durch die Kriegsparteien zwangsrekrutiert, Mädchen und Frauen, Opfer von Vergewaltigungen zu werden. In manchen Kriegsgebieten finden die Menschen Zuflucht in Notunterkünften und Lagern. In anderen retten sie sich Hals über Kopf in die Wildnis oder fliehen in die Slums der Großstädte.

Dort angekommen, müssen sie sich und ihre Familie irgendwie ernähren. Oft haben Vertriebene ihr gesamtes Hab und Gut verloren und versuchen, sich mit Gelegenheitsarbeiten durchzuschlagen. Jasminas Familie floh an den Stadtrand der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. "Nachdem unser Vater von der Guerilla gefoltert und ermordet worden war, bekamen wir Drohbriefe. Wir sollten die Finca verlassen, oder sie würden meine drei Brüder zwangsrekrutieren", erzählt Jasmina. Inzwischen hat ihre Mutter ein Restaurant und ernährt die Familie; Jasmina kann zur Schule gehen. Andere Kinder, die Opfer von Vertreibung geworden sind, haben keine Möglichkeit, eine Ausbildung zu erhalten. Ihnen bleiben oft nur wenige Alternativen: Sie werden kriminell, oder sie treten den bewaffneten Gruppen bei, um Sold zu bekommen oder selbst brandschatzen zu können. Vielen Frauen und Mädchen erscheint Prostitution als der einzige Ausweg.

Wenn sich die politische Situation ändert oder die Kampfhandlungen eingestellt werden, stellt sich vielen Vertriebenen die Frage der Rückkehr in ihre Heimatorte. Doch oft finden die Rückkehrer zerstörte Gebiete vor, in denen es an Krankenhäusern und Schulen, Infrastruktur und Arbeitsmöglichkeiten mangelt. Manchmal ist das Land noch vermint. Oder von anderen in Besitz genommen worden, und die Vertriebenen haben kaum eine Chance, ihren Grund und Boden zurückzubekommen. In Kolumbien handeln die Täter - also diejenigen, die Vertreibungen durchgesetzt haben - mit dem Staat Amnestiegesetze aus und können die geraubten Ländereien behalten. Wegen dieser schlechten Aussichten bleiben viele Vertriebene in Slums der Großstädte, wo sie versuchen, sich eine neue Existenz aufzubauen.


Menschenrechte kontra nationale Souveränität

25 Millionen Vertriebene gibt es auf der Welt. Wie kommt es, dass so viele Menschen nicht vor Vertreibung geschützt werden? Warum werden bereits Vertriebene nicht vor weiterem Unrecht bewahrt? Zwar geben UN, EU, nationale Regierungen und viele Nichtregierungsorganisationen jährlich Milliardenbeträge für Not- und Katastrophenhilfe aus. Für Hilfslieferungen, bei der Unterstützung von Lagern, Wasserversorgung und Schulen stellt beispielsweise die EU erhebliche Mittel zur Verfügung, die auch intern Vertriebenen zugute kommen.

Doch ein politischer Einsatz gegen interne Vertreibungen ist derzeit weder für die EU noch für Deutschland ein wichtiges Thema. Die Reaktion auf Vertreibungen und besonders auf die Ursachen des Problems bleibt oftmals halbherzig. Der Hauptgrund dafür ist, dass intern Vertriebene innerhalb ihres Heimatlandes bleiben. Ein Eintreten für diese Menschen und für die - universell geltenden - Menschenrechte ist zwangsläufig eine Einmischung in die nationale Souveränität des jeweiligen Staates. Regierungen haben in der Regel ein Interesse an der Vermeidung zwischenstaatlicher Spannungen. Damit bildet sich eine Art diplomatisches Schweigekartell.


Ein Menschenrecht auf Schutz vor Vertreibung

So komplex das Thema auch ist, es gibt Ansätze, wie sich die Situation der Vertriebenen verbessern ließe. In einer vor kurzem von terre des hommes unter dem Titel "Vertreibung von Kindern verhindern!" veröffentlichen Studie wird die aktuelle Vertreibungssituation in mehreren Ländern analysiert, und es werden Forderungen gestellt, wie die internationale Gemeinschaft auf das Problem reagieren sollte. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die existierenden völkerrechtlichen Instrumente vertriebenen Menschen keinen ausreichenden Schutz garantieren. Andreas Rister, Experte für Kinderrechte bei terre des hommes, ist Mitverfasser der Studie: "Dringend notwendig ist ein neues, völkerrechtlich bindendes Menschenrecht auf Schutz vor Vertreibung. Zwar verbessert ein weltweiter Standard nicht automatisch das Schicksal der Betroffenen, aber fehlende Regelungen nützen immer nur den Tätern." Die Studie betont die Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft durch das Völkerrecht, die Genfer Konventionen durchzusetzen, beispielsweise den Schutz von Zivilpersonen in kriegerischen Auseinandersetzungen. "Das heißt aber auch, den Druck auf die Täter zu erhöhen, sie anzuklagen und zu bestrafen", erklärt Andreas Rister. Dafür müssten bestehende Institutionen wie das Haager Tribunal und der Internationale Strafgerichtshof mehr Rechte erhalten und bessere Instrumente, diese durchzusetzen. "Aber auch Nichtregierungsorganisationen wie terre des hommes haben in diesem Prozess zwei wichtige Aufgaben", ergänzt Rister. "Einerseits den Opfern schnell und effektiv zu helfen, wie wir es beispielsweise mit zahlreichen Projekten in Kolumbien machen. Andererseits die öffentliche Diskussion um ein solches Menschenrecht zu beleben und die Öffentlichkeit zu mobilisieren, damit intern Vertriebene vor dem Vergessenwerden bewahrt werden und dem weltweiten Unrecht der Vertreibungen ein Ende gesetzt wird."


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Intern Vertriebene weltweit

Mexiko (10.000-12.000)
Guatemala (242.000)
Colombia (1.580.396-3.563.505)
Peru (60.000)

Senegal (64.000)
Guinea (82.000)
Liberia (48.000)
Cote d'Ivoire (500.000)
Nigeria (200.000)
Kongo (100.000-147.000)
DRC (1.664.000)
Angola (91.240)
Zimbabwe (569.&85)
Burudi (117.000)
Ruanda (undetermined)
Uganda (1.740.458))
Kenya (381.924)
Somalia (370.000-400.000)
Ethiopia (150.000-265.000)
Eritrea (50.509)

Lebanon (50.000-600.000)
Syria (305.000)
Iraq (1.200.000)
Palestinian Territories (21.142-50.000)
Israel (150.000-300.000)

India at least (600.000)
Sri Lanka (3411.175)
Bangladesh (500.000)
Nepal (100.000-200.000)
Pakistan (30.000-50.000)
Afghanistan (153.192-200.000)
Burma (540.000)
Indonesia (342.000-600.000)
Philippines (60.000)

Turkmenistan (undetermined)
Usbekistan (3.400)
Aserbaijan (575.000)
Armenia (8.000)
Georgia (240.000)
Turkey (365.000 - over 1 million)
Cyprus (210.000)

Serbia u. Mont (247.4000)
Croatia (4.900)
Bosnia u. Herz. (183.400)
Macedonia (770)


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Die aktuelle Studie von Andreas Rister zur
Vertreibungsproblematik ist über terre des
hommes zu beziehen.

Michaela Ludwig / Andreas Rister,
"Vertreibung von Kindern verhindern!
Für ein Menschenrecht auf Schutz vor Vertreibung",
316 Seiten, Bestellnummer: 222.1543.00,
Preis: 14,95 Euro, ISBN 3-924493-65-0


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Quelle:
die zeitung, 4. Quartal 2006, Seite 3
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
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veröffentlicht im Schattenblick am 3. Januar 2007