Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → TERRE DES HOMMES

PROJEKT/177: Unterstützung für junge Flüchtlinge in Abschiebehaft


die zeitung - terre des hommes, 4. Quartal 2007

"Wir fühlen uns wie Blinde und Taube"
Chemnitz: Unterstützung für junge Flüchtlinge in Abschiebehaft

Von Bastian Beege


"Ich hatte ein ganz bestimmtes Bild von Deutschland", sagt Arjan leise. "Menschenrechte und Demokratie. Doch bislang habe ich davon nichts mitbekommen." Der 15-Jährige verstummt und starrt auf die schmutzigweiße Wand vor sich. Dort hängt ein einzelnes Bild mit einer kleinen weißen Kirche vor einem Alpenpanorama. Das Photo strahlt Idylle aus - und wirkt an diesem Ort allein deshalb fehl am Platz.


Endstation Knast

Man sitzt im größten Besuchsraum der Justizvollzugsanstalt (JVA) von Chemnitz-Kaßberg. Er schweigt die meiste Zeit, während sein Vater Jalil eine Unglücksgeschichte erzählt, die in der irakischen Stadt Kirkuk begann. Bis vor zwei Jahren ist Arjan dort in die Schule gegangen, doch dann erhielten seine Eltern eines Tages eine anonyme Drohung: Entweder die Familie zahle 30.000 US-Dollar oder der Junge werde entführt. Trotz erfolgter Zahlung ließen die Drohungen nicht nach. Man blieb der Schule fortan aus Sicherheitsgründen fern, und vor einigen Monaten entschloss sich die Familie dazu, das Land zu verlassen. Ein Schlepper half ihr über die tschechische Grenze nach Deutschland, um anschließend mit ihren sämtlichen Habseligkeiten zu verschwinden. Ohne Papiere wurden die drei von der Bundespolizei aufgegriffen und als illegale Einwanderer festgenommen. Die Eltern brachte man in verschiedene Gefängnisse, während Arjan zuerst in einem Kinderheim und anschließend in der JVA in Chemnitz untergebracht wurde. Im Gefängnis bekamen er und seine Eltern keinerlei Unterstützung, niemand informierte sie beispielsweise über die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. "Wir fühlen uns wie Blinde und Taube", flüstert Arjan. "Wir wissen nicht, was hier läuft."


Hilfe für Kinder im Gefängnis

"Es ist eine Schande, dass Minderjährige überhaupt in Abschiebehaft genommen werden", schimpft Nadine Steinhäuser von der Arbeitsgemeinschaft In- und Ausländer in Chemnitz, einem langjährigen terre des hommes-Projektpartner. Der Chemnitzer Verein engagiert sich in der Jugendbildung, berät Asylbewerber und hilft insbesondere unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit liegt derzeit auf der Betreuung junger Flüchtlinge in Haft, da das Schicksal Arjans in Deutschland kein Einzelfall ist: Immer wieder gelangen auch minderjährige Flüchtlinge direkt nach ihrer Einreise in Abschiebehaft. Im Gefängnis müssen sie sich ihre Zelle häufig mit Erwachsenen teilen. Oftmals wird den Kindern kein gesetzlicher Vormund zur Verfügung gestellt, obwohl sie gar nicht in der Lage sind, ihre Rechte selbstständig zu vertreten. Auch darüber hinaus ist die Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland prekär: Ihr Asylantrag wird in der Regel abgelehnt und sie erhalten, wenn überhaupt, nur eine Duldung. Damit haben sie keinen Anspruch auf ausreichende medizinische und therapeutische Versorgung sowie auf Schulbesuch und berufliche Ausbildung. terre des hommes fordert deshalb einen grundsätzlichen Verzicht auf Abschiebehaft für Jugendliche unter 18 Jahren.

Das Ziel der Arbeitsgemeinschaft In- und Ausländer ist es, die Situation für die jungen Flüchtlinge in Haft zu verbessern. "In unseren Beratungsgesprächen klären wir die jungen Menschen über den rechtlichen Rahmen ihrer Situation auf und helfen ihnen bei der Organisation des Gefängnisalltags", erzählt Nadine Steinhäuser. "Darüber hinaus wird der Kontakt zu Anwälten und Familienangehörigen hergestellt." Um die Abschiebehaft vor allem für Minderjährige bereits im Vorfeld zu verhindern, stehen sie lind ihre Kollegen im intensiven Kontakt mit den zuständigen Behörden. Trotzdem bleiben die Informationen unzureichend. "Von 90 Prozent der minderjährigen Abschiebehäftlinge erfahren wir überhaupt nichts", schätzt die 26-Jährige. "Allein in der JVA Chemnitz dürfte es jährlich etwa 15 solcher Fälle geben." Oftmals hört sie von diesen Schicksalen erst dann, wenn es schon zu spät ist. So auch im Fall "Arjan": Der Junge wird am nächsten Tag mit seinen Eltern gemäß der so genannten "Dritt-Staaten-Regelung" nach Tschechien zurückgeschoben - mit ungewisser Zukunft. Insgesamt ist das Projekt für die jungen Häftlinge dennoch eine große Hilfe: Immer mehr von ihnen greifen auf die Hilfe des Chemnitzer Vereins zurück, und in einigen Fällen konnten etwa nachträglich Asylverfahren eingeleitet werden. Manch junger Flüchtling wird so vielleicht doch noch die Möglichkeit bekommen, die kleine weiße Kirche vor dem Alpenpanorama in der Realität zu sehen.

terre des hommes unterstützt die Arbeitsgemeinschaft In- und Ausländer in Chemnitz mit 5.000 Euro.


*


Quelle:
die zeitung, 4. Quartal 2007, S. 6
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
Internet: www.tdh.de

die zeitung - terre des hommes erscheint
4 Mal jährlich. Der Verkaufspreis wird durch Spenden
abgegolten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Dezember 2007