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PROJEKT/213: Nicaragua - Ausbildung und Aufklärung für Mädchen


die zeitung - terre des hommes, 3. Quartal 2010

Handwerk hat glitzernden Boden
Nicaragua: Ausbildung und Aufklärung für Mädchen

Von Stefan Schneider


»Oh, Fotos!« Junieth eilt aus dem Werkraum und kehrt nach kurzer Zeit zurück. Eben noch in ihrer Arbeitskleidung zwischen Sägespänen und Werkbänken, hat die 16-Jährige nun Make-up aufgetragen und trägt Hot Pants und ein Glitzer-Shirt, um sich bei ihrer Arbeit in der Tischlerei ablichten zu lassen. Zurückfallen in gewohnte Rollenklischees, oder die Freiheit zu entscheiden, wie man sich der Öffentlichkeit präsentieren möchte? Ihr Blick verrät: Sie möchte sich als attraktive Frau präsentieren, doch mindestens genauso möchte sie auf eigenen Beinen stehen.


Einkommen für Frauen

Junieth arbeitet in der Tischlerwerkstatt der »Mujeres Constructoras« und verdient ihr eigenes Geld. Vor 23 Jahren gründete sich in der Stadt Condega der Zusammenschluss von Frauen, die zunächst als Tischlerinnen arbeiteten und sich durch den Verkauf der erstellten Möbel finanzierten. Neben der Tischlerei kamen mit der Zeit noch die Bereiche Elektrik und Schweißarbeit hinzu. Seit 2005 bilden die Frauen in Condega auch aus. Das Projekt wird seit mehreren Jahren von terre des hommes unterstützt. Bis zu 20 Mädchen erhalten pro Jahr die Möglichkeit, ein Handwerk zu erlernen. Neben den praktischen Aufgaben besuchen sie Kurse über Allgemeinbildung, Mathematik, Sozial- und Naturwissenschaften, doch vor allem erhalten sie den Freiraum, um zu selbstbewussten und mündigen Frauen heranzuwachsen. »Meine Mutter war 19 Jahre alt, als sie zum ersten Mal schwanger wurde. Für mich ist das heute undenkbar, ich möchte auf jeden Fall erstmal studieren und einen richtigen Job haben, bevor ich Kinder kriege« sagt Walkenia, 16-jährige Schülerin im Elektrikerkurs. Viele Mädchen haben die Schule aus Geldnot oder wegen einer frühen Geburt abgebrochen. Die Ausbildung bei Condega ist eine Chance zurück ins Bildungssystem. Helen Shears, Leiterin der Ausbildungsabteilung bei Mujeres Constructoras, hält den Kontakt zu den meisten ihrer einstigen Schülerinnen: »Viele der ehemaligen Absolventinnen haben sich für ein Studium in einer Ingenieurswissenschaft entschieden. Und für alle war das Jahr in Condega ein Wegweiser in ihrem Leben.«


Aufklärung tut Not

Von Anfang an war es das Ziel der Mujeres Constructoras, sich der Probleme von Frauen in den ländlichen Gebieten Nicaraguas anzunehmen. »Neben unserem Handwerk unterstützen wir Frauen-Netzwerke und leisten Aufklärungsarbeit. Beispielsweise klären wir mit Workshops die Frauen der umliegenden Gemeinden über ihre Rechte auf«, sagt Helen Shears. Über die regelmäßigen Workshops am Wochenende erreichen die Mujeres Constructoras bis zu 50 Frauen und Mädchen. Und Aufklärung ist dringend nötig. Wie die Statistiken zu früher Mutterschaft in Nicaragua belegen, bekamen 2006 in ländlichen Gebieten knapp zwei Drittel der Frauen ihr erstes Kind bereits vor dem Erreichen des 20. Lebensjahres, in städtischen Gebieten sind es etwa 40 Prozent. Im Vergleich zu einer Erhebung von 1992 haben sich diese Zahlen kaum verändert, teilweise sind sie sogar gestiegen. Fast alle Teenager-Schwangerschaften sind ungeplant, oftmals werden die jungen Mütter von den Vätern verlassen. Das erste Kind ist meist gleichbedeutend mit dem Ende der Schule oder der Ausbildung. Dies wiegt besonders schwer, da gerade Mädchen aus ärmeren Verhältnissen früh schwanger werden und anschließend kaum die Chance auf finanzielle Unabhängigkeit haben. Abtreibung ist in Nicaragua illegal, und selbst elfjährige Mädchen, die kaum die körperlichen Anstrengungen einer Schwangerschaft überstehen können, sind gezwungen, das Kind auszutragen. »Ich würde gerne mehr Frauen ermutigen, eine vernünftige Ausbildung anzufangen, sagt Junieth, die mit ihrem glitzernden Oberteil in der Werkstatt steht. »Wir brauchen das Geldverdienen nicht nur den Männern zu überlassen.«


terre des hommes unterstützt das Frauenkollektiv »Mujeres Constructoras« mit 54.000 Euro.


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Quelle:
die zeitung, 3. Quartal 2010, S. 7
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2010