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PROJEKT/216: Haiti - Traumahilfe in der Hauptstadt Port-au-Prince


die zeitung - terre des hommes, 4. Quartal 2010

Das Erdbeben begreifen
Haiti: Traumahilfe in der Hauptstadt Port-au-Prince

Von Toni Keppler (freier Journalist)


Das Erdbeben vom 12. Januar hat das Leben der Haitianer verändert. Besonders betroffen sind Kinder: Die meisten Schulen sind eingestürzt, für viele gibt es keinen Unterricht. Die Parks, in denen sie früher spielten, haben sich in Zeltstädte verwandelt. Sie selbst wohnen nicht mehr zu Hause, sondern zusammengepfercht in einem Zelt oder in einer Übergangsunterkunft, die auch nicht viel geräumiger ist. Viele ihrer früheren Freunde sind tot, ihre Eltern oft verzweifelt. »Sie träumen davon, dass sie verschüttet werden«, erzählt die Kinderpsychologin Mélodie Benjamin. »Sie bilden sich ein, dass die Erde bebt, obwohl alles ganz still ist. Und sie sind sehr aggressiv.« Wenn sie Bilder malen, sind darauf einstürzende Häuser zu sehen und Menschen, denen ein Arm fehlt oder ein Bein; Leichen und viel Rot, viel Blut. Sie leiden an posttraumatischen Stresssymptomen und brauchen Hilfe. Mit der Unterstützung von terre des hommes lernen viele traumatisierte Kinder, mit ihren Erfahrungen zu einem normalen Leben zurückzukehren.


Struktur im Alltag

Auf dem Parkplatz hinter einem Bürogebäude in Petionville, einer Satellitenstadt oben auf dem Berg über Port-au-Prince, herrscht lauter Trubel. Gut 200 Kinder tollen herum, singen, tanzen, kicken. Oder sie sitzen konzentriert in einem der fünf grünen Busse, die die Regierung der benachbarten Dominikanischen Republik geschickt hat. Dort wird gebastelt, gemalt, oder es werden Geschichten erzählt. Dass die Kinder Hilfe brauchen, merkt man ihnen nicht sofort an. Sozialarbeiterinnen versuchen, den orientierungslos gewordenen Kindern eine Struktur für ihren durcheinander gekommenen Alltag zu geben.

In einer stillen Ecke stehen zwei Zelte. In einem sitzt Mélodie Benjamin, zusammen mit zehn Kindern. Benjamin lebte, wie hunderttausende Haitianer, mit ihrer Familie in den USA. Dort hat sie Psychologie studiert. Nach dem Erdbeben kam sie zurück in die Heimat, um den Kindern zu helfen, das Erlebte zu bewältigen. Sie arbeitet für Uramel, eine von terre des hommes unterstützte Organisation, die vor elf Jahren gegründet wurde und zunächst Opfern politischer Gewalt half. Jetzt kümmert sie sich auch um Kinder, die Opfer der Naturgewalt geworden sind. »Wir erklären ihnen, was ein Erdbeben ist«, sagt Benjamin. In kleinen Puppentheaterstücken oder Geschichten lernen die Kleinen, dass das, was am 12. Januar passiert ist, ein Naturereignis war. Nichts Übernatürliches und keine Bestrafung. »Wir sagen ihnen, dass es normal ist, wenn man Angst hat. Dass sie sich nicht schuldig fühlen müssen, weil sie überlebt haben und ihre Freunde oder Geschwister nicht. Dass auch Jungen weinen dürfen. Und dass das Erdbeben zwar ganz schlimm war, aber nicht das Ende der Welt bedeutet.« Auch die Eltern werden in die Aufarbeitung des Traumas einbezogen. »Wir sagen ihnen, dass sie ihren Kindern gegenüber nicht leugnen dürfen, dass es Tote gab, auch in der eigenen Familie«, erklärt Benjamin. Sie sollen ganz offen darüber sprechen. »Aber sie sollen nach Möglichkeit nicht vor ihren Kindern verzweifeln.« Sechs Wochen lang dauert dieses Programm zur Bewältigung des Erlebten. Insgesamt arbeiten in Port-au-Prince 24 Psychologinnen und Psychologen mit Uramel zusammen. Zwei Psychologinnen kümmern sich um Gruppen von jeweils zehn Kindern. Jede Gruppe trifft sich zwei Mal in der Woche für jeweils zwei Stunden. »Mit jedem Kind machen wir einen kleinen Test am Anfang und einen zweiten am Schluss des Programms«, sagt Benjamin. »Wenn wir bei einem Kind keine Besserung feststellen können, bekommt es Einzelbetreuung.«


»Ich habe es geschafft«

Frentzy Saint-Vil wird diese Einzelbetreuung nicht brauchen. Er hat gelernt, über das zu sprechen, was er am 12. Januar erlebt hat. Er erzählt davon lebendig, in Dialogen mit wechselnden Rollen und Stimmlagen, fast wie in einem Theaterstück. »Unser Haus hatte sieben Stockwerke«, erzählt er. »Es ist eingestürzt und alle Kinder waren tot. Ich aber habe es geschafft.« Er habe Arme gesehen und Beine, die aus den Trümmern herausragten. Und als erstes habe er seine Mutter gesucht. Er habe schon geglaubt, dass auch sie von Trümmern erschlagen worden sei, aber dann habe er sie schließlich entdeckt. »Auch sie hat es geschafft. Aber sie war in ein tiefes Loch voller Müll gefallen«, erzählt er. »Als ich sie gefunden habe, hat sie sehr gestunken.« Er lacht erleichtert.


terre des hommes setzt für die Soforthilfe und den langfristigen Wiederaufbau in Haiti insgesamt 4,5 Millionen Euro ein.


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Quelle:
die zeitung, 4. Quartal 2010, S. 7
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
Internet: www.tdh.de

die zeitung - terre des hommes erscheint
4 Mal jährlich. Der Verkaufspreis wird durch Spenden
abgegolten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2011