Schattenblick →INFOPOOL →DIE BRILLE → FAKTEN

AUTOREN/023: Zum Tode von Walter Kempowski (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2007

Kultur
Chronist der Epoche
Zum Tode von Walter Kempowski

Von Hanjo Kesting


Als er sechzig wurde, am 29. April 1989, wurde sein Geburtstag in Lübeck gefeiert. Walter Kempowski, das Geburtstagskind, notierte tags darauf im Tagebuch: "Der Empfang im Rathaus war etwas klamm. Schon der gelb-graue Saal enttäuschend, mit Lübecker Kaufmannsfrauen als Allegorien an der Wand. Ich bekam eine Glaskruke geschenkt mit Lübeck drauf und meinem Namen. Aber das Goldene Buch hatte man weggeschlossen. Dafür war ich noch nicht reif."

Ganz anders das Bild fünfzehn Jahre später, im April 2004. Landauf, landab gab es respektvolle Würdigungen, so wie Walter Kempowski sie noch nicht erlebt hatte. Die Geburtsartikel trugen Überschriften wie "Späte Blüte" oder "Der Triumph des Schulmeisters". Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG wagte einen Superlativ und nannte Kempowskis 'Echolot' die "vielleicht ungewöhnlichste, ja kühnste schriftstellerische Tat des zwanzigsten Jahrhunderts".

Aber die Würdigungen zeigten auch "einen neuen Ton der Verehrung und Anerkennung", fern feuilletonistischer Geburtstagsroutine. Im SPIEGEL wurde Walter Kempowski zum "Vater der Popliteraten" ernannt. Eine jüngere Autorengeneration, hieß es da, sehe den Autor der "Deutschen Chronik" zunehmend in der "Position eines heimlichen Klassikers und Gründungsvaters".

Kempowskis "Deutsche Chronik", die Grundlage seines literarischen Ruhmes, besteht aus sechs autobiografischen Büchern, die eine Familienchronik der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts darstellen - von der Zeit Kaiser Wilhelms II. bis in die Regierungsjahre Konrad Adenauers und seines östlichen Gegenspielers Walter Ulbricht. 'Tadellöser & Wolff' heißt das bekannteste Buch des Zyklus, es hat Walter Kempowski Anfang der Siebziger schlagartig zu einem der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller gemacht. Aber auch Romane wie 'Uns geht's ja noch gold', 'Aus großer Zeit', 'Ein Kapitel für sich' und 'Schöne Aussicht' haben Literaturgeschichte geschrieben. Die Verfilmung dieser Stoffe durch Eberhard Fechner hat zusätzlich dazu beigetragen, dass Walter Kempowskis Werk längst Allgemeingut geworden ist.

Eine Art objektivierenden Spiegel deutscher Verhältnisse und deutschen Bewusstseins schuf sich der Autor durch sein 1980 an seinem Wohnort in Nartum bei Bremen begründetes zeitgeschichtliches Archiv, in dem er Tausende von Dokumenten: Tagebücher, Briefe, Fotos usw., gesammelt hat - Material, das später die Grundlage bildete für das 'Echolot', ein kollektives Tagebuch, komponiert aus zahllosen Mosaiksteinen, die sich zur Epochenchronik zusammenfügen: vier Bände über die Monate Januar und Februar 1943, vier Bände über einen einzigen Monat des Jahres 1945, ferner ein Band über den Juni 1941: das Unternehmen "Barbarossa" (den deutschen Angriff auf die Sowjetunion), schließlich als Abschluss des grandiosen Unternehmens der 'Abgesang '45' aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, veröffentlicht sechzig Jahre nach Kriegsende, im Frühjahr 2005.

Die beiden Großprojekte Kempowskis, die "Deutsche Chronik" und das 'Echolot', sind komplementäre Unternehmungen: auf der einen Seite die Familiengeschichte, auf der anderen die aus zahllosen Mosaiksteinchen zusammengetragene, aus unterschiedlichen Perspektiven geschriebene Geschichte der Epoche.

Walter Kempowski wurde 1929 in Rostock als Sohn eines Reeders geboren. Er besuchte die Oberschule, war für kurze Zeit Flakhelfer und Lehrling in einer Druckerei und 1948, neunzehn Jahre alt, Mitglied einer Arbeitskompanie der amerikanischen Besatzungsmacht in Wiesbaden. Als er im selben Jahr nach Rostock zurückkehrte, wurde er als angeblicher Spion verhaftet und aus politischen Gründen zu fünfundzwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt. Acht davon hat er im Zuchthaus von Bautzen abgesessen. 1956 amnestiert, ging er in die Bundesrepublik, holte das Abitur nach und studierte in Göttingen. Seit dem Examen war er bis in die späten siebziger Jahre als Landschullehrer tätig, förderte sein umfangreiches Werk, veranstaltete Literaturseminare in seinem Haus in Nartum, übernahm einen Lehrauftrag an der Universität Oldenburg und Gastdozenturen an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland.

All das hat nicht verhindern können, dass Walter Kempowski im Literaturbetrieb der Bundesrepublik lange Zeit ein Außenseiter war. Obwohl von einem russischen Militärgericht bereits 1959 rehabilitiert, ist er als politischer Häftling im Westen nie anerkannt worden - Kempowski nannte es "die größte Enttäuschung meines Lebens". Seit dem Tag seiner Haftentlassung 1956 - damals siebenundzwanzig Jahre alt - hat er kontinuierlich geschrieben. Alle diese Texte - Briefe, Tagebücher, Skizzen, Romanentwürfe, abgeschlossene Romane - blieben unveröffentlicht: Fingerübungen und Vorstudien zum späteren Werk, dessen eigenwillige Methode und spezifischen Stil sich der Autor erst erarbeiten musste.

Kempowski, obwohl bei einem breiteren Publikum bekannt und populär, war alles andere als ein naiver Autor. Er entwickelte seine pointillistische Technik, die aus kleinen Textblöcken, Situationsskizzen, Gesprächssequenzen usw., ganze Kapitel aufbaut und aus solchen Kapiteln einen ganzen Roman. So zeichnete er in 'Tadellöser & Wolff' ein Bild des bürgerlichen Alltags unter dem Nationalsozialismus, zur Verwunderung der Kritiker. Sie reagierten, wie Manfred Dierks schrieb, "auf das präzise erinnerte lebenspraktische Detail; auf die Rituale und die Eigensprache der Familie Kempowski; auf die Art, wie diese Außenwelt, wo sie denn (als Bombenangriff oder GESTAPO-Haft) eindringt zwischen dem 'Wie isses nun bloß möglich?' der Mutter und 'Klare Sache und damit hopp!' des Vaters bewältigt wird. So genau hatte das noch niemand beschrieben. Jenseits ästhetischer Fragen hatte 'Tadellöser & Wolff' den Erfolg einer akribischen Fallstudie von hohem Verallgemeinerungswert."

Hier muss auch noch einmal das Loblied auf das 'Echolot' angestimmt werden, dieses große, kühne und für einen einzelnen Autor übermenschliche Unternehmen. Was hat man nicht alles gesagt und geschrieben über die Heroen des modernen Romans: Joyce, Proust, Dos Passos, Thomas Mann. Die Stichworte lauten: Bewusstseinsstrom, Innerer Monolog, Delirium der Erinnerung, Montage. Alles richtig. Immer ging es darum, eine Totalität an Welt und Zeit abzubilden. Die verlorene Zeit. Die wiedergefundene Zeit. Das Universum der Großstadt. Den Welt-Alltag der Epoche. Kempowski hat aus all dem die Konsequenz, seine Konsequenz gezogen: das 'Echolot' als kollektives Tagebuch. Dafür musste der Autor sich in einen Sammler und Archivar verwandeln, ohne seine Autorschaft aufzugeben. Zum Beispiel ein einzelner Tag, gespiegelt in Hunderten von Notizen und Splittern und wechselnden Perspektiven. "'Doubletten' gibt es eigentlich kaum", notierte Kempowski in seinem Tagebuch. "Auch wenn über die gleichen Tatbestände berichtet wird, immer gibt es Facetten, die interessant sind. Plastisch wird's dadurch. Zum ersten Mal wurde mir klar, dass ich etwas Ungeheuerliches in die Welt setze."

Ein weiteres Kennzeichen von Kempowskis Schreibweise war seine Wertungsabstinenz bei der Beschreibung des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte, der Verzicht auf Lehre und Moral. Die Haltung wurde dem Autor nicht selten zum Vorwurf gemacht: Er verharmlose die geschichtlichen Schrecken der Zeit. Das Gegenteil ist richtig: Gerade der Verzicht auf "Wertung" ist ein Vorzug der Familienchronik.

Am 5. Oktober ist Walter Kempowski im Alter von 78 Jahren gestorben. In seinem letzten Lebensjahrzehnt galt er unumstritten als einer der großen Gegenwartsautoren deutscher Sprache. In 'Alkor', seinem Tagebuch der deutschen Wendezeit 1989, schrieb er: "Mit den Jahren bin ich einsichtiger geworden, ja milder. Das wird aber nicht dazu führen, dass ich mich bei ihnen für Bautzen bedanke. Aber, mal ehrlich, was wäre aus mir ohne diese grobe Zurechtweisung geworden? Dass man mich ganz klein machte, ermöglichte es mir zu wachsen."


*


Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2007, S. 59-61
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 93 58-19, -20, -21
Telefax: 030/26 93 58-55
Internet: www.ng-fh.de

Das NF/FH erscheint monatlich.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2007