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AUTOREN/043: Auf der Suche nach dem aufgeklärten Märchen - Günter Grass wird 85 Jahre alt (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2012

Auf der Suche nach dem aufgeklärten Märchen
Günter Grass wird 85 Jahre alt

Von Hanjo Kesting



Spricht man von deutscher Literatur, fällt unweigerlich sein Name. Seine schöpferische Rolle als Prosaautor ist völlig unbestritten, auch wenn manche Kritiker sie nur für das Frühwerk gelten lassen wollen. Warum er der Weltliteratur angehört, hat Salman Rushdie beschrieben: "Es gibt Bücher, die ihren Lesern Tore öffnen (...) die ihnen sozusagen die Genehmigung zum Reisen erteilen, die Genehmigung, jene Art von Schriftsteller zu werden, die in ihnen verborgen liegt. Ein Buch ist eine Art Reisepaß, und zu den Pässen, den Werken, die mir die benötigten Genehmigungen erteilten, gehört "Die Blechtrommel."


Wie kein anderes seiner Bücher ist die Blechtrommel mit dem Namen von Günter Grass verbunden, sie war der Prosaerstling, als Debütwerk so berühmt wie früher Goethes Werther und Thomas Manns Buddenbrooks. Aber es ist gewaltsam und etwas engstirnig, den Autor eines großen und umfangreichen Werkes auf ein einzelnes Buch festzulegen, vor allem wenn dessen Erscheinen länger als ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Als Thomas Mann 1929 den Literaturnobelpreis erhielt, begründete die Schwedische Akademie ihre Entscheidung mit den fast 30 Jahre alten Buddenbrooks, während sie den fünf Jahre zuvor erschienenen Zauberberg stillschweigend überging. Bei Günter Grass wiederholte sie diesen Fehler nicht, die späteren Bücher wurden bei der Preisverleihung ausdrücklich miteinbezogen. Es ist unnötig zu betonen, dass damit nicht der Rang der Blechtrommel relativiert werden sollte.

Sie ist ja nicht nur das berühmteste Buch von Grass, sondern unserer gesamten Nachkriegsliteratur. Ihre einzigartige Bedeutung liegt in der unwiederholbaren historischen Konstellation: Was nach 1945 als Trümmerliteratur begonnen hatte, war hier kraftvoll zum Höhepunkt und Abschluss gebracht. Worauf beruhte die Stärke und "Gefährlichkeit" dieses Schriftstellers? fragte Enzensberger nach Erscheinen der Blechtrommel. Und er gab die Antwort: "Es ist in Grass eine Phantasie am Werk, die vor nichts haltmacht, die an das Dunkelste rührt und immer wieder, fast zwanghaft, in eine Sphäre des infantilen Aufruhrs zurückkehrt.

Vielleicht bietet dieser Satz einen Schlüssel nicht nur für Grass' Erstlingswerk, sondern für diesen Autor insgesamt und speziell für den Roman Der Butt. Denn war es nicht ein aufrührerisches Unternehmen, den gesamten, sich über Jahrtausende hinweg vollziehenden Zivilisationsprozess der Menschheit in romanhafter Gestalt, das heißt in immer neuen Erzählanläufen und Fiktionswellen noch einmal aufzurollen, um der Frage nachzugehen, warum dieser Prozess immer tiefer und unausweichlicher in globale Katastrophen - Weltkriege, Völkermorde, Massenvernichtungswaffen - gemündet ist? Von der Dialektik der Aufklärung hatten Horkheimer und Adorno nach dem Zweiten Weltkrieg in einem berühmten Buch gesprochen, und dieser Titel ließ sich auch viel direkter in die Formel übersetzen: "Das Elend der Aufklärung". Wann fing dieses Elend an?


Die Grass'sche Menagerie

Es ist das eigentliche Thema des Romans Der Butt. Er enthält eine Geschichte des Fortschritts, der Aufklärung, der schrankenlosen Emanzipation im Zeichen männlichen Geistes und patriarchalischer Macht, wobei der Butt als Anstifter und dialektischer Wortführer zu agieren scheint. Wer oder was ist der Butt? Ein Fabelwesen? Eine Allegorie? Ein Symbol? Und wenn ja, ein Symbol wofür?

Da muss man sich zunächst erinnern, dass Tiere im Erzählkosmos von Günter Grass schon immer eine große, ausschlaggebende Rolle gespielt haben. Dieser Autor springt in seinen Büchern durch Mythen, Legenden, Geschichte und Geografie mittels des uralten Kunstgriffs, das menschliche Treiben aus der Perspektive einer anderen Spezies, aus der Sicht von Tieren, zu betrachten. Da sind Katz und Maus der frühen Danziger Novelle, Unke und Schnecke, Butt und Rättin, Mehlwürmer und Windhühner. In ihrer Summe bilden die Grass'schen Tiere eine erstaunliche Menagerie, die sich mit der Fauna berühmter Fabeldichter wie Äsop oder La Fontaine durchaus messen kann.

Fabeln sind Gleichnisse, sie enthalten verborgene Bedeutungen, die meist leicht zu entschlüsseln sind. Die Tiere repräsentieren bestimmte Eigenschaften, die man auf das menschliche Leben übertragen kann: Mut, Feigheit, List, Klugheit, Weltkenntnis usw.. Und so geben die Tierfabeln ein Abbild der menschlichen Gesellschaft. So ist zum Beispiel Goethes Reineke Fuchs eine Parabel auf die Französische Revolution, auch wenn es verwundert, das historische Geschehen durch Analogien aus dem Tierreich gedeutet zu sehen - es belegt Goethes unhistorisches, naturwüchsiges Verständnis von Geschichte.

Wie steht es in dieser Hinsicht mit Günter Grass? Denn er gilt als politischer Schriftsteller und hat unsere Vorstellung vom politischen Autor wie kein anderer geprägt. Von früh auf, seit der Blechtrommel-Zeit, hat er sich engagiert, ist für Willy Brandt in den Wahlkampf gezogen, hat für die Espede (So die Schreibweise der von Grass und anderen Intellektuellen 1969/72 getragenen Wählerinitiative.) getrommelt - und sich mit ihr manchmal angelegt -, hat sich bei vielen Gelegenheiten eingemischt und dabei keine Möglichkeit ausgelassen, sich unbeliebt zu machen, bis hin zu den poetischen Zwischenrufen der letzten Zeit. Er hat, mit einem Wort, den Elfenbeinturm des Künstlers verlassen und stattdessen das Bürgerrecht und die Bürgerpflicht des Künstlers proklamiert, zunächst mit mitreißendem Erfolg, inzwischen als einsamer Rufer in der Wüste.

Seine Kritiker - und deren gibt es viele - halten das für Rechthaberei, Unduldsamkeit, sogar lehrhafte Anmaßung. Mir war es nie zweifelhaft, dass es sich dabei um eine lebenslange Bußübung handelt für frühe Fehler, Irrtümer, Versäumnisse, für schuldhafte Verstrickungen und jugendlichen Wahn. Aber in einem tieferen, künstlerischen Sinn entzieht sich Grass der politischen Zuordnung. Die erwähnten Verwandlungen und Metamorphosen ins Tierreich, die sich in seinen Büchern vollziehen, sind Ausdruck einer Weltsicht, die das rein Politische, Gesellschaftliche, Historische ebenso umgreift wie überschreitet. Deswegen stehen seine Bücher oft der Tierfabel nahe, nähert sich seine Erzählweise zuweilen dem Märchen. Man könnte von aufgeklärten Märchen sprechen, wenn man sicher sein könnte, dass Märchen sich aufklären lassen.


Vom "Elend der Aufklärung"

In einem Vortrag von 1984, der den Titel trug "Der Traum der Vernunft", hat Grass gesagt, das "Elend der Aufklärung ... könne nur mit hauseigenen Mitteln behoben werden". Eben dies hatte er einige Jahre zuvor in seinem Roman Der Butt versucht: Das Elend der Aufklärung mit hauseigenen Mitteln zu beheben. Dabei ging er nicht eigentlich vernunftgläubig, sondern zutiefst vernunftskeptisch zu Werk, er stritt wider den Schillerschen Idealismus, die Geschichte als Reich der Aufklärung zu begreifen, wider den Versuch, sie gut hegelianisch als Fortschritt zur Freiheit zu verstehen, konsequenterweise stritt er auch gegen utopische Endzeiterwartungen und Träume vom irdischen Paradies à la Karl Marx. Dass der "alte Adam" in der Geschichte immer mitkommt, selbst in unserer von Fortschritt und Aufklärung bestimmten Geschichte, von dieser skeptischen Einsicht kann Grass nicht lassen, sie bestimmt sein Erzählen von Anfang bis Ende, und sein sprechender Fisch, der die Entwicklung der Zivilisation im Zeichen des Patriarchats befördert und ihr geschichtlichen Sinn zu geben versucht, er ist zugleich ein Reflexions- und Zweifelwesen, das der anthropologischen Skepsis des Autors Wort und Stimme gibt.

Immer wieder in seinem Werk ist Grass in die Barockzeit zurückgekehrt, die in Deutschland so verhängnisvoll vom Dreißigjährigen Krieg bestimmt war. Zwei Jahre nach dem Butt erschien die Erzählung Das Treffen in Telgte, das von einem barocken Dichtertreffen am Ende des Krieges handelt (gespiegelt in einem Treffen der Gruppe 47 nach Ende des Zweiten Weltkriegs), ein Buch von ganz anderem Charakter, gleichsam "im zweiten Gang" geschrieben, wie Salman Rushdie gesagt hat, aber doch wie ein großer Ast auf dem Stamm des sprachmächtigen Butt gewachsen. Der Butt mit seinem Parforceritt durch die Geschichte ist geradezu ein Fest der Sprache, und sucht man Vorbilder für solche Sprachmacht, dann drängen sich Namen wie Rabelais und Laurence Sterne auf oder, in der deutschen Literatur, Grimmelshausen - wieder ein Autor der Barockzeit.

Unter den Autoren des 20. Jahrhunderts hat Günter Grass selber mit Nachdruck den Namen Alfred Döblin genannt und ihn unumwunden als seinen "Lehrer" bezeichnet: "Ich komme von jenem Döblin her, der, bevor er von Kierkegaard herkam, von Charles de Coster hergekommen war und, als er den 'Wallenstein' schrieb, sich zu dieser Herkunft bekannte." Mit Wallenstein wird eine Gestalt des Dreißigjährigen Krieges beschworen, der Döblin einen großangelegten Roman gewidmet hat. Und außer Döblin wären noch Schillers Wallenstein-Trilogie und Brechts theatralischer Gegenentwurf zu Schiller namens Mutter Courage und ihre Kinder zu nennen, letztere im Untertitel bezeichnet als "Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg". "Der Dreißigjährige Krieg", schrieb Grass, "war und ist wohl immer noch Quelle wie Stimulans deutschsprachiger Literatur". Bereits diese Andeutungen dürften genügen, um sichtbar zu machen, wie tief das Werk von Grass in der deutschen Geschichte verankert ist und sich fortwährend aus ihr speist.


Nationaler Autor? Dichterfürst?

Man schmäht diesen Schriftsteller zuweilen als angemaßten Praeceptor Germaniae und Chefmoralisten der Nation, aber damit wird nur das Missverhältnis fortgeschrieben, in dem sich die Nation meist zu ihren repräsentativen, ihren "nationalen Dichtern" befunden hat: von Goethe, dem "Franzosenfreund", über Heinrich Heine, den es in Deutschland nicht hielt, bis zu Thomas Mann und Bertolt Brecht, die ins Exil getrieben wurden, oder zuletzt dem rheinischen Störenfried Heinrich Böll. "Aber er hat doch die deutsche Einheit kritisiert!" höre ich rufen. Das trifft zu, aber er war der Dichter der Einheit, längst bevor sie geschichtlich real war, etwa in der Erzählung Das Treffen in Telgte, deren Absicht ja keine andere war, als in der Literatur, im einigenden Band der Sprache, die fehlende nationale Einheit - sei es 1647, sei es 1947 - zu beschwören: die unverlierbare Einheit der Kulturnation. Und wird damit nicht ein Leitmotiv der deutschen Geschichte angeschlagen, sowohl für die Dichter der Klassik wie auch für die Dichter der Romantik gültig? Diese trugen Märchen und Volkslieder zusammen und sammelten, wie die Brüder Grimm, den Reichtum deutscher Sprache in einem Wörterbuch. Günter Grass hat den Grimms sein vorletztes Buch gewidmet: Grimms Wörter. Und wie in die Barockzeit ist er auch immer wieder in den Zauberbrunnen der Romantik hinabgestiegen.

So ist er in die Rolle eines "nationalen Autors", soviel Vorbehalte bereits dieser Begriff hervorrufen muss, wie von selbst hineingewachsen. Dabei ist es keine Rolle, die einer wählen, schon gar nicht sich anmaßen kann. Man sehe nur Stefan George in seinem Ornat - ein Dichterfürst vielleicht, aber weit davon entfernt, für die Nation zu sprechen. Und diese ist noch weiter davon entfernt, sich in ihm wiederzuerkennen - so wie die englische Nation sich in Dickens, die französische sich in Victor Hugo, die im Werden begriffene italienische Nation sich in Manzoni, die russische sich in Puschkin wiedererkannte. Diese Autoren, schrieb Fontane, sind wie große Ströme, "auf denen die Nationen fahren und hineinsehn in die Tiefe...". Zu diesem Schlag von Autoren gehört auch Günter Grass: Die Rolle fiel ihm zu, wenngleich sie bei uns nur mit aller Gebrochenheit des nationalen Selbstgefühls gespielt werden kann.


Hanjo Kesting (* 1943) ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein: Grundschriften der europäischen Kultur. Erfahren, woher wir kommen.


LITERATUR ZUM THEMA:

  • Günter Grass: Eintagsfliegen. Steidl, Göttingen 2012, 28 Euro
  • Volker Neuhaus: Günter Grass: Schriftsteller - Künstler - Zeitgenosse. Eine Biographie. Steidl, Göttingen 2012, 19,80 Euro

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2012, S. 61-64
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2012