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AUTOREN/064: Nicht nur der Dichter des sanften Gesetzes - Vor 150 Jahren starb Adalbert Stifter (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2018

Nicht nur der Dichter des sanften Gesetzes
Vor 150 Jahren starb Adalbert Stifter

von Hanjo Kesting


"Wißt ihr, warum euch die Käfer, die Butterblumen so glücken? / Weil ihr die Menschen nicht kennt, weil ihr die Sterne nicht seht! / Schautet ihr tief in die Herzen, wie könntet ihr schwärmen für Käfer?" Dieses satirische Epigramm dichtete Friedrich Hebbel 1849, und es war auf Adalbert Stifter gemünzt, Österreichs bedeutendsten Erzähler des 19. Jahrhunderts. Er galt lange als Meister liebevoller Naturschilderung, das deutsche Biedermeier schätzte gerade diesen Zug, und so lebte Stifter weiter im Bewusstsein der Nachwelt. Peter Rosegger, der österreichische Heimatdichter, hatte diesen Stifter vor Augen, als er schrieb: "Stifter söhnt seine Leser aus mit der Welt, haben sie sich grollend von ihr gewendet; er legt den milden Sonnenschein auf die Menschen und über die Natur (...) Man labt sich an seiner Milde und Ruhe und Liebe und wird im Lesen ein anderer Mensch (...) In der Eigentümlichkeit der Naturschilderung steht Stifter einzig da." Dass es auch eine andere, dunklere Seite an Stifter geben könnte, ist erst viel später erkannt und ausgesprochen worden.

Adalbert Stifter (in seiner Geburtsurkunde stand noch der Name Albert) wurde 1805 als Kind einer Handwerkerfamilie geboren. Sein Leben spielte sich im Wesentlichen in der Landschaft ab, die durch die Eckpunkte Wien, Prag, Passau und Linz begrenzt wird; es ist auch die Landschaft seines Werkes. Nur einmal in seinem Leben ist Stifter in den Süden, bis nach Triest, gekommen. Er selbst und sein Werk waren zutiefst österreichisch geprägt. Die politischen und sozialen Strömungen, die einsetzende Verstädterung und die Anzeichen der industriellen Revolution drangen nur ganz von fern in sein Werk ein. Trotzdem gab es auch den Zeitkritiker Stifter, der im Zusammenhang mit der Revolution von 1848 einen Roman über Maximilien Robespierre plante, und es gab vor allem den naturwissenschaftlich geschulten Beobachter. Naturbegriff und Landschaftsdarstellung in seinem Werk sind äußerst komplex und reichen von romantischen Mustern bis zur nihilistischen Entzauberung.

Die biografischen Spuren sind im Werk nicht leicht aufzufinden, etwa die unglückliche Liebe zu Fanny Greipl in Stifters Studienzeit, die zum vorzeitigen Abbruch des Studiums führte. Zuvor hatte Stifter das traditionsreiche Gymnasium des Stifts Kremsmünster glänzend durchlaufen, sich dabei vor allem der antiken Literatur, der Malerei und Naturkunde gewidmet. Später hielt er sich als Hauslehrer über Wasser und unterrichtete in dieser Funktion den Sohn von Klemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich. Er war 39 Jahre alt und seit sieben Jahren mit der Modistin Amalie Mohaupt verheiratet, als er den ersten Band seiner Studien, einer Sammlung von Erzählungen, veröffentlichte. Dieses Werk wurde sein größter Bucherfolg zu Lebzeiten, den er auch mit den Romanen Der Nachsommer und Witiko nicht mehr übertreffen konnte. Der Prager Verleger Gustav Heckenast betreute seit den frühen 1840er Jahren das Werk Stifters, der nun auch in den Wiener Salons verkehrte, wo er die Anerkennung Franz Grillparzers fand und die Geringschätzung Hebbels auf sich zog, der ihn, wie eingangs zitiert, als "Maler der Käfer und Butterblumen" verspottete.

Stifters Doppelnatur

Auf solchen Spott hat Stifter in der Vorrede zu seiner Erzählungssammlung Bunte Steine ohne alle Polemik geantwortet: "Es ist einmal gegen mich bemerkt werden, daß ich nur das Kleine bilde, und daß meine Menschen stets gewöhnliche Menschen sind", heißt es da. "Großes oder Kleines zu bilden hatte ich bei meinen Schriften überhaupt nie im Sinne, ich wurde von ganz anderen Gesetzen geleitet." Stifter fährt dann fort: "Weil wir aber schon einmal von dem Großen und Kleinen reden, so will ich meine Ansichten darlegen, die wahrscheinlich von denen vieler anderer Menschen abweichen. Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind. (...) Die Kraft, welche die Milch im Töpfchen der armen Frau emporschwellen und übergehen macht, ist es auch, die die Lava in dem feuerspeienden Berge emportreibt. (...) So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes. (...) Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird."

"Das sanfte Gesetz" ist zur Formel für Stifters Dichtertum geworden. Und doch lässt sich nicht übersehen, dass sich unterhalb der Wirksamkeit dieses Gesetzes in seinem Werk auch starke und einseitige Kräfte immer wieder regen, nicht zuletzt die Triebnatur, der Stifter selbst stark unterworfen war und deren Elementarkraft in seinen Büchern keineswegs domestiziert ist. Walter Benjamin hat geradezu von Stifters "Doppelnatur", seinen "zwei Gesichtern" gesprochen und angemerkt, dass eine "Rebellion und Verfinsterung der Natur" bei diesem Autor geradezu ins Grauenvolle, Dämonische umschlage und vor allem in seine Frauengestalten Einzug halte, unter dem "unschuldigen Aussehen der Einfachheit".

Auf diese Doppelnatur hätten bereits die lange verheimlichten Umstände von Stifters Tod hinweisen können, der sich im Januar 1868 nach langer Krankheit mit einem Rasiermesser die Kehle durchschnitt, wahrscheinlich in einem depressiven Anfall. Thomas Mann hat in Die Entstehung des Doktor Faustus darauf hingewiesen: "Man hat oft den Gegensatz hervorgekehrt zwischen Stifters blutig selbstmörderischem Ende und der edlen Sanftmut seines Dichtertums. Seltener ist beobachtet werden, daß hinter der stillen, innigen Genauigkeit gerade seiner Naturbetrachtung eine Neigung zum Exzessiven, Elementar-Katastrophalen, Pathologischen wirksam ist, wie sie etwa in der unvergeßlichen Schilderung des gewaltigen Dauer-Schneefalls im Bayerischen Wald, in der berühmten Dürre im 'Haidedorf' zum Ausdruck kommt." Thomas Mann fasste seine Eindrücke in dem Urteil zusammen: "Stifter ist einer der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur, kritisch viel zu wenig ergründet."

Das verborgene Liebesband der Natur

Man kann dieses Urteil an Stifters Erzählung Adias nachprüfen, die 1844 im ersten Band der Studien veröffentlicht wurde. Der Jude Abdias erscheint darin wie ein neuer Hiob, den ein Schicksalsschlag nach dem anderen trifft. "Es gibt Menschen, auf welche eine solche Reihe Ungemach aus heiterm Himmel fällt", heißt es über ihn, "dass sie endlich da stehen und das hagelnde Gewitter über sich ergehen lassen: so wie es auch andere gibt, die das Glück mit solchem ausgesuchten Eigensinne heimsucht, dass es scheint, als kehrten sich in einem gegebenen Falle die Naturgesetze um, damit es nur zu ihrem Heile ausschlage. Auf diesem Wege sind die Alten zu dem Begriffe des Fatums gekommen, wir zu dem milderen des Schicksals." So beginnt Stifters Erzählung, eine Studie über "Fatum" und "Schicksal", und wie sie miteinander verwoben sind, über die Gleichgültigkeit der Natur, die heute Segen spendet und morgen das Entsetzliche vollbringt. Stifter stellt gleich zu Anfang die Frage, ob in der Kette von Ursache und Wirkung ein verborgener Sinn liegt, auch wenn er ihn unergründet lässt: "Wir wollen nicht weiter grübeln, wie es sei in diesen Dingen, sondern schlechthin von einem Manne erzählen, an dem sich manches davon darstellte, und von dem ungewiss ist, ob sein Schicksal ein seltsameres Dinge sei, oder sein Herz. Auf jeden Fall wird man durch Lebenswege wie der seine zur Frage angeregt: 'warum nun dieses?' und man wird in ein düsteres Grübeln hineingelockt über Vorsicht, Schicksal und letzten Grund aller Dinge." Alte Motive, allen voran aus dem Buch Hiob des Alten Testamentes und aus Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise, fließen in die Erzählung ein. Manches erscheint dann wiederum aus Joseph Roths Roman Hiob vorweggenommen zu sein.

Abdias hat viele Jahre in einer alten verlassenen Römerstadt im Atlasgebirge, der afrikanischen Wüste zugebracht, der kargen Zufluchtsstätte für einige Juden. Er treibt Handel und erwirbt Reichtümer, die Räuber auf seine Spur locken. Eines Tages findet er sein Haus verwüstet. Doch in derselben Nacht des Überfalls hat Abdias' Frau Deborah ein Kind zur Welt gebracht. Die Mutter stirbt nach der Geburt, die Tochter Ditha wird für den Vater Inhalt und Ziel seines Lebens. Er rafft seine ihm verbliebenen Reichtümer zusammen und bricht nach Europa auf, im Herzen Rachepläne gegen den Türken Melek, dessen Söldner seine Wüstenwohnstatt zerstörten. In einem einsamen Tal in Österreich lässt er sich nieder, sein Haus ist gut gesichert, der Garten von einer starken Mauer umgeben. Hier lebt Abdias mit Ditha und "Dienern und Dienerinnen von dem Volke seines Glaubens". Die Tochter wächst heran, aber sie ist nicht, wie sie sein sollte. Zunächst glaubt Abdias, dass sie blödsinnig sei und entdeckt dann eher zufällig, dass sie blind ist. Zudem fällt ihm noch Folgendes auf: "Einmal, in der Dämmerung einer sehr gewitterschwülen Nacht, da sie eben an dem offenen Fenster stand und den entfernten Blitzen zusah, bemerkte Abdias, der hinter ihr in einem Stuhle saß, dass ein leichter, schwacher, blasser Lichtschein um ihr Haupt zu schweben beginne, und dass die Enden der Seidenbändchen, womit ihr Haar gebunden war, sich sträubten und gerade empor ständen." Es gibt eine Verbindung zwischen dem Mädchen und den Kräften der Natur. Eines Nachts, während eines Gewitters, gewinnt Ditha ihr Augenlicht zurück, einige Jahre später wird sie wie in einer Umkehrung dieses Vorgangs durch einen Blitzschlag getötet - "eine Begebenheit, die so lange wundervoll bleiben wird, bis man nicht jene großen verbreiteten Kräfte der Natur wird ergründet haben, in denen unser Leben schwimmt und bis man nicht das Liebesband zwischen diesen Kräften und unserm Leben wird freundlich binden und lösen können". Das ganze Werk von Stifter kreist um solche Rätselfragen, wie sie durch Phänomene wie Hagelschlag und Feuersbrunst, Steppendürre und Dauerschneefall aufgeworfen werden, durch die Rebellion und Verfinsterung der Natur.


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein: Bis der reitende Bote des Königs erscheint. Über Oper und Literatur.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2018, S. 84 - 87
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2018

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